-->SouverÀnitÀt und LegitimitÀt
Von Dr. Utz Schliesky
"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", heiĂt es im Grundgesetz fĂŒr die Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1949. Inzwischen klingt dieser Satz anachronistisch. Als Mitglied der EuropĂ€ischen Union kann die Bundesrepublik auf vielen Feldern nicht souverĂ€n handeln, die nationale Gesetzgebung ist oft nur noch der Nachvollzug von Europarecht. LegitimitĂ€t und SouverĂ€nitĂ€t, die Fundamente demokratischer Staatsgewalt, mĂŒssen neu begrĂŒndet werden. Trotz gemeinsamer WĂ€hrung und bevorstehender Ost-Erweiterung scheint der EuropĂ€ische Verfassungsvertrag allenfalls Eingeweihte zu interessieren. FĂŒr die meisten BĂŒrger gibt es offenbar Wichtigeres als die Zukunft der EuropĂ€ischen Union und ihrer Mitgliedstaaten: Die Sozialversicherungen mĂŒssen reformiert werden, die Neuverschuldung muĂ den"Maastricht-Kriterien" entsprechend begrenzt werden, die Wirtschaft endlich in Gang kommen. Dabei hat das Geschehen in Deutschland mit den VorgĂ€ngen in Europa mehr zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Im Kern geht es bei allen Reformen um die Neubestimmung unserer gemeinhin"Staat" genannten Herrschaftsordnung. Doch die GemeinschaftswĂ€hrung und die WĂ€hrungspolitik, die mit der EinfĂŒhrung des Euro auf die EuropĂ€ische Zentralbank ĂŒbergegangen sind, verdeutlichen, daĂ der Staat weiterhin als umfassender Problemlöser angesehen (und von der Politik auch so dargestellt) wird, die RealitĂ€t aber eine andere ist. Und der demokratische SouverĂ€n, der seine Gesetzgebungsaufgabe ernst nimmt, reibt sich verwundert die Augen, wenn er ĂŒber seine Legitimierungs- und Kontrollmöglichkeit in Europa nachdenkt. Es drĂ€ngt sich der Eindruck auf, daĂ die Probleme von heute mit Wirkung fĂŒr morgen gelöst werden sollen - das aber mit Vorstellungen von gestern geschieht.
Gerade in der Demokratie bedarf Herrschaftsgewalt der Rechtfertigung, der Legitimation. Schon in Antike und Mittelalter, noch stĂ€rker aber seit AufklĂ€rung, Individualisierung, der Auflösung religiöser GewiĂheiten muĂ Legitimation zugefĂŒhrt werden - die Herrschaftsgewalt besitzt ihre LegitimitĂ€t nicht kraft ihrer SouverĂ€nitĂ€t, sondern kann nur noch dauerhaft souverĂ€n sein, wenn sie legitim ist.
Nun sind SouverĂ€nitĂ€t und LegitimitĂ€t schillernde Begriffe, anfĂ€llig fĂŒr Ideologie und MiĂbrauch, immer dazu gedacht, eine bestimmte politische Ordnung zu erhalten und zu rechtfertigen. Ein kurzer Blick zurĂŒck in die Geschichte belegt das."LegitimitĂ€t" war das Schlagwort der Restauration im 19. Jahrhundert (Talleyrand; Metternich) und wurde - mit dem erbmonarchischen Gottesgnadentum ausgefĂŒllt - dem Prinzip der VolkssouverĂ€nitĂ€t gegenĂŒbergestellt. Die VolkssouverĂ€nitĂ€t bot aber langfristig den ĂŒberzeugenderen Gegenentwurf, weil sie einen gröĂeren LegitimitĂ€tsglauben beanspruchen kann als das monarchische Prinzip, das von seinen VorkĂ€mpfern je nach politischer OpportunitĂ€t selbst nicht beachtet wurde.
Ein monistisches Konzept.
Die Inhaltsleere des mit dem monarchischen Prinzip ausgefĂŒllten LegitimitĂ€tsbegriffes begĂŒnstigte den Siegeszug des staatsrechtlichen Positivismus, in dem es fĂŒr eine ĂŒberpositiv orientierte Rechtfertigungskategorie keinen Platz mehr gab. Er spricht dem in einem ordnungsgemĂ€Ăen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommenen Rechtsakt LegitimitĂ€t zu. Die ursprĂŒnglich einmal materiale LegitimitĂ€t, die sich an inhaltlichen Staatszwecken - zu Beginn Sicherheit, spĂ€ter Freiheit und heute unter anderem Wohlfahrt - orientieren muĂte, wandelte sich in eine formale LegalitĂ€t.
Das Fehlen einer inhaltlichen LegitimitĂ€tskategorie erleichterte der Weimarer Republik ihren revolutionĂ€ren Beginn, erwies sich aber am Ende als verhĂ€ngnisvoll. Dem Nationalsozialismus, der zunĂ€chst auf formale Wahrung der LegalitĂ€t bedacht war, konnte sie keine Werte entgegensetzen, die Folgebereitschaft begrĂŒndet hĂ€tten. Die Definition der SouverĂ€nitĂ€t von Carl Schmitt -"SouverĂ€n ist, wer den Ausnahmezustand beherrscht" - findet bis heute zahlreiche AnhĂ€nger. Und doch markiert sie den Höhepunkt eines wertentleerten, machtpolitischen SouverĂ€nitĂ€tsverstĂ€ndnisses, das nicht ohne Folgewirkung fĂŒr die LegitimitĂ€t blieb; sie ist wohl kaum ein angemessener Ausgangspunkt fĂŒr die friedliche NeugrĂŒndung einer Herrschaftsordnung wie der EuropĂ€ischen Union.
Trotz dieser Unklarheiten und Vieldeutigkeiten bilden LegitimitĂ€t und SouverĂ€nitĂ€t das Fundament demokratischer Staatsgewalt. So heiĂt es in der Staatsfundamentalnorm des Grundgesetzes, in Artikel 20 Absatz 2 Satz 1:"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." VolkssouverĂ€nitĂ€t und LegitimationsbedĂŒrftigkeit der Staatsgewalt sind daher verfassungsrechtlich verbindlich - zumindest in der Theorie. In der Wirklichkeit des Staatsrechts spielt das Volk als SouverĂ€n nur vordergrĂŒndig eine Rolle: AngeknĂŒpft wird vielmehr an eine Ă€ltere Theorie der StaatssouverĂ€nitĂ€t, die im 19. Jahrhundert dazu diente, das Dilemma der konkurrierenden Lehren von der FĂŒrstensouverĂ€nitĂ€t und der VolkssouverĂ€nitĂ€t nicht entscheiden zu mĂŒssen, aber auflösen zu können. Trotz der VolkssouverĂ€nitĂ€t weist man dem Staat als Subjekt die SouverĂ€nitĂ€t zu. Deren wesentliche Merkmale sollen das"Zuhöchstsein", die Einseitigkeit, die Einzigkeit und die Einheitlichkeit der Staatsgewalt sein. Diese Merkmale zeigen sich insbesondere in der Kernbefugnis der SouverĂ€nitĂ€t, der Befugnis zur Setzung und zur Durchsetzung von Recht.
Der eigentliche SouverĂ€n ist damit schon entmachtet: Demokratie wird nicht als allgemeine Herrschaftsform, sondern als Staatsform und damit als ausschlieĂlich im Staat zu verwirklichendes Konzept erachtet. Das Volk muĂ sich als einheitliches, homogenes Organ in diesen Zusammenhang einordnen, denn eine PluralitĂ€t der HerrschaftstrĂ€ger ist mit diesem"monistischen" Konzept der StaatssouverĂ€nitĂ€t nicht vereinbar.
Auf dieser Grundlage lassen sich viele Konzepte einer demokratischen Legitimation entwickeln. Das Bundesverfassungsgericht hingegen legt seiner Rechtsprechung in apodiktischer Festsetzung ein einziges, sein eigenes, maĂgeblich auf den frĂŒheren Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde zurĂŒckgehendes Legitimationskonzept zugrunde. Dieses verlangt ein"hinreichend effektives Legitimationsniveau", das von dem deutschen Staatsvolk als Legitimationssubjekt gespeist werden mĂŒsse und das durch die Formen der personellen, sachlich-inhaltlichen, institutionellen und funktionellen demokratischen Legitimation erreicht werden könne. GewĂ€hrleistet wird das erforderliche Legitimationsniveau dann aber letztlich nur durch eine"ununterbrochene Legitimationskette" zwischen Staatsvolk und konkret ausgeĂŒbter Staatsgewalt.
Schon das Modell einer einzigen"ununterbrochenen Legitimationskette" zwischen den beiden Polen Legitimationssubjekt - dem Staatsvolk - und Legitimationsobjekt - der Staatsgewalt - bringt zwangslĂ€ufig ein eindimensionales Bild hervor, in dem kein Platz fĂŒr mehrere Ausgangspunkte der Legitimation, fĂŒr PluralitĂ€t ist. Legitimation erschöpft sich in dem alle vier bis fĂŒnf Jahre stattfindenden Wahlakt sowie der Abfolge gesetzlich vorgesehener Verfahren. Von einem effektiven, demokratischen EinfluĂ des Legitimationssubjektes auf die Staatsgewalt ist bei diesem Konzept nichts mehr zu spĂŒren. Verlangt wird lediglich eine Eingangs-Legitimation; die Ergebnisse der AusĂŒbung von Herrschaftsgewalt spielen nach dem verfassungsgerichtlich verbindlichen Legitimationskonzept keine Rolle.
Das widerspricht aber nicht nur dem Empfinden der BĂŒrger, sondern vernachlĂ€ssigt zusĂ€tzliche Legitimationsquellen gerade auf der europĂ€ischen Ebene. Ein einheitliches Volk, ein monolithisches Legitimationssubjekt, steht in der EuropĂ€ischen Union gerade nicht zur VerfĂŒgung - das der EU unterstellte Legitimations- und Demokratiedefizit ist also zwangslĂ€ufig, wenn man ein monistisches LegitimationsverstĂ€ndnis zugrunde legt.
Betretenes Schweigen ruft in der Regel die Frage hervor, wie von SouverĂ€nitĂ€t gesprochen werden könne, wenn die WĂ€hrungshoheit, das klassische SouverĂ€nitĂ€tsattribut, bei der EuropĂ€ischen Zentralbank liegt, einer Institution, die dem nationalen Zugriff entzogen ist. Ăhnliches gilt fĂŒr den Hinweis, daĂ die meisten Gesetze, die die Wirtschaft betreffen, inhaltlich durch Rechtsakte aus BrĂŒssel bestimmt sind. Und wenn der nationale Gesetzgeber ĂŒberhaupt noch entscheiden muĂ, dann meist, weil Europarecht nachvollzogen werden muĂ.
Jean Bodin, der den Begriff der SouverĂ€nitĂ€t zwar nicht erfunden, aber ihm seine neuzeitliche Gestalt gegeben hat, sah als Kernbefugnis der SouverĂ€nitĂ€t die"Machtvollkommenheit, Gesetze fĂŒr alle und fĂŒr jeden einzelnen zu erlassen, und zwar... ohne daĂ irgend jemand... zustimmen mĂŒĂte". Formal kann zwar heutzutage von einer nationalen Gesetzgebung gesprochen werden. Aber was ist das fĂŒr eine SouverĂ€nitĂ€t und was fĂŒr eine Demokratie, wenn der Inhalt dieser wesentlichen Form von Herrschaftsgewalt keine Rolle spielen soll? Und wie steht es um die"ununterbrochene Legitimationskette" zwischen deutschem Staatsvolk und ausgeĂŒbter Herrschaftsgewalt, wenn Deutschland im Rat der EU von anderen Mitgliedstaaten ĂŒberstimmt wird und eine EU-Verordnung gegen den ausdrĂŒcklichen Willen Deutschlands in Kraft tritt, hier aber dennoch unmittelbar wirkendes und verbindliches Recht ist, das dann auch beachtet und von nationalen Verwaltungen - notfalls gegen den Widerstand der BĂŒrger - vollzogen wird?
Von dem Standpunkt der gĂŒltigen deutschen SouverĂ€nitĂ€ts- und Legitimationskonzeption aus scheinen sich die nationale Staatlichkeit wie auch ihre zentralen Begriffsfundamente aufzulösen. Sie sind kein MaĂstab mehr, um die politische RealitĂ€t auch nur halbwegs angemessen erklĂ€ren zu können. Dieses Zwischenergebnis kann bedrĂŒcken, bedenkt man, daĂ Herrschaftsgewalten, die ihren SouverĂ€nitĂ€ts- und LegitimitĂ€tsanspruch verwirkt haben, seit jeher schnell verfielen.
Gleichwohl greift ein pessimistisches Szenario vom Untergang des Staates zu kurz. Denn der angeblich legitimationsarme Staat verteilt immerhin mehr als die HĂ€lfte des Bruttoinlandsproduktes und gewĂ€hrleistet eine freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung insgesamt doch recht gut. Wenn es Politik- und Parteienverdrossenheit in Deutschland gibt, dann als Ausdruck des MiĂverhĂ€ltnisses zwischen legitimatorischem Anspruch und erlebter Wirklichkeit. Die vielfĂ€ltigen VerknĂŒpfungen der Staatsgewalt mit der europĂ€ischen Ebene als auch mit gesellschaftlichen KrĂ€ften passen nicht mehr zu den normativ hochgehaltenen SouverĂ€nitĂ€ts- und Legitimationskonzepten des ĂŒberkommenen Nationalstaates - und auch nicht zu einem"Problemlösungsmonopol" einer nationalen Regierung. Untergangsszenarien beruhen also auf einem ĂŒberholten Bild des Staates und seiner theoretischen Grundlagen. Es taugt nicht dazu, die EuropĂ€ische Union oder die AbhĂ€ngigkeit der Politik von gesellschaftlichen Machtzentren zu erklĂ€ren. Gravierend ist dieser falsche Blick vor allem in legitimatorischer Hinsicht: Legitimationsquellen, die auĂerhalb der einen ununterbrochenen Legitimationskette liegen, aber dringend benötigt werden, mĂŒssen auĂer Betracht bleiben, gelten sogar als demokratiewidrig.
Die Lösung dieses Dilemmas liegt weder im Untergang noch in einer Revolution, sondern in einer Evolution der staatstheoretischen Grundlagen. Das ist Aufgabe vor allem der (Staatsrechts-)Wissenschaft. Sie muà die begrifflichen und theoretischen Grundlagen der heutigen Herrschaftsordnung(en) weiterentwickeln und dabei die neuen, gewandelten RealitÀten einbeziehen.
Neu ist vor allem, daĂ der Staat allein zur Lösung der Probleme gar nicht mehr in der Lage ist. Selbst der"starke Staat" muĂ vor den internationalen wie innerstaatlichen Aufgaben, wie sie sich heute stellen, kapitulieren; diese Erkenntnis war im ĂŒbrigen ein Beweggrund fĂŒr die EinfĂŒhrung einer gemeinsamen europĂ€ischen WĂ€hrung. TrĂŒge die Staatstheorie der neuen, auf Kooperation angelegten Herrschaftsstruktur Rechnung, dann bestĂŒnde auch die Chance, daĂ auch die Politik den Erkenntnisfortschritt wahrnimmt - tatsĂ€chlich handelt sie lĂ€ngst nach neuen Orientierungsmustern. Eine derartige Weiterentwicklung der begrifflichen Grundlagen unserer Herrschaftsordnung bedeutete nicht den Abschied von verfassungsrechtlichen Errungenschaften, sondern einen in der Geschichte erprobten Vorgang, der momentan allerdings durch das Deutungsmonopol des staatsrechtlichen Monismus erschwert wird.
Schon im Alten Reich hatte das Erstarken der Landesherrschaften zu der Vorstellung einer gemeinsamen SouverĂ€nitĂ€t von Landesherren und Kaiser (beziehungsweise dem Reich) gefĂŒhrt, um den im Sinn einer Vorrangstellung nicht zu entscheidenden Machtkampf staatsrechtlich wie politisch aufzulösen. Angesichts der konkurrierenden Herrschaftsgewalten aus BrĂŒssel, Berlin und den LandeshauptstĂ€dten heiĂt die Lösung wiederum"gemeinsame SouverĂ€nitĂ€t". Und wo mehrere Herrschaftsgewalten zu kombinieren sind, mĂŒssen auch mehrere Legitimationsquellen bestehen: Die Vorstellung monistischer Legitimation muĂ durch eine Theorie pluraler Legitimation abgelöst werden.
SouverĂ€nitĂ€t ist im europĂ€ischen Mehrebenensystem nur dann noch eine sinnvolle Kategorie, wenn der SouverĂ€nitĂ€tsbegriff an den verfassungsrechtlichen und politischen RealitĂ€ten entlang fortentwickelt wird. Ausgangspunkt muĂ dabei die herkömmliche Vorstellung von SouverĂ€nitĂ€t sein. Diese besteht vor allem darin, zum Zwecke von Frieden und Sicherheit die Verbindung von Macht beziehungsweise Herrschaftsgewalt, Gemeinwesen und Recht zu gewĂ€hrleisten. Die Qualifizierung von Herrschaftsgewalt als SouverĂ€n soll rechtfertigungsbedĂŒrftige und rechtfertigungsfĂ€hige Herrschaftsgewalt herausbilden und von inakzeptabler, legitimitĂ€tstheoretisch abzulehnender Macht abgrenzen.
Die Weiterentwicklung dieses Konzepts fĂŒhrt zu einer"gemeinsamen SouverĂ€nitĂ€t", deren Inhalt durch die gleichberechtigte Partnerschaft mehrerer Herrschaftsgewalten gekennzeichnet ist. Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsbefugnis stehen auch weiterhin im Zentrum des juristischen SouverĂ€nitĂ€tsbegriffes, doch können und mĂŒssen die rechtsverbindlichen Entscheidungen der Herrschaftsgewalt nicht mehr im Ursprung dem souverĂ€nitĂ€tstheoretischen Alleingeltungsanspruch genĂŒgen, sondern erst in ihrer Auswirkungsdimension, das heiĂt insbesondere in ihrer Erscheinungsform gegenĂŒber dem BĂŒrger. Warum sollen also nicht mehrere Staaten einen gemeinsamen Sitz im Internationalen WĂ€hrungsfonds einnehmen? Warum sollen die Mitgliedstaaten der EU nicht einen gemeinsamen stĂ€ndigen Sitz im Sicherheitsrat der UN anstreben, wenn die Gemeinsame AuĂen- und Sicherheitspolitik enger wird, vielleicht sogar durch einen"EU-AuĂenminister" reprĂ€sentiert wird? Die souverĂ€nitĂ€tstheoretische Autarkie des Nationalstaates gibt es schon lĂ€ngst nicht mehr.
Ăhnlich dem mittelalterlichen Lehnsrecht.
Da die EuropĂ€ische Union mangels ĂŒberkommener StaatsqualitĂ€t den legitimatorischen Anforderungen des Staates nicht gerecht werden kann, muĂ neben dem SouverĂ€nitĂ€ts- auch das Legitimationskonzept der pluralen Herrschaftsstruktur angepaĂt werden. Ein modernes Legitimationskonzept hat eine formelle und eine materielle Seite. Formell bedarf die Herrschaftsgewalt einer von den Legitimationssubjekten ausgehenden und auf diese bezogenen Ableitung, der Eingangs-Legitimation. Wesentliche Voraussetzung ist dabei der Verzicht auf die angebliche"vorrechtliche Voraussetzung" eines einzigen kollektiven Legitimationssubjektes, etwa in Gestalt eines einheitlichen Staatsvolkes oder einer Nation. Ein solches Volk ist keine unverĂ€nderliche, prĂ€existente GröĂe, sondern die Folge einer Integrationsleistungen erbringenden Gesellschaft und ihrer Herrschaftsordnung. Dementsprechend verĂ€ndert das Legitimationssubjekt nicht nur immerfort seine GröĂe und Zusammensetzung; vielmehr kann es auch mehrere Legitimationssubjekte im Nationalstaat und in der EU geben.
Angesichts der KomplexitĂ€t einer Herrschaftsordnung, die aus verschiedenen Ebenen mit jeweils zahlreichen vertikalen und horizontalen Untergliederungen zusammengesetzt ist, muĂ das Legitimationsmodell mehrdimensional entworfen werden. Es bedarf verschiedener"Legitimationsbausteine", nicht mehr nur einer"ununterbrochenen Legitimationskette", damit durch das Zusammenwirken mehrerer AbleitungsstrĂ€nge ein ausreichendes LegitimitĂ€tsniveau fĂŒr die konkrete BetĂ€tigung der Herrschaftsgewalt erreicht wird. Die Arbeit von Europol etwa wĂŒrde niemals legitim sein, wenn man fĂŒr die Arbeit von Polizisten aus allen Mitgliedstaaten plötzlich einen einzigen Ableitungsstrang forderte. FĂŒr eine effektive demokratische Legitimation genĂŒgt ein einziger Einsetzungsakt ohnehin nicht. Es bedarf der Herausbildung eines komplexen GefĂŒges von Verantwortungszurechnung, die gegebenenfalls auch eingefordert werden kann. Ein solches VerantwortungsgefĂŒge wird dem mittelalterlichen Lehnsrecht Ă€hnlich sein, dafĂŒr aber die Mehrebenen-RealitĂ€t Europas abbilden können.
ZusĂ€tzlich bedarf es einer materiellen Komponente, der output-Legitimation, die Inhalt, Ergebnisse und Auswirkungen der Herrschaftsgewalt fĂŒr Legitimation und LegitimitĂ€t betrachtet. Legitimation darf nicht nur auf die formale Entscheidung bezogen werden, sondern auch auf die inhaltlichen Aspekte, da Herrschaftsgewalt in der Demokratie nicht Selbstzweck sein darf, sondern nur zur ErfĂŒllung bestimmter Herrschaftszwecke, Herrschaftsziele und Herrschaftsaufgaben verliehen wird. Demokratie hat eben nicht nur Herrschaft des Volkes und durch das Volk, sondern auch Herrschaft fĂŒr das Volk zu sein. Also muĂ es kĂŒnftig auch aus LegitimitĂ€tssicht stĂ€rker auf den"Mehrwert" der HerrschaftsausĂŒbung fĂŒr die Legitimationssubjekte, die BĂŒrger, ankommen. Die Akzeptanz staatlicher MaĂnahmen muĂ daher in das normative Legitimationskonzept eingehen. Denn auch hier ist die RealitĂ€t weiter als die Theorie: Trotz der unmittelbaren demokratischen input-Legitimation ist etwa die"DiĂ€tenreform" des Schleswig-Holsteinischen Landtages gescheitert, weil es an einem MindestmaĂ an Akzeptanz in der Bevölkerung gefehlt hat.
Nur mit einem offeneren DemokratieverstĂ€ndnis wird es möglich sein, im Zuge der Umgestaltungen unserer Herrschaftsordnungen Errungenschaften in Gestalt von Grundrechten, Demokratie und Rechtsstaat zu bewahren, fĂŒr die vor gut 150 Jahren in Deutschland gekĂ€mpft werden muĂte und die erst nach 1945 verwirklicht werden konnten. Nach einem Bonmot geht die Demokratie zwar vom Volke aus, kehrt dorthin aber nicht zurĂŒck; es wird höchste Zeit, daĂ vor allem die Staatsrechtswissenschaft die grundlegend verĂ€nderten RealitĂ€ten zur Kenntnis nimmt und die staatstheoretischen Grundlagen so weiterentwickelt, daĂ die in der Demokratie unabdingbare, wechselseitige Verwiesenheit von Herrschaftsgewalt und BĂŒrgern eine neue Gestalt erhĂ€lt.
* Der Verfasser ist Erster Beigeordneter des Deutschen Landkreistages und Privatdozent an der Christian-Albrechts-UniversitÀt zu Kiel.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.11.2003, Nr. 254 / Seite 7
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