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DIE ZEIT
28/2003
USA
Die verschenkten Kronjuwelen
Das weltbekannte Massachusetts Institute of Technology bietet seine Vorlesungen und Seminare im Internet an - kostenlos
Von Christoph Drösser
Abe Dane läuft mit einem Laptop unterm Arm über den Campus des Massachusetts Institute of Technology (MIT) im amerikanischen Cambridge. Nicht mit einem der schicken neuen Notebooks, mit denen hier allenthalben die Studenten auf Bänken und Wiesen sitzen und drahtlos im Internet surfen, sondern mit einem recht betagten Modell, das ihm ein Professor in die Hand gedrückt hat. Darauf befinden sich die Unterlagen zu einer Vorlesung, die der Hochschullehrer vor ein paar Semestern gehalten hat - er selbst hat keine Zeit, die Daten herunterzukopieren, deshalb hat er Dane gleich den ganzen Computer überantwortet, und der muss jetzt die Seminarunterlagen mühselig von der Festplatte klauben.
Abe Danes offizielle Jobbezeichnung lautet faculty liaison - ein Verbindungsmann also. Er soll die Mitglieder des Lehrkörpers dazu bewegen, ihr größtes Kapital freiwillig und umsonst herauszurücken: die Unterlagen zu den Vorlesungen und Seminaren, die sie an der angesehenen Universität halten. Bis September müssen die Verbindungsleute das Material von 500 Kursen eingesammelt und editiert haben, wenn sie ihren selbst gesteckten Plan einhalten wollen. In einem für viele überraschenden Schritt hat sich das MIT nämlich vor zwei Jahren entschlossen, die Inhalte seiner Lehrveranstaltungen der ganzen Welt kostenlos im Internet zur Verfügung zu stellen. Open Courseware (OCW) nennt sich das Projekt.
Wie bitte? Die Studieninhalte einer der angesehensten Universitäten der Welt - kostenlos im Netz? „Zum MIT gehen“, das ist in der amerikanischen Umgangssprache gleichbedeutend mit: ein nerd sein, ein technisch-mathematischer Überflieger. Und die Seminare der Elite-Uni, die immerhin jährlich 28000 Dollar an Gebühren kosten, sollen nun für jedermann abrufbar sein? Sind sie nicht die Essenz einer MIT-Ausbildung, die Kronjuwelen des Instituts?
Um diesen Akt intellektueller Philanthropie zu verstehen, muss man die Geschichte des Projekts kennen. Denn ursprünglich wollte das MIT durchaus mit Online-Kursen Geld verdienen. Man gründete vor drei Jahren eine Kommission, ließ sich von der bekannten Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton ein Gutachten erstellen - aber wie man es auch drehte und wendete, das Ergebnis war dasselbe: Mit Online-Kursen kann eine Universität wie das MIT kein Geschäft machen. Unter anderem kam man zu dem Schluss, dass MIT-Professoren zwar gut darin seien, die hoch qualifizierten Studenten ihrer Universität zu unterrichten, aber nicht unbedingt gut in der „Popularisierung“ der Inhalte für ein breiteres Publikum. „Ehrlich gesagt, waren die Leute damals ziemlich frustriert“, gesteht Anne Margulies, die heute das OCW-Projekt leitet. Dann kam der Vorschlag: Warum machen wir keine soziale Aktion daraus und stellen die Sachen kostenlos ins Netz?
Weitergabe erwünscht
Eine ziemlich verrückte Idee für eine Privatuni, die ja auch ein Wirtschaftsunternehmen ist. Aber MIT-Präsident Charles Vest freundete sich damit an und machte sie zur Chefsache - trotz aller Bedenken, die es natürlich gab: Sind die Inhalte nicht die Substanz dessen, was den Ruf des MIT ausmacht? Werten wir damit nicht unsere Abschlüsse ab? Letztlich setzte sich das Argument durch, dass kein Selbststudium die persönliche Anwesenheit an der Traditionsuniversität ersetzen kann. OCW sei „ein Fenster zu einem MIT-Studium“, wie Anne Margulies sagt, aber eben nicht das MIT-Studium selbst. Das besteht immer noch aus der einzigartigen Interaktion zwischen Professoren und Studenten. Die Skeptiker ließen sich überzeugen, im September 2002 gingen die ersten 38 Kurse ans Netz.
Man hätte es natürlich dabei bewenden lassen können, das Professorenkollegium zu ermuntern, die Inhalte auf eigene Faust ins Netz zu stellen. Aber am MIT wird geklotzt, nicht gekleckert, und so wurde aus OCW ein Großprojekt: Mit Margulies stellte man eine Managerin ein, die in Harvard und in der Privatwirtschaft EDV-Projekte gestemmt hatte. Das neue Unternehmen wurde mit einem üppigen Etat ausgestattet: Elf Millionen Dollar für die nächsten Jahre kommen von zwei großen Stiftungen, eine weitere Million schießt das MIT selbst jedes Jahr zu.
Siebzehn fest angestellte Mitarbeiter hat OCW heute. Die sollen, wenn alles nach Plan läuft, bis zum September 2007 insgesamt 2000 Vorlesungen und Seminare ins Internet stellen - das ist dann der größte Teil des MIT-Curriculums, dessen Gesamtumfang niemand exakt beziffern kann.
Das Dilemma der Datensammler: Sie haben ein Plansoll, aber sie haben keine Druckmittel, um den Professoren ihre Schätze zu entlocken. Denn die wirken auf freiwilliger Basis mit. Deshalb nehmen die OCW-Verbindungsleute eben auch alte Laptops in Kommission, arbeiten sich durch Kartons mit unsortierten Papieren oder tippen Vorlesungsmitschriften ab. „Unser Credo ist es, von den Dozenten so wenig wie möglich zu verlangen“, beschreibt Abe Dane seine delikate Aufgabe. Und so sind die Materialien von durchaus unterschiedlicher Güte. Auf jeden Fall, und das versucht man auch den Professoren immer wieder klarzumachen, handelt es sich um Rohmaterial, mit dem sie anderweitig kein Geld verdienen könnten. Es entgeht ihnen also kein Geschäft - und wenn sie wollen, steht es ihnen jederzeit frei, die Skripten zu einem Lehrbuch weiterzuverarbeiten. Das Copyright bleibt stets beim Autor.
Wer die OCW-Website besucht, begegnet auf Schritt und Tritt dem Hinweis, dass es sich bei dem Angebot nicht um das einer Fernuniversität handelt. Niemand muss sich registrieren, aber es kann auch niemand eine Prüfung ablegen. Die E-Mail-Adresse der Professoren ist nicht angegeben. Man kann eine E-Mail an das Open-Courseware-Projekt schicken, die dann weitergeleitet wird, darf aber nicht mit einer individuellen Antwort rechnen. Trotz der deutlichen Hinweise - immer wieder wollen sich hoffnungsvolle „Studenten“ aus aller Welt für Kurse anmelden oder gar Prüfungen ablegen.
Die Online-Materialien kann jedermann lesen, ausdrucken, kopieren und sogar weiterverbreiten, solange er drei Bedingungen einhält: Niemand darf die Kurse kommerziell ausschlachten, der Hinweis auf die Urheberschaft des MIT und des einzelnen Professors darf nicht fehlen, und wer das Material mit eigenen Beiträgen ergänzt, muss auch diese kostenlos zur Verfügung stellen. Das erinnert an die Prinzipien der Open-Source-Bewegung in der Softwarebranche. Wenn andere Universitäten in aller Welt sich bei OCW bedienen und Seminare mit dem MIT-Siegel anbieten, so liegt das durchaus im Kalkül des Instituts, weil es dem Image dient. Mit harten juristischen Schritten müssten dagegen private Bildungseinrichtungen rechnen, die sich das Material herunterladen und dann mit der MIT-Marke für sich Werbung machen würden.
Neuland betreten die OCW-Leute auf dem Gebiet des Urheberrechts. Denn längst nicht alles, was in einer Universitätsvorlesung gelehrt wird, ist auf des Professors eigenem Mist gewachsen. Da werden Originalquellen oder Texte anderer Forscher zitiert, Bilder aus allen möglichen Quellen kopiert und an die Studenten verteilt. Innerhalb der Universitätsmauern ist das zulässig und unverzichtbar - aber sobald das Material auf dem Server liegt, kommt das einer Veröffentlichung gleich, und es gelten die Paragrafen des Urheberrechts. Das Problem wird noch dadurch verschärft, dass die Weitergabe des Materials ausdrücklich gestattet wird. Eine einzige Copyright-Verletzung könnte sich also schneeballartig im Internet verbreiten. Deshalb muss bei jedem Vorlesungsskript, das ins System eingestellt wird, die Urheberrechtslage akribisch geprüft werden, gegebenfalls muss man die Rechte für die Veröffentlichung fremder Bilder und Texte einkaufen.
„Das achte Weltwunder“
Obwohl das jetzige OCW-Web-Angebot nur eine dürftige Vorabversion ist, gibt es schon jetzt eine überwältigende Resonanz. Nutzer aus über 200 Ländern haben die Seite besucht. „OCW ist das achte Weltwunder!“, jubelte ein Leser aus Lettland. Vor allem Studenten aus der Dritten Welt, für die das Studium an einer amerikanischen Elite-Universität ewig ein Traum bleiben wird, können von dem Online-Material profitieren. Oder auch Menschen, die berufstätig sind und sich nebenbei weiterbilden wollen. So gibt es in Kansas City eine Studiengruppe von Programmierern, die sich regelmäßig trifft und einen OCW-Kurs über Softwaredesign durcharbeitet - allerdings haben die Feierabendstudenten mehr als ein Jahr für das Programm angesetzt, das die Überflieger-Studenten am MIT in einem Semester durcheilen.
Im Moment ist es der Job von Verbindungsleuten wie Abe Dane, möglichst viele Vorlesungsskripten in das Microsoft-Redaktionssystem hineinzuschaufeln, um noch bis zum 1. September das ehrgeizige Etappenziel zu erreichen. Danach geht es nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität. „Die zweite Hälfte meines Jobs“, sagt Abe Dane, „ist es, Wege zu finden, dieses Material besser nutzbar zu machen.“ OCW soll keine Sammlung einfacher Web-Seiten sein. Das Redaktionssystem erlaubt es, das wachsende Angebot mit so genannten Metadaten zu strukturieren, also mit Daten über den Inhalt der Daten, die eine Orientierung im Dickicht des Wissensdschungels ermöglichen sollen.
Ist der Verdacht begründet, das MIT wolle im Fall des Erfolges aus dem philanthropischen Unternehmen vielleicht doch noch eine Geldquelle machen? Das weist Anne Margulies heftig zurück: „Es wird immer kostenlos bleiben.“
<ul> ~ http://zeus.zeit.de/text/2003/28/C-Open_Courseware</ul>
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