-->ftd.de, Fr, 21.11.2003, 15:00
Profil: Florian Gerster
deutscher Politiker; Vorstandsvorsitzender der BfA; SPD
Geburtstag: 7. Mai 1949, Worms
Klassifikation: Leitender Mitarbeiter einer Staatsbehörde
Nation: Deutschland - Bundesrepublik
Herkunft
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Florian Gerster wurde am 7. Mai 1949 in Worms als drittes von vier Kindern geboren. Der Großvater war Holzfabrikant in Mainz und politisch in der katholischen Zentrumspartei aktiv, der Vater Arzt und FDP-Kommunalpolitiker. G.s jüngere Schwester Petra wurde Redakteurin beim ZDF.
Ausbildung
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Die Schulzeit verbrachte G. bis zum Abitur 1968 zeitweise auf einem Internat. Nach dem Wehrdienst als Reserveoffizier - er stieg später zum Oberstleutnant auf - studierte G. ab 1970 Psychologie sowie Betriebswirtschaftslehre in Mannheim und schloss 1975 als Diplom-Psychologe ab.
Wirken
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Schon vor dem Examen begann G. eine politische Laufbahn. 1966 war er der SPD beigetreten und 1974-1990 gehörte er dem Stadtrat von Worms an. 1975 kandidierte er bereits, wenn auch zunächst erfolglos bei den Rheinland-Pfälzer Landtagswahlen als Nebenkandidat. Interna der Mainzer Landespolitik lernte er 1976/1977 als Persönlicher Referent des SPD-Fraktionsvorsitzenden Karl Thorwirth näher kennen. 1977 rückte er als Abgeordneter in den Landtag nach. Sein Mandat wurde bei den Landtagswahlen von 1979 und 1983 bestätigt. In seiner Arbeit im Landtag engagierte sich G. besonders in Fragen der Bundeswehrstandorte und im Fachgebiet Soziales/Gesundheit. Fünf Jahre stand er damals dem Ausschuss für Soziales und Gesundheit vor. Mit der Bundestagswahl vom Jan. 1987 wechselte G. über die Landesliste nach Bonn und errang bei den Wahlen vom Dez. 1990 mit 44,6 % das Direktmandat für den Wahlkreis Worms deutlich. Damals vertrat sein Onkel Johannes Gerster für die CDU den Wahlkreis Mainz im Bundestag.
Neben seiner politischen Tätigkeit arbeitete G. 1981-1991 auch als selbstständiger Personalberater.
G. wechselte im Mai 1991 als Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten nach Mainz. Die SPD hatte im April unter Rudolf Scharping mit 44,8 % die Landtagswahlen gewonnen und bildete mit der FDP eine Koalition. Fortan baute G. auch seine innerparteiliche Position aus, wurde Vorsitzender des Bezirks Rheinhessen und stellv. Landesvorsitzender, worin er zuletzt 2001 bestätigt wurde. Zudem trat er in den Parteirat der Bundespartei sowie das Kuratorium der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung ein.
Als Minister unter Scharping profilierte sich G. öffentlich in der Sicherheits- und Außenpolitik. So gehörte er 1990-2002 der Delegation in der Nordatlantischen Versammlung an. Bundesweit Beachtung fand er noch 1991, als er trotz Ablehnung in der SPD vorschlug, für Männer statt der Wehrpflicht eine allgemeine Dienstpflicht einzuführen, was er wegen der wachsenden Zahl von Wehrdienstverweigerern für unumgänglich hielt. Während der parteiinternen Debatten über eine deutsche Beteiligung an friedenserhaltenden Missionen der Vereinten Nationen plädierte G. 1992 dafür, im Grundgesetz nicht zwischen Landesverteidigung, NATO-Fall, UN-Blauhelm-Missionen und UN-Kampfaktionen zu unterscheiden, sondern jeden Einsatz deutscher Streitkräfte an die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zu knüpfen. In der 1992 publizierten Broschüre"EG und Konversion" setzte er sich mit Umwandlungen militärischer Brachflächen in zivile Wirtschaftsfaktoren auseinander und zeigte so gerade für heimische Gegenden mit aufgegebenen Standorten Entwicklungsperspektiven auf. Als turnusgemäßer Vorsitzender der Europaministerkonferenz der Länder (EMK) - dem entsprechenden Koordinationsgremium der Länderinteressen gegenüber dem Bund - lehnte G. 1992 ein Referendum über die Maastricht-Verträge zur Wirtschafts- und Währungsunion ab. Er befürchtete, ein solcher Entscheid könnte die anderen und wichtigeren außenpolitischen Entscheidungen seit 1949 in den Schatten stellen. Als sich 1993 mit der Wahl Scharpings zum SPD-Bundesvorsitzenden und dessen Kanzlerkandidatur ein Wechsel an der Mainzer Regierungsspitze abzeichnete, gehörte G. erst zu den Favoriten, doch einigte sich die SPD noch 1993 einmütig auf den bisherigen Fraktionschef Kurt Beck.
G. übernahm in der im Okt. 1994 nunmehr von Beck erneuerten sozial-liberalen Koalition das Ressort Arbeit, Soziales und Gesundheit. In diesem Amt bestätigte ihn Beck auch nach den Landtagswahlen vom März 1996 und März 2001, in denen die SPD mit 39,8 % und 44,7 % stärkste Partei blieb und Beck die sozial-liberalen Regierungen jeweils bestätigte. 1996 und 2001 zog G. zudem wieder in den Mainzer Landtag ein. Im Mai 2001 erhielt sein Ressort zusätzlich die Zuständigkeit für die Familienpolitik.
Seit 1994 gewann G. als Sozialpolitiker bundesweit Statur. Hierbei war er mit seinen Vorschlägen wie auch als Kritiker der Bundes-SPD parteiintern meist erst umstritten, wurde später aber als Vordenker gelobt. Mehrfach sprach er angesichts fast unlösbar scheinender Probleme von einer notwendigen"Kultur des Experiments" (WELT, 12.1.2002). Hinsichtlich des Arbeitsmarktes entwickelte sich die Situation in Rheinland-Pfalz günstiger als im Bundestrend. Nach einem Höchststand 1997 von über 9 % ging die Arbeitslosenquote bis 2001 auf 6,6 % zurück. Neben Einflüssen wie die allgemeine Entwicklung der Altersstruktur trugen hierzu auch Maßnahmen der Landesregierung zur Arbeitsmarktflexibilisierung bei. So beauftragte er auch private Vermittler für die Arbeitssuche, startete Initiativen des Landes zur Förderung hauswirtschaftlicher Beschäftigung und regte Dienstleistungsagenturen an, um so die Schwarzarbeit einzudämmen. Andererseits forderte er aber auch einen größeren Abstand zwischen Arbeitslohn und Sozialhilfe, verlangte von den Arbeitslosen mehr Initiative und empfahl eine Gleichbewertung von Sozialwie Arbeitslosenhilfe. Für 2002 bereitete G. mit dem"Mainzer Modell" die bundesweite Einführung staatlich geförderter Niedriglohnstellen wie den Kombilohn für Langzeitarbeitslose vor.
Bei Fragen zur Sicherung des Sozialstaates plädierte G. mehrfach für marktnahere Modernisierungen, wobei er auch seine eigenständige Haltung gegenüber der seit 1998 amtierenden rot-grünen Bundesregierung Gerhard Schröder (SPD) wahrte. So empfahl er, dass versicherungsfremde Leistungen der Sozialversicherung steuerfinanziert werden müssten. 1997 regte er einen dritten Mehrwertsteuersatz für Luxusgüter an und beschrieb in dem Band"Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Gewinner und Verlierer im Sozialstaat" die Sozialpolitik als Querschnittsaufgabe, die nicht zum Objekt pauschaler Sparvorschläge reduziert werden dürfe. Erforderlich sei aber ein neuer Grundkonsens, um den Sozialstaat umzubauen und auf einer ausgeprägteren Eigenverantwortung aufzubauen. G. griff auch in die Debatte um eine Reform der Alterssicherung ein. Dabei empfahl er früher als andere, den demographischen Faktor bei einer Reform des noch auf den Verhältnissen der Alterspyramide aufgebauten Systems zu berücksichtigen und auch über Leistungen der Rentner nachzudenken. Entgegen den Gewerkschaftsvorschlägen einer Rente mit 60 sprach er sich auch für eine längere Lebensarbeitszeit aus. Reformbedarf sah G. angesichts der Kostenexplosion auch in der Gesundheitspolitik. Eine dauerhaft gültige Solidargemeinschaft der Kassen sah er abhängig von einem deutlich rationalisierten Leistungsangebot für die Versicherten, dem Abbau von Mehrfachleistungen und einer besseren Vernetzung von ambulanter und stationärer Versorgung. Hierfür empfahl er eine Art Lotsenfunktion der Hausärzte und riet, die Kassen sollten festlegen können, welche Therapien sie bezahlen und mit welchen Ärzten sie zusammenarbeiten wollten.
Im Febr. 2002 nominierte die Regierung Schröder G. zum Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit (BA); Nachfolgerin in Mainz wurde Malu Dreyer. G. folgte im April auf den nicht ganz freiwillig in den einstweiligen Ruhestand tretenden Bernhard Jagoda. Der Bundesrechnungshof hatte zuvor gerügt, zwei Drittel der von der BA deklarierten Arbeitsvermittlungen seien falsch. Auch die Effizienz der teuren Arbeitsmarktpolitik sowie der Verwaltung der Arbeitslosenhilfe wurde kritisiert. Dennoch hatte Jagoda die BA auch spürbar flexibilisiert und dezentralisiert. G. nahm die Aufgabe unter der Prämisse an, die BA nicht nur umzustrukturieren, sondern auch bei Gesetzesinitiativen zur Arbeitsmarktpolitk mitwirken zu können.
An der Spitze der BA warb G. für deren grundlegende Neuausrichtung. Intern sowie in der SPD und bei den Gewerkschaften stieß er mit seinen forschen Überlegungen zu mehr Marktnähe bei den BA-Aktivitäten anfangs eher auf Zurückhaltung. Teils in den Hintergrund gedrängt sah er sich im Wahljahr 2002 durch die Regierungskommission unter VW-Vorstand Peter Hartz, der G. angehörte, die ihm aber in einigen Punkten nicht weit genug ging.
G. begann, strikter zwischen Arbeitsmarktpolitik sowie den beitragsfinanzierten Unterstützungszahlungen zu unterscheiden. 2002 gab die BA rund 24 Mrd. Euro für das Arbeitslosengeld sowie 12 Mrd. Euro für die im Anschluss daran gewährte Arbeitslosenhilfe aus. G. setzte sich, um mehr Anreize zur Arbeitssuche zu schaffen, für eine Begrenzung des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate ein. 2003 nahm die Regierung Schröder G.s Anregung auf, Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammenzufassen. Bei den Arbeitsmarktmaßnahmen, für die BA 2002 rund 14 Mrd. Euro ausgab, drängte G. auf deren Steuerfinanzierung, um die Lohnnebenkosten zu senken und so zu einem Mehr an neuen Stellen beizutragen. Er arbeitete an flexibleren und neuen Angeboten der BA, die aber - wie etwa das Mainzer Modell - kurzfristig nur wenig Linderung brachten. Wichtig erschien ihm in der Vermittlung, stärker auf Bedürfnisse der Unternehmen einzugehen, weshalb sich fortan Vermittler auf einzelne Branchen konzentrieren sollten. Als schwierig erwies sich die Einschaltung privater Vermittler, die sich bisher eher auf Zeitarbeit konzentriert hatten. Der BA-Haushalt betrug 2002 fast 57 Mrd. Euro, der Bund gewährte angesichts im Schnitt 4,3 Mio. Arbeitslosen einen Zuschuss zur Defizitdeckung von über 3,5 Mrd. Euro.
Eine umfassende Reform der BA zur Bundesagentur für Arbeit stellte G. im Juli 2003 vor. Diese sollte - bis 2005 umgesetzt - alle 181 Arbeitsämter betreffen und die Landesarbeitsämter in Regionaldirektionen umwandeln. Hierzu gehörte auch, die bisher privilegierte Position der BA-Beamten abzubauen, direkte Zielvorgaben für die Mitarbeiter einzuführen und verstärkt Online-Datenbanken für die Arbeitssuche einzusetzen. Um die Vermittlung formal zu erleichtern, folgte eine Einteilung der Arbeitslosen in drei Kundengruppen. Unterschieden wurden Hilfen zur Selbsthilfe für die nur die Stelle wechselnden"Marktkunden", Weiterbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen für"Beratungskunden" sowie Unterstützung und Zwischenlösungen über den zweiten Arbeitsmarkt wie ABM für"Integrationskunden".
Werke
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Veröffentlichungen (u. a.):"Die linke Mitte heute" (89; Hrsg.),"Armee 2000" (90; Hrsg.),"EG und Konversion" (92),"Zwischen Pazifismus und Verteidigung" (94),"Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Gewinner und Verlierer im Sozialstaat" (97),"Arbeit muss sich lohnen" (01),"Arbeit ist für alle da. Neue Wege in die Vollbeschäftigung" (03).
Familie
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G. und Ingrid Kundel heirateten 1986. Das Paar hat zwei Töchter (Susanne, Barbara). G. liebt Sport, Orgelmusik, Jazz und Opern (Wagner).
Adresse
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c/o Bundesanstalt für Arbeit, Büro des Vorstandsvorsitzenden, Regensburger Str. 104, 90478 Nürnberg, Tel.: (0911) 179-2069
© Munzinger-Archiv GmbH
Aus: Internationales Biographisches Archiv 42/2003 vom 06.10.2003
© 2003 Financial Times Deutschland
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Das schon mal für den Abgesang bzw. politischen Nachruf [img][/img]
winkäää
stocksorcerer
<ul> ~ http://www.ftd.de/db/mu/1069485170550.html?nv=se</ul>
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