Zandow
04.03.2004, 12:50 |
Dershowitz Thread gesperrt |
-->Hallo Forumsgemeinde,
gestern hat dottore das Buch „Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag“ von Alan M. Dershowitz erwähnt. Dieses Buch möchte ich, mit aller notwendigen Distanz, zur Lektüre empfehlen, denn es behandelt u.a. einen hochinteressanten Aspekt, der mir auch bei der Beschäftigung mit dem Island-Thema begegnet ist: Es ist die Umwandlung von der Verantwortlichkeit des Kollektivs (Sippenhaftung) zur Verantwortlichkeit des Einzelnen. Diese Wandlung fand während der Christianisierung ganz Europas im 10. Jahrhundert statt.
Dazu eine kurze Erläuterung am Beispiel der Vikinger und ihrer heidnischen Religion:
Der Glaube der Heiden war eine polytheistische Naturreligion. Hauptgötter waren die Familie um den Göttervater Odin herum (auffällig, wer sich hier im Forum so alles tummelt: Odin, Loki, Baldur, ELLI ;-)). Die Vielzahl der Götter und der Umstand, daß diese eine Familie waren, spiegelt die gesellschaftlichen Verhältnisse der Vikinger wider. Im Zentrum der Gesellschaft stand nicht der Einzelne, sondern die Familie bzw. Sippe. Dies ist beonders an den Sitten und Bräuchen der Vikinger gut zu erkennen: Ihr Rechtssystem bezieht sich auf die Sippe. Für Unbill machte also die betroffene Sippe die gesamte Sippe des Übertäters verantwortlich. Mit der Christianisierung, also der Einführung einer monotheistischen Religion, veränderte sich auch das Rechtssystem. Dem einen Gott und dem König (von Gottes Gnaden!) stand nun nicht mehr die Sippe oder Stamm gegenüber, sondern der Einzelne.
Der Wechsel von der Sippenhaftung zur Verantwortlichkeit des Einzelnen wurde jedoch nicht konsequent vollzogen. Die Bibel kennt eine Vielzahl von kollektiven Verantwortlichkeiten und Bestrafungen. „Die Sintflut, die Vernichtung von Sodom und Gomorra und das Massaker an der gesamten Sippe von Sichem sind.... Beispiele für die Bestrafung eines Kollektivs.“ Auch der Sündenfall stellt eine Kollektivstrafe (hier: alle Menschen) dar.
„Die Entwicklung von kollektiver Verantwortung - der Familie, der Sippe, der Stadt, der Nation, der Rasse, der Religion usw. - zu individueller Verantwortung wird im Buch Genesis dargestellt, wobei es sich keineswegs um eine geradlinige historische Entwicklung handelte, da es immer eine starke gefühlsmäßige Neigung gibt, ein Kollektiv haftbar zu machen.“ Diese Neigung, ein Kollektiv haftbar zu machen, findet seinen urwüchsigsten Ausdruck in der Blutfehde, die damals von den Vikingern und auch heute noch von einigen Volksgruppen praktiziert wird. In das Problemfeld der Sippenhaftung spielt auch das Verhältnis zu den Juden als religiöser Glaubensgemeinschaft und die „Verantwortlichkeit“, bzw. die Verantwortlichmachung, des Deutschen Volkes für die Verbrechen des WK II. Auch die Flächenbombardierungen deutscher Städte sollten in diesem Lichte gesehen werden.
Bei der Betrachtung der Rolle des Rechts stößt man unweigerlich auf denjenigen, dem das Recht dient, obwohl sich, liest man die Bibel als Gesetzestext und Anleitung zu einem gottgefälligen Leben, der eigentliche Sinn nicht sofort erschließt. Die Verantwortlichkeit des Einzelnen Gott gegenüber verschleiert die Verantwortlichkeit des Einzelnen der Macht gegenüber, welche ihren Status von Gott selbst erhielt und Recht im Namen Gottes spricht. Somit ist es nicht die Macht selbst, welche die Macht, Recht & Gesetz ausübt, sondern Gott. Das ist der Sinn des Monotheismus: Macht nicht im Namen des Königs, sondern im Namen Gottes!! Deswegen mußten die heidnischen Religionen weg.
(Die Zitate aus o.g. Buch.)
Herzliche Grüße, <font color=#008000>Zandow</font>
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nereus
04.03.2004, 14:36
@ Zandow
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Re: Dershowitz - Zandow |
-->Hallo Zandow!
Du schreibst von der Umwandlung der Verantwortung der Sippenhaft zur Einzelhaftung.
Wie meinst Du das konkret?
Bewegt man sich in die Zeiten des Ham(m)urabi (ca. 1700 Jahre vor Christus) zurück gelangt man bereits zu sehr spezifischen Gesetzestexten. Inwieweit diese wirklich angewandt wurden, lasse ich dahin gestellt. Angeblich wurden bis heute keine konkreten Urteile gefunden die eine Anwendung der Gesetzestexte bestätigen.
Ein kurzer Auszug dieser Texte spricht jedoch für ein sehr individuelles Recht bei dem sehr wohl der Einzelne haftbar gemacht werden konnte.
einige Beispiele:
- Einbruch, Raub und Plünderung
- Kultivierung von Ackerland durch Pachtbauern
- Vernachlässigung von Bewässerungsanlagen
- Widerrechtliches Überwechseln von Vieh auf Getreidefelder
- Unerlaubtes Stutzen von Bäumen
- Aufteilung von Gewinn und Verlust zwischen Partnern
- Übergabe von Dienstpersonal in Schuldhaft
- Verleumdung einer Hohenpriesterin oder einer verheirateten Frau
- Ehebruch
- Scheidung
- Vererbung des der Ehefrau von ihrem Mann geschenkten Besitzes
- Haftung der Ehegatten für Schulden
- Bestrafung der Ehefrau wegen Gattenmords - Pfählung
- Inzest
- Adoption
- Unterschiebung eines fremden Kindes durch die Amme
- Tätlicher Angriff auf eine Frau, der zu einer Fehlgeburt führt
- Tarife für das Mieten von Tieren, Wagen, Arbeitern, Handwerkern und Schiffen
- Auslösung von im Ausland gekauften Sklaven bei ihrer Rückkehr nach Babylonien
- Haftung für Schaden, der durch einen mit den Hörnern stoßenden Ochsen angerichtet wird
Das ist nur ein kleiner Extrakt und das unerlaubte Stutzen von Bäumen oder der tätliche Angriff auf eine schwangere Frau erinnert viel eher an eine ziemlich hoch entwickelte Gesetzgebung.
Es geht meistens um Schulden, Besitz oder Geld.
Dottore dürfte seine wahre Freude daran haben.
mfG
nereus
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Euklid
04.03.2004, 14:54
@ nereus
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Re: Dershowitz - Zandow |
-->Hallo nereus
du solltest aber gegenüber den damaligen Flächenbombardements den zivilen Fortschritt erkennen
Stell dir mal vor daß wir doch in Sippenhaft überleben dürfen
Welch Fortschritte die Zivilisation doch macht seit den Philistern und Phärisäern [img][/img]
Gruß EUKLID
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nereus
04.03.2004, 15:29
@ Euklid
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Re: Dershowitz - Zandow - Euklid |
-->Hallo Euklid!
Du schreibst: Beim ollen Adolf gabs noch keine Präzisionswaffen und deswegen wurde ganz präzise die Innenstadt total präzise platt gemacht.
Man konnte schon damals, auch ohne Präzisionswaffen, Industriegebiete, Wohngebiete oder militärische Anlagen halbwegs voneinander unterscheiden - wenn man es denn wollte.
Dieser ganze Bereich hat meiner Ansicht nach mit ziviler Rechtssprechung kaum noch etwas zu tun.
Auch wenn es z.B. im Kriegsfall verboten ist Krankenhäuser zu bombardieren oder Gefangene zu quälen.
Einhaltung von Rechtsvorschriften ist auch eine Frage des Charakters bzw. des Gewissens.
Das Recht ist eine Art Gartenzaun in dessem Gebiet man (die Leute) sich straffrei bewegen darf/sollte.
Kein vernünftiger Richter wird Buchstabe für Buchstabe aus den Paragraphen ziehen und dann Recht sprechen.
Jeder Fall ist individuell und ich habe manchmal das dumme Gefühl, daß viele Bürger den Sinn bzw. die Aufgaben der Justiz überhaupt noch nicht verstanden haben.
Sich in Rechtsfragen auf ein absolut neutrales Terrain zurückzuziehen, um dann wirklich Recht zu sprechen, dürfte garnicht so einfach sein.
Ich erwische mich auch ständig bei einer Parteinahme für die eine oder andere Sache.
Und schließlich sollte der gemeine Staatsbürger von einer stetig verfallenden Wertegesellschaft keine Wunder aus dem Bereich der Rechtssprechung erwarten.
Das eine hängt mit dem anderen unmittelbar zusammen.
Im Zivilrecht darf man noch ein einigermaßen faires Verfahren erwarten.
Bei politischen Prozessen sollte man deutlich weniger Erwartungen haben.
Dennoch gibt es auch hier bemerkenswerte Urteile, siehe nur die Prozesse gegen die vermeintlichen WTC-Anschlags Involvierten.
Das Zähnefletschen vom Bundesotto hat vorerst wenig genützt.
Also so kaputt, wie hier immer dargestellt, ist die marode Republik eben noch nicht.
[img][/img]
mfG
nereus
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Zandow
04.03.2004, 15:41
@ nereus
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Re: Dershowitz - Zandow |
-->Hallo nereus,
das alles ist ein extrem schwieriges Thema für mich. Daß sich der christliche Glaube innerhalb weniger Jahrzehnte in ganz Europa durchgestzt hat, bzw. gewaltsam durchgesetzt wurde, muß einen Grund gehabt haben. Da Religion immer ein Mittel zur Ausübung von Macht über andere Menschen ist, muß der Herrscher einen riesigen Vorteil vom neuen Glauben gehabt haben. dottore hat hierzu breits wichtige Hinweise gegeben (neues Inkassosystem, Zehnter usw.). Die neuen Könige, die ganze Völker, also viele Sippen und Stämme unter sich vereinten, konnten aus der alten heidnischen Religion keine Legitimation beziehen. Schnell hätten sich die alten Götter gegen sie selbst wenden können, wenn Sippem oder Stämme zum Aufstand gerufen hätten.
>Du schreibst von der Umwandlung der Verantwortung der Sippenhaft zur Einzelhaftung.
>Wie meinst Du das konkret?
Bei der Blutfehde trifft es die ganze Sippe. Rache ist angesagt, nicht nur gegen den Mörder (oder sonstigen Täter), sondern gegen all seine Angehörigen. Dieses Gemetzel kann nicht im Interesse der Herrscher sein. Der heidnische Glaube, der Streitigkeiten nicht zwischen Individuen, sondern zwischen Sippen regelt, wird durch ein Individualrecht ersetzt. Jeder einzelne (!) war Gott jetzt (Abgaben-)verpflichtet.
Kann leider i.M. noch nicht viel dazu sagen, alldieweil ich erst ganz am Anfang solcherlei Betrachtungen stehe.
>Bewegt man sich in die Zeiten des Ham(m)urabi (ca. 1700 Jahre vor Christus)..
Muß mich da noch einarbeiten, habe leider keinen blassen Schimmer davon.
>... zurück gelangt man bereits zu sehr spezifischen Gesetzestexten. Inwieweit diese wirklich angewandt wurden, lasse ich dahin gestellt. Angeblich wurden bis heute keine konkreten Urteile gefunden die eine Anwendung der Gesetzestexte bestätigen.
>Ein kurzer Auszug dieser Texte spricht jedoch für ein sehr individuelles Recht bei dem sehr wohl der Einzelne haftbar gemacht werden konnte.
>einige Beispiele:
>- Einbruch, Raub und Plünderung
>- Kultivierung von Ackerland durch Pachtbauern
>- Vernachlässigung von Bewässerungsanlagen
>- Widerrechtliches Überwechseln von Vieh auf Getreidefelder
>- Unerlaubtes Stutzen von Bäumen
>- Aufteilung von Gewinn und Verlust zwischen Partnern
>- Übergabe von Dienstpersonal in Schuldhaft
>- Verleumdung einer Hohenpriesterin oder einer verheirateten Frau
>- Ehebruch
>- Scheidung
>- Vererbung des der Ehefrau von ihrem Mann geschenkten Besitzes
>- Haftung der Ehegatten für Schulden
>- Bestrafung der Ehefrau wegen Gattenmords - Pfählung
>- Inzest
>- Adoption
>- Unterschiebung eines fremden Kindes durch die Amme
>- Tätlicher Angriff auf eine Frau, der zu einer Fehlgeburt führt
>- Tarife für das Mieten von Tieren, Wagen, Arbeitern, Handwerkern und Schiffen
>- Auslösung von im Ausland gekauften Sklaven bei ihrer Rückkehr nach Babylonien
>- Haftung für Schaden, der durch einen mit den Hörnern stoßenden Ochsen angerichtet wird
>Das ist nur ein kleiner Extrakt und das unerlaubte Stutzen von Bäumen oder der tätliche Angriff auf eine schwangere Frau erinnert viel eher an eine ziemlich hoch entwickelte Gesetzgebung.
Insgesamt muß man wohl unterschieden zwischen dem Verhältnis der Sippen zu ihrem Herrscher und dem Verhältnis der Sippen untereinander. An oberster Stelle steht immer das Verhältnis zum Herrscher. Alles andere ist dem untergeordnet!
>Es geht meistens um Schulden, Besitz oder Geld.
Yoo. Letzten Endes geht's wohl immer darum.
>Dottore dürfte seine wahre Freude daran haben. [img][/img]
Hat er bestimmt.
>Weiterhin erschließt sich mir nicht ganz die Vermengung von dem Glauben an viele Götter und Sippenhaft bzw. dem Glauben an einen Gott und einer daraus folgenden Individualhaftung.
>Auch in der Antike waren alle möglichen Gottheiten präsent, doch auch hier herrschte weitestgehend Individualrecht.
Ja, mir ist die Sache auch noch nicht so 100%ig klar. Bin noch am Hirnen dazu.
>Meinst Du das vielleicht das Kriegsrecht?
>Die Beispiele mit der Flächenbormbardierung deutscher Städte in WK II sind genauso wie die Judendeportationen keinesfalls mit dem Begriff RECHT in Verbindung zu bringen.
>Mir fällt da nur der Begriff Unrecht ein.
Natürlich war das unrecht. Nur sind Macht und Recht ein Zwillingspaar. Wer die Macht hat, der setzt das Recht. Recht ist, was der Herrscher/Mächtige als Recht setzt.
>Inwieweit die Beschreibungen in der Genesis tatsächlich stattgefunden haben, steht nun wieder auf einem ganz anderen Blatt.
Da müßten wir mal einen Experten fragen. Kenne mich damit leider zuwenig aus.
>Ich hatte vor langer Zeit mich diesbezüglich mal aus dem Fenster gehängt und die Götter als mögliche Außerirdische bzw. hochentwickelte Kultur bezeichnet welche auf wenig zivilisierte Menschen stieß.
>Allerdings steht man bei derartigen Betrachtungen immer mit einem Bein in der Klapsmühle, obwohl eine ganze Menge für derartige Überlegungen spricht.
Der Geist ist frei!
>Schlußendlich kann ich somit Deinen Gründen für die Entstehung des Monotheismus leider (noch) nicht folgen.
Tja, ich hoffe selbst auf weitere Erkenntnisse.
Danke für die Denkanstöße und Herzliche Grüße,<font color=#008000>Zandow</font>
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