-->Zwei Versionen einer Fabel
Die Grille und die Ameise
Die veraltete Version
Ein gewisser Jean de La Fontaine (1621-1695) schrieb diese Fabel, deren antihumanitäre Moral wir mit Entrüstung zurückweisen. Aus volkspädagogischen Gründen geben wir hier nicht den vollen Text des Machwerks wieder, das unverständlicherweise immer noch in Anthologien zu finden ist, sondern beschränken uns darauf, unter Bezeugung des geziemenden Abscheus, die Schlüsselstellen des Werks zu zitieren.
Die Grille musizierte
Die ganze Sommerzeit -
Und kam in Not und Leid,
Als nun der Nord regierte.
Sie hatte nicht ein Stückchen
Von Würmchen oder Mückchen,
Und Hunger klagend ging sie hin
Zur Ameis, ihrer Nachbarin,
Und bat sie voller Sorgen,
Ihr etwas Korn zu borgen.
Die Ameise, die wissen möchte, wie es zu dieser Notlage kam, fragt die Bittstellerin:
"Wie brachtest du den Sommer hin?"
Darauf antwortet die Grille wahrheitsgemäß:
"Ich habe Tag und Nacht
Mit Singen mich ergötzt."
Nun erfolgt eine herzlose und zynische Reaktion der Ameise, die wohl fürchtet, daß die musizierende Grille das gewünschte Darlehen nicht zurückzahlen könnte:
"Du hast Musik gemacht?
Wie hübsch! So tanze jetzt!"
Die moderne Version
Wir sind entsetzt über die menschenverachtende Unmoral, die aus dieser Fabel spricht. Dem Ungeist der ausbeuterischen Bourgeoisie, der hier erkennbar wird, wollen wir die Wärme und das Mitgefühl der solidarischen Volksgemeinschaft entgegenstellen. Daher haben wir die Fabel etwas umgeschrieben. Sie ist nun zwar nicht mehr in kunstvollen Versen formuliert, dafür transportiert sie aber die richtige Gesinnung, und das ist immer das Entscheidende.
Es war einmal eine Grille, die das Leben liebte und mit ihren Freunden viel Spaß hatte. Diese Grille war durchaus bereit, eine ihr gemäße Arbeit anzunehmen, aber es stellte sich heraus, daß keiner der vielen Arbeitsplätze, die ihr angeboten wurden, für sie zumutbar war. Die Arbeitsagentur bestätigte sie in dieser Auffassung. Mit Verachtung blickte die Grille auf eine ihr bekannte Ameise, die sich bedenkenlos von den Kapitalisten ausbeuten ließ, und dies für eine Hand voll Euros. Die Grille zog es vor, ihre Zeit den schönen Künsten zu widmen.
Es kam der Winter und die frierende Grille berief eine Pressekonferenz ein, in der sie zu wissen verlangte, ob es mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit vereinbar sei, daß die Ameise ein großes beheiztes Haus hat und Nahrungsvorräte im Überfluß, während andere in der Kälte litten und hungerten. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen zeigte Bilder der fröstelnden Grille und in starkem Kontrast dazu Aufnahmen der Ameise in ihrem gemütlichen Heim vor einem Tisch voller Speisen. Führende Kommentatoren der Tagespresse zeigten sich schockiert über diesen krassen Gegensatz und fragten:"Wie ist es möglich, daß in einem so reichen Land so viel Armut zugelassen wird?"
Der Fall erregte landesweite Aufmerksamkeit und bald schaltete sich NEID (Nationale Einheitsgewerkschaft der Insekten Deutschlands) ein, deren Vertreter in einer populären Talkshow darauf hinwies, daß die Grille das Opfer einer bisher schon immer latent vorhandenen Grünenfeindlichkeit geworden sei. Bekannte Persönlichkeiten der Popmusik gründeten die Initiative"Rock für Grün" und alle Welt war gerührt, als ein von der britischen Königin geadelter Popstar auf einem Konzert dieser Bewegung das eigens für diesen Anlaß komponierte Lied"It´s Not Easy Being Green" anstimmte.
Sowohl Vertreter der Regierungs- als auch der Oppositionsparteien nutzten jeden öffentlichen Auftritt, um ihre Warmherzigkeit zu zeigen, indem sie erklärten, daß sie alles in ihrer Macht stehende tun würden, um der armen Grille ihren gerechten Anteil am allgemeinen Wohlstand zu verschaffen, daß die hartherzige Ameise es lernen müsse zu teilen und daß Einkommensunterschiede immer ein Ausdruck von Ungerechtigkeit seien.
Die Bundesregierung, der von Journalisten immer wieder vorgeworfen worden war, daß sie dieses brennende Problem aussitzen wolle, zeigte ihre Handlungsfähigkeit und legte im Bundestag ein"Gesetz zur wirtschaftlichen Gleichstellung grüner Insekten" vor, das Ameisen mit einem Solidaritätszuschlag auf deren Einkommensteuer belegte. Dieser Gesetzesvorschlag wurde von allen Parteien des Bundestages angenommen. Von nun an lebten alle Mitglieder der Volksgemeinschaft in mitfühlender Geschwisterlichkeit und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch.
Die moderne Version unserer Fabel hat ein glückliches Ende: die Grille bekommt ihren gerechten Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand; die in Medienkreisen und bei Kulturschaffenden unbeliebten Ameisen müssen härter arbeiten, um ihre Sondersteuern bezahlen zu können; die Regierung hat Handlungskompetenz gezeigt; die Opposition ihr soziales Gewissen bewiesen; die Medien als vierte Regierungsgewalt konnten demonstrieren, daß sie ihr Wächteramt unparteiisch ausüben.
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