-->"Noch vor einem Jahr hatte Muhammad Spielkarten mit der Aufschrift"Nennt mich Gott" verteilt. Er hatte ein Land in seinem Griff, er war der Sniper von Washington, ein Scharfschütze, der über Leben und Tod entschied."
Das muss den SPIEGEL natürlich ungemein wurmen! Allwissend und daher Gott gleich ist schließlich nur dieses Rotz-Blatt. Schließlich weiß es obigen Satz als FAKTUM zu berichten, nicht etwa nur als MUTMASSUNG.
Unerwähnt lässt der SPIEGEL - wie von der Systempresse auch nicht anders zu erwarten -, dass
(a) wochenlang nach einem weißen Van gefahndet worden war, den etliche Augenzeugen in jeweiliger Tatortnähe gesehen hatten.
(b) der der blaue Chevrolet Caprice DAS Standardfahrzeug desw FBI für zivile Undercover-Aktionen war.
(c) Muhammad zwar mal tatsächlich eine Bushmaster besessen hatte, diese jedoch lange vor den Attentaten wieder verkaugt hatte.
(d) das angebliche Täterprofil besonders gut zur rassistisch-religiösen Hetze tauge. Ist doch der angebliche (Haupt-)Täter Muhammad ein Schwarzer und Moslem. Wie passend für Kriegslüstlinge im Umfeld der US-Administration.
(e) die Massenpanik unmittelbar vor den Kongresswahlen nur einem nützte: G.W. Bush (und seinen republikansichen Freunden). Das verprach reichlich innenpolitische Unterstützung im"Kampf gegen den Terror" sowie im Grundrechtekahlschlag übelsten Ausmaßes! Und so kam es denn ja auch.
Abgesehen davon ist der Artikel dennoch lesenswert!
RK
DER SPIEGEL 45/2003 - 03. November 2003
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,273019,00.html
Im Anzug zum Schafott
Zusammen mit einem Freund soll John Muhammad vor einem Jahr zehn Menschen aus dem Hinterhalt erschossen haben - als Sniper von Washington, als Herr über Leben und Tod. Nun wird ihm im US-Bundesstaat Virginia der Prozess gemacht. Von Alexander Osang
Als John Allan Muhammad an seinem ersten Verhandlungstag nach vorn zum Richtertisch ging, war er eigentlich bereits ein toter Mann. Ein toter Mann in einem graubraunen Jackett, schwarzen Hosen und billigen Schuhen, die ihm von amerikanischen Regierungsbehörden gestellt worden waren, damit er am Ende anständig aussieht. Ein toter Mann, der von zwei Starverteidigern begleitet wurde, für die seine ausweglose Lage nur eine juristische Herausforderung ist. Ein Hauch von einem Lebewesen. Ein Geist.
Noch vor einem Jahr hatte Muhammad Spielkarten mit der Aufschrift"Nennt mich Gott" verteilt. Er hatte ein Land in seinem Griff, er war der Sniper von Washington, ein Scharfschütze, der über Leben und Tod entschied. Jetzt schien es, als habe ihn jede Macht verlassen.
Es war ein sonniger Herbsttag in Virginia, einem Bundesstaat, in dem nach Texas die meisten Todesurteile Amerikas vollstreckt werden. Düsenjäger der nahe gelegenen Navy-Base flogen ihre Übungen am hellblauen Atlantikhimmel. Dutzende amerikanische Fernsehreporter warteten mit frisch gemischten Betonfrisuren in der Morgensonne auf ihre ersten Live-Schaltungen. Drinnen im Gerichtssaal drückten die Staatsanwälte ihre Rücken durch. Chef der Anklage war Paul Ebert, der schon zwölf Mörder zur Todesstrafe geführt hat, so viel wie kein anderer Staatsanwalt in Virginia. Sein Stellvertreter James Willett hat es auch schon auf sechs Todesurteile gebracht. Die Staranwälte Jonathan Shapiro und Peter Greenspun haben Muhammads Verteidigung übernommen, aber die meisten fragten sich, was hier überhaupt noch verteidigt werden sollte. Vor zwei Tagen war auf dem Sender USA der erste Fernsehfilm über die Sniper gezeigt worden. Millionen Fernsehzuschauer hatten sie morden sehen. Sie waren Geschichte.
Leise richtet John Allan Muhammad seine ersten Worte an den Richter LeRoy Millette."Kann ich mich selbst verteidigen, Sir?"
"Warum wollen Sie das tun?", fragt Richter Millette.
"Weil ich glaube, dass ich am besten für mich sprechen kann", sagt Muhammad.
"Sagen Sie mir, warum Sie das können."
"Weil ich mich kenne."
Das ist ein Argument. John Muhammad hat ein rätselhaftes Leben geführt. Er ist 42 Jahre alt, er diente 17 Jahre lang der amerikanischen Nationalgarde und der U. S. Army, für die er auch im ersten Golfkrieg war. Er konvertierte zum Islam, er war zweimal verheiratet, er hat fünf Kinder. Aber als man ihn verhaftete, lebte er in einem vermüllten Chevrolet Caprice, zusammen mit einem 17-jährigen jamaikanischen Jungen namens Lee Malvo, den er
seinen Sohn nannte. Im Rücksitz ihres Wagens war das Gewehr versteckt, mit dem mindestens acht Leute erschossen worden waren. Viele, die sich an Muhammad erinnern, sagen heute, er sei immer ein bisschen verrückt gewesen. Aber gekannt hat ihn zum Schluss wohl niemand mehr.
Richter Millette stimmt Muhammads Antrag zu. Er darf sich selbst verteidigen. Shapiro und Greenspun sind entlassen. John Allan Muhammad ist jetzt ganz allein. Er hat nur noch den geliehenen Anzug.
Ein Gerichtsdiener bringt eine längliche Stofftasche zur Anklagebank. Staatsanwalt James Willett öffnet sie und entnimmt ihr eine Bushmaster XM-15 E2S, das Sniper-Gewehr. Er baut es auf, das Metall klackt kühl, als er den Ständer ausklappt, er richtet den Lauf der Waffe so aus, dass sie die Geschworenenbank nur um eine Handbreit verfehlen würde. So lässt er sie stehen während seines Eröffnungsplädoyers.
Willett versucht die Schreckenszeit des vergangenen Jahres zurückzuholen, als Menschen an Tankstellen und auf Parkplätzen herumzappelten, um ein schlechtes Ziel abzugeben. Wenn sie überhaupt noch aus dem Haus gingen. Die Waffe auf dem Tisch hätte in jenen drei Wochen jeden treffen können. Die Sniper bewegten sich geschmeidig durch das dichte Schnellstraßennetz. Sie schossen und verschwanden in der Anonymität immergleicher Landschaften aus Parkplätzen, Zufahrten, Tankstellen, Supermärkten, Drive-In-Restaurants. Alles floss, und sie schwammen mit. Der letzte Blick ihrer Opfer fiel auf den Preis für Normalbenzin an der Leuchtreklame einer Esso-Tankstelle, auf die Werbung für ein Frühstück bei McDonald's oder auf die Übernachtungskosten für ein Doppelbett in einem Days Inn.
"Die Sniper reisten, wohin sie wollten, sie parkten, wo sie wollten, sie töteten, wen sie wollten. Die Welt um sie herum wurde zum Feindesland, und je mehr sie töteten, desto größer wurde es", sagt Willett.
Er zählt die Opfer auf, redet von Blut, Schmerzen, Trauer und Verzweiflung. Er zeigt Lichtbilder des blauen Chevrolet Caprice, aus dessen Kofferraum die tödlichen Schüsse abgegeben wurden. Der Staatsanwalt kündigt Hunderte Zeugen an, Fingerabdrücke, Tonbänder und Experten, die belegen werden, dass John Muhammad der Kopf dieser"terroristischen Aktion" war. Willett, ein Triathlet, umkreist die Waffe, er zeigt immer wieder auf Muhammad, aber der macht sich Notizen für seine eigene Rede, die ihn weit wegführen wird von all den schmutzigen Details, die der Staatsanwalt eine Stunde lang auflistet.
Nachdem Willett das Gewehr wieder verpackt hat, erhebt sich John Muhammad, um sein Eröffnungsplädoyer zu halten. Er geht ruhig nach vorn.
"Guten Abend", sagt John Muhammad und sieht die Geschworenen an.
"Wir werden von diesem Gericht aufgefordert, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Ich versteh das nicht ganz. Ich dachte eigentlich immer, es gibt nur die eine Wahrheit. Jesus sagt: 'Du sollst die Wahrheit sagen!' Er sagt nichts von der 'ganzen Wahrheit' und nichts von 'nichts als der Wahrheit'."
Verteidiger Shapiro beginnt, sich die Schläfen zu massieren, die Staatsanwälte tuscheln, aber Richter Millette sieht Muhammad interessiert an, der jetzt zu einer längeren Geschichte ausholt. Vor ein paar Jahren habe er seine Lieblingstochter Taliba gebeten, keine Schokoladenkekse aus der Keksbüchse zu nehmen, als er das Haus verließ. Aber als er wieder zurückkam, traf er sie im Garten mit einem Keks in der Hand. Als sie ihm das erklären wollte, verbot er ihr den Mund und schickte sie in ihr Kinderzimmer, wo sie weinend zusammenbrach. Wenig später erzählte ihm sein Sohn, dass er ihr die Kekse aus dem Laden mitgebracht habe und sie sogar den Rest in die Keksbüchse gelegt habe.
"Ich habe mich auf das verlassen, was ich sah. Aber ich wusste nicht, was tatsächlich passiert ist. Und ich sage zu diesen Leuten", Muhammad zeigt auf die Staatsanwälte,"wir wissen, dass etwas passiert ist. Aber sie waren nicht dabei. Ich war da. Ich weiß, was passiert ist, und ich weiß, was nicht passiert ist. Alles, was sie mit mir gemacht haben, alles, was sie sagen, basiert auf einer Theorie. Eine Theorie. Ich wurde auf Grund einer Theorie eingesperrt. Mir wurde die Kaution verweigert, auf Grund einer Theorie. Was ist eine Theorie? Eine Vermutung, denke ich. Eine Annahme. Eine Theorie ist keine Tatsache."
Muhammad erzählt von einem schmutzigen und einem sauberen Glas, zwischen denen sich die Geschworenen entscheiden müssen. Am Ende sagt er:"Lassen Sie sich nicht von Gefühlen in Ihrer Entscheidung leiten, auch nicht von Gefühlen, von denen Sie annehmen oder hoffen, dass sie richtig sind. Mein Leben und das meines Sohnes stehen auf dem Spiel. Seien Sie aufmerksam. Wenn wir genau hinschauen, wenn wir aufmerksam zuhören, werden die Beweise Stück für Stück zeigen, dass ich nichts mit diesen Straftaten zu tun habe. Ich habe nichts damit zu tun."
Es ist ein erstaunlicher Auftritt. Eine Rede wie auf dem Schafott oder in einem amerikanischen Gerichtssaal-Spielfilm. Es herrscht eine ungläubige, andächtige Stimmung. Für einen Moment rechnet man fast mit Beifall, aber es bleibt still. Muhammad hat sich mit seinen Worten in den winzigen Freiräumen hin und her bewegt, die er noch hat. Weit weg von all dem Blut und den Fingerabdrücken ist er in eine Welt höherer Gerechtigkeit vorgedrungen.
John Muhammad ist wieder am Leben. Er läuft mit ruhigen Schritten zurück zu seiner Bank und setzt sich. Die Journalisten haben Erregungsflecken im Gesicht. Draußen auf den Parkplätzen berichten die Reporter mit den Betonfrisuren das Ungeheuerliche. In den Zeitungsredaktionen werden die Titelseiten freigeräumt.
Der erste Zeuge der Anklage ist Mark Spicer, Sergeant Major der britischen Armee, ein professioneller Sniper, der auf der ganzen Welt im Einsatz war.
Spicer erzählt, dass Sniper immer in Zweimannteams arbeiten. Ein Mann beobachte, sichere die Gegend und wähle die Ziele aus. Der andere schießt.
"Wer ist der wichtigere Mann?", fragt Staatsanwalt Ebert.
"Der, der die Ziele auswählt", sagt Sergeant Major Spicer.
Die Staatsanwaltschaft zeigt ihm Dinge, die sie im Caprice fand. Ein Navigationsgerät, Walkie-Talkies, Karten, ein Diktiergerät und schließlich das Gewehr. Spicer sagt, dass all diese Dinge zur Grundausstattung eines Sniper-Teams gehören.
"Was ist das Ziel eines Snipers?", fragt Ebert.
"Sniper richten mit kleinstem Aufwand so viel Schaden wie möglich an. Sie greifen nicht an der Front an, sondern im Hinterland. Sie suchen sich weiche Ziele, sie attackieren den Unterleib. Du tötest den Fahrer des Tanklasters zum Beispiel. Oder den Funker. Erschieß einen Funker, erschieß den nächsten Funker und dann noch einen, und du wirst sehen, dass niemand mehr ans Funkgerät will. Sniper zerstören das Vertrauen zwischen unteren Rängen und dem Kommando. Es entsteht eine Atmosphäre der absoluten Unsicherheit. Und je mehr und je willkürlicher man Leute erschießt, desto größer ist die Unsicherheit. Wenn du den Feind nicht siehst, kannst du ihn auch nicht stoppen."
Sergeant Major Spicer hat ein Buch darüber geschrieben. Es klingt, als hätten es die Sniper von Washington gelesen.
Sie erschossen vier Menschen an einem Vormittag in ein und derselben Gegend in Maryland, zwei Männer und zwei Frauen, sie waren zwischen 25 und 54 Jahre alt. Dann warteten sie zwölf Stunden, töteten einen 72jährigen Rentner in Washington D. C. Am nächsten Tag schossen sie auf eine Frau in Virginia, drei Tage später auf einen 13-jährigen Schuljungen in Maryland. Es gab kein Muster, keine Motive, keine Spuren. Sie schossen willkürlich in den weichen Unterleib Amerikas. Schon nach zwei Wochen erreichten sie damit den Präsidenten."Es ist unerträglich, dass Mütter sich nicht mehr trauen, ihre Kinder zur Schule zu bringen", sagte Präsident Bush im Oktober 2002."Das ist nicht das Amerika, das ich kenne."
"Guten Tag", sagt John Muhammad nun, im Oktober 2003, als er das erste Kreuzverhör seines Lebens beginnt.
"Hallo", sagt der Sergeant Major kühl.
"Waren Sie jemals in einer amerikanischen Mall?", fragt Muhammad.
"Ja", sagt Spicer.
"Kann einem da nicht so ein Walkie-Talkie gute Dienste leisten?" Er hält das Gerät in die Höhe, das man in seinem Wagen gefunden hat.
"Sicher", sagt der Sergeant Major.
"Ist es nicht so, dass fast all die Gegenstände, die eben gezeigt wurden, auch für zivile Zwecke genutzt werden können?"
"Ja."
Muhammad nimmt das Gewehr in die Hand. Er schaut es nachdenklich an.
"Haben Sie mich jemals mit dieser Waffe schießen sehen?", fragt er.
"Nein."
"Haben Sie mich überhaupt jemals zuvor gesehen?"
"Nein."
"Haben Sie den Fall im vorigen Jahr verfolgt?"
"Nur in den Medien. Ich war zu der Zeit im Kosovo", sagt Spicer.
"Danke", sagt Muhammad und geht zu seinem Platz zurück.
Spicer sitzt ratlos in der Zeugenbank. Er ist ein Offizier, der von der Queen für seine Dienste ausgezeichnet wurde. Er ist vor zweieinhalb Wochen von der Staatsanwaltschaft zu diesem Prozess eingeladen worden. Er hat eine dicke Mappe mit Unterlagen dabei und eine Kiste mit Dias. Aber auf diese Begegnung war er nicht vorbereitet. Er verlässt mit steifen Schritten den Saal. Draußen wartet schon Larry Meyers, dessen Bruder Dean Meyers am 9. Oktober 2003 an einer Sunoco-Tankstelle in Manassass erschossen wurde.
Meyers Ermordung ist der Präzedenzfall der Anklage. An ihm wollen sie Muhammads Schuld exemplarisch beweisen. Meyers war in Virginia erschossen worden, in Staatsanwalt Paul Eberts eigenem County. Und Meyers war ein Vietnam-Held.
Sein Bruder Larry nimmt im Zeugenstand Platz und erzählt aus dem Leben des Toten. Dean Meyers wurde in Vietnam verwundet, er wurde ausgezeichnet. Als er zurückkam, studierte er Maschinenbau, fing in Washington an zu arbeiten und kaufte sich ein Stück Land, auf dem er ein Haus baute. Er rauchte nicht, trank nicht und benutzte keine Kraftausdrücke. Die Staatsanwaltschaft wirft ein Foto des Vietnam-Kämpfers auf die Leinwand, dann eins aus dem vorigen Sommer, das einen freundlich lächelnden 50-jährigen Mann mit Schnurrbart zeigt, und schließlich das Foto des erschossenen Meyers, der neben der Tanksäule 4 der Sunoco-Station liegt. Aus seinem Kopf ergießt sich eine Blutlache, neben ihm liegt die Kreditkarte, mit der er seine Tankfüllung bezahlte.
"Ist das Ihr Bruder im Tod?", fragt Ebert.
"Ja", sagt Meyers.
Das letzte Foto zeigt Meyers auf dem Obduktionstisch. Eine Gerichtsmedizinerin weist auf die tödliche Wunde, aber auch auf die Narben, die sich Meyers in Vietnam holte. In diesem Moment steht der tote Dean Meyers für Amerika. Ein aufrechter Mann, ein Vietnam-Held, der hinterrücks erschossen wurde. Es ist eine moralische Auseinandersetzung. Die Sniper haben Amerika angegriffen. Das macht sie zu Terroristen, ähnlich denen, die das World Trade Center angriffen.
Muhammad hat keine Fragen an den Hinterbliebenen.
Linda Thompson, die in der Bank nahe der Tankstelle arbeitet, hat die Sniper in der Mordnacht gesehen, sagt sie. Ihr sei am Abend ein blauer Chevrolet aufgefallen, der auf dem Parkplatz vor ihrer Bank wartete. Zwei schwarze Männer hätten sich neben dem Wagen aufgehalten. Einer sei Muhammad gewesen, der zweite war jünger, sagt sie. Der Staatsanwalt fragt, ob sie ihn identifizieren könne. Sie nickt.
Eine Minute später wird Lee Malvo in den Gerichtssaal geführt. Er ist in Ketten gelegt und steckt in einem orangefarbenen Häftlingsoverall. Sein Prozess beginnt am 10. November in einem Gerichtssaal in der Nähe. Er schaut wie ein gehetztes Tier.
Linda Thompson identifiziert Malvo als den zweiten Mann. Der Junge achtet nicht auf die alte Frau, er schaut die ganze Zeit zu Muhammad, seinem"Vater", der dort in einem Anzug und mit Krawatte auf der Verteidigungsbank sitzt wie ein Anwalt. Muhammad schaut nicht zurück. Malvo hat in den Tagen nach seiner Verhaftung einem Ermittler vom Verhältnis zu Muhammad erzählt. Er könne die Energie seines Freundes spüren, wenn er in der Nähe sei. Sie würden einander beschützen. Er sagte, dass der Schuss auf Dean Meyers ausgezeichnet gewesen sei. Ein Kopfschuss, den sie weit weg von den bisherigen Anschlägen ausführten, um die Polizeikräfte auszudünnen. Malvo sagte auch, dass sie sich mit dem Schießen abwechselten, blieb aber sehr vage, was die Rolle von Muhammad anging. Der sei meist gefahren.
Malvo verrenkt sich den Kopf, um einen Blick von Muhammad zu erhaschen, seine Energie zu spüren, während ihn die Wärter abführen. Muhammad schaut erst auf, als er aus dem Saal ist.
Einen ganzen Tag lang umkreist die Staatsanwaltschaft den Mord an Dean Meyers. Sie werfen Luftbilder an die Leinwand, die überall in Amerika aufgenommen worden sein könnten. Tankstellen, Motels, Schnellrestaurants, eine Interstate, diesmal ist es die I-66. Der Schuss, der Dean Meyers tötete, ist vom Parkplatz des Bob-Evans-Restaurants abgegeben worden, das gegenüber der Sunoco-Tankstelle liegt. Man fand eine Straßenkarte mit Malvos und Muhammads Fingerabdrücken auf dem Parkplatz.
Policeofficer Steven Bailey sagt aus, dass er den blauen Chevrolet etwa eine Stunde nach dem Mord kontrollierte, als er den Parkplatz vom Bob-Evans-Restaurant verlassen wollte. Er identifiziert Muhammad als den Fahrer. Bailey habe ihn gefragt, was er hier mache. Muhammad habe ihm gesagt, dass er gerade aus dem Florida-Urlaub komme, er sei von der Polizei auf diesen Parkplatz geschickt worden, weil die Interstate gesperrt worden sei. Muhammad sei sehr freundlich und kooperativ gewesen, sagt der Polizist. Daraufhin habe er ihn passieren lassen.
Er ist übergewichtig, wie die meisten Polizisten, die aussagen. Ihre Uniformhemden spannen über dem Bauch, sie können vor Kraft kaum laufen. Ein Officer beschreibt später, wie ihm Malvo, den er nach einem Mord in Louisiana stoppte, einfach weglief."Er kam besser über den Zaun als ich", sagt der Mann und lächelt verlegen. Neunmal ist der blaue Chevrolet Caprice in den drei Sniper-Wochen von der Polizei gestoppt worden. Jedes Mal haben sie ihn wieder fahren lassen. Der Wagen war ordnungsgemäß zugelassen. Steven Bailey ist seit zwei Jahren im Dienst und voll guten Willens. Sechs Stunden lang hat er den Parkplatz noch bewacht, nachdem der blaue Chevrolet abgefahren war. Er wusste ja nicht, dass sie es waren. Er hat seine Beobachtung erst gemeldet, als die Sniper gefasst und die Bilder von Muhammad und Malvo in allen Zeitungen zu sehen waren.
"Wieso erinnern Sie sich an mich?", fragt Muhammad den Zeugen.
"Sie waren der einzige schwarze Fahrer auf dem Parkplatz", sagt der Polizist.
John Muhammad lächelt. Er wirkt in diesem Moment nicht wie ein Massenmörder. Er wirkt wie Sidney Poitier in"In der Hitze der Nacht". Ein schlanker, gut formulierender, schwarzer Mann zwischen dicken, weißen Polizisten. Er ist noch einmal stark. Man könnte sich vorstellen, dass er von Denzel Washington gespielt wird, wenn der Sniper-Fall ins Kino kommt.
Kurz bevor der zweite Verhandlungstag zu Ende geht, gibt der Richter zu Protokoll, dass Muhammad als sein eigener Anwalt eine sehr gute Figur abgibt. Er scheine zu wissen, was er tue. Am nächsten Morgen tritt Muhammad vor den Richtertisch und sagt, er möchte, dass ihn ab jetzt wieder seine Anwälte vertreten. Er nennt keine Gründe, vielleicht weiß er nicht weiter, vielleicht hat er erreicht, was er wollte.
Er kennt sich selbst am besten.
Seine Anwälte Shapiro und Greenspun springen von der Kette. Ihr erstes Opfer ist der Autohändler aus New Jersey, der Muhammad im September den gebrauchten Chevrolet Caprice verkaufte. Es war ein ausrangierter ehemaliger Undercover-Einsatzwagen der Polizei. Er stand schon über ein Jahr auf dem Hof. Sie mussten den Wagen anschieben, weil er nicht ansprang. Sie haben 250 Dollar dafür bezahlt.
"Ich bin nicht besonders stolz auf das Auto, aber sie wollten ihn unbedingt", sagt der Händler. Greenspun verwickelt ihn in immer mehr Widersprüche, am Ende scheint der Mann froh zu sein, dass sie ihn nicht gleich dabehalten. Muhammad versinkt wieder auf der Bank. Die Gerichtsmaschine läuft jetzt wie geschmiert.
Die Verhandlung ist nun im Süden angekommen. An der Interstate 95. Es gibt ein Luftbild mit einem Days Inn, einem Hardee's und einem McDonald's. Muhammads Anwälte bringen Zeugen aus Louisiana dazu, sich gegenseitig zu widersprechen. Ein Mann glaubt, Malvo habe ein olivfarbenes T-Shirt getragen, eine Frau sagt, es sei ein weißes Unterhemd gewesen; der Mann erinnert sich an ein weißes Baseballcap, die Frau nicht. Es sind Kleinigkeiten, Ungenauigkeiten der Zeugen, Spitzfindigkeiten der Gerichtsmaschine.
Von schmutzigen und sauberen Gläsern ist nicht mehr die Rede. Auch nicht vom Unterschied zwischen Wahrheit und ganzer Wahrheit.
Die Tage fließen zäh vorbei. Richter Millette gähnt. Alles wiederholt sich. Niemand hat Muhammad schießen sehen. Immer wieder sehen Zeugen den Chevrolet wegfahren, parken, ankommen. Aber die Fotos der Opfer werden immer blutiger. Am Ende der ersten Woche ist das zerschossene Gesicht einer Frau aus Louisiana acht Minuten lang auf der Saalleinwand zu sehen. Die Staatsanwälte kriechen immer tiefer in die zerfetzten Organe der Toten, folgen den Geschosssplittern auf ihren Wegen durch Brustkörbe und Schädel.
In der zweiten Woche sagt der 14-jährige Iran Brown aus, den sie in Maryland angeschossen haben. Das Tonband mit dem Polizeinotruf seiner Tante, die ihn an diesem Tag zur Schule brachte, wird abgespielt. Man hört den Jungen im Hintergrund wimmern. Sie mussten ihm die Milz und einen Teil der Leber entfernen, er hat Glück gehabt.
"Das Unglück hat mich Gott näher gebracht", sagt der Junge im Zeugenstand.
Seine Tante bricht in Tränen aus. Die Geschworenen sind beeindruckt.
Muhammad ist nicht zu retten.
Staatsanwalt Ebert steht kurz vor der Pensionierung. Er ist ein passionierter Jäger, er wird keine Ruhe geben. Shapiro und Greenspun wissen das. Sie drängen auf ein psychologisches Gutachten ihres Klienten. Auch Lee Malvos Anwälte haben in der vorigen Woche erklärt, dass ihr Mandant während der Sniper-Attacken nicht zurechnungsfähig war. Die Sniper können nur noch als Geistesgestörte überleben.
Man wird Gründe finden, wenn man will. Man spürt, dass John Muhammad auch ein professioneller Sniper hätte werden können wie der britische Sergeant Major Spicer. Muhammads Vater verschwand gleich nach der Geburt, seine Mutter starb, als er drei Jahre alt war. Er hatte Disziplinschwierigkeiten bei der Armee. Seine erste Frau nannte ihn einen militaristischen Kontrollfreak. Am schlimmsten traf ihn wohl, dass ihm seine zweite Frau die Kinder entziehen ließ. Bei seiner ersten und einzigen polizeilichen Vernehmung in der Nacht, in der er verhaftet wurde, sagte er, seine Probleme fingen an, weil seine Frau ihn betrogen habe.
Vielleicht war es kein Zufall, dass die meisten Opfer in der unmittelbaren Nachbarschaft seiner Ex-Frau im Montgomery County von Maryland erschossen wurden. Malvo allerdings hat bei seinem Verhör erzählt, sie wollten die"reichen Leute" des Montgomery County bestrafen. Er erklärte, wie sie die Gesellschaft schocken wollten, dass sie psychologisch vorgingen, wie in einer Schlacht. Sie sahen sich immer wieder die DVD von"We Were Soldiers" an, einem Vietnam-Kriegs-Epos mit Mel Gibson, sagte er. Malvo ist auch von Hannibal begeistert, dem punischen Feldherrn. Er hat Thomas Jefferson gelesen und die Schriften des Islam. Am meisten aber faszinierte ihn"Matrix", ein Film, in dem wenige menschliche Kämpfer die Herrschaft der Maschinen brechen wollen. Die virtuellen Gegner tragen Sonnenbrillen und sehen aus wie FBI-Beamte.
John Muhammad und Lee Malvo haben Amerika angegriffen. Der 11. September 2001 erschütterte die amerikanische Stadt, die drei Wochen im Oktober 2002 das amerikanische Land. Experten vermuteten damals, dass ein Terrornetzwerk hinter den Snipern stecke. Vielleicht hat auch deshalb lange niemand auf den schäbigen Chevrolet Caprice geachtet. Ein 250-Dollar-Auto aus New Jersey, das die Polizei einst ausrangiert hatte. Sie waren ohnmächtig, und sie werden sich für diese Ohnmacht rächen.
"Sie waren nicht dabei. Ich war da. Ich weiß, was passiert ist und was nicht passiert ist", hat John Muhammad in seinem Plädoyer gesagt.
Es ist das Einzige, was er ihnen noch voraus hat. Vielleicht bis in seinen Tod.
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