-->NZZ vom 11.9.2004:
Strategie der Eskalation
Wie wäre der internationale Terrorismus zu bekämpfen?
Die Terroristen, von denen spezifische politische Anliegen unter der Ägide der islamistischen Doktrin vorgetragen werden, scheinen zunehmend auf die mediale Macht des Schocks zu setzen und vor keiner Inhumanität mehr zurückzuschrecken. Ist die häufig propagierte Politik der Repression die einzige Antwort?
Das Einzige, was an den Terrorakten muslimischer Extremisten noch überrascht, ist der Umstand, dass ihr Schrecken von Mal zu Mal noch zu steigern ist. Schien es nicht, dass der letzte der modernen Zivilisation verbliebene Skrupel - nämlich das Töten weder zeigen noch sehen zu wollen - auf denkbar offenste Weise verletzt worden war, als irakische Geiselnehmer den Amerikaner Nick Berg vor laufender Kamera enthaupteten? Es gibt noch weitere Skrupel, wie die Welt entsetzt bemerkt, und man kann sie noch offener verletzen: durch die gezielte, hundertfache Opferung von Kindern. Vermutlich gehört es zur Logik des zeitgenössischen Terrorismus, sich selbst zu übertreffen; nur auf diese Weise können die Attentäter die Macht der Gewöhnung jedes Mal neu brechen und verhindern, dass die internationale Ã-ffentlichkeit sie in ihren Nachrichten auf die hinteren Plätze abdrängt. Nicht nur, dass man sich nicht ausmalen mag, was als Nächstes kommt, um die weltweite Ansetzung von Sondersendungen zu gewährleisten - man kann es sich auch kaum ausmalen, hat die Brutalität doch längst einen Grad erreicht, den zumindest die behüteten Nachkriegsgenerationen im Westen für unvorstellbar oder zumindest ins Gebiet der reinen Fiktion gehörig hielten.
Der Terror scheint derzeit desperat gegen seine eigene Ritualisierung anzukämpfen, droht doch die Steigerung seiner Tabubrüche selbst zum Ritual zu werden. Alles andere bleibt sich längst gleich. Wo auch immer ein Anschlag gegen wen auch immer verübt worden ist: Austauschbar wirken die Bilder von Sanitätern und Absperrungen, von davonrasenden Krankenwagen und zurückbleibenden Angehörigen, von Politikern, die sich an Krankenbetten mitfühlend zeigen und in Pressekonferenzen martialisch. Bis in den Wortlaut identisch sind die Sätze, mit denen Staatsvertreter auf die Ermordung ihrer Bürger reagieren, in Israel, in den Vereinigten Staaten, zuletzt im Irak, nun wieder in Russland.
Bedrohte Werte der Zivilisation
Indem die Politiker dazu neigen, von allen regionalen Unterschieden abzusehen und reflexartig nach jedem Anschlag das Stichwort des internationalen Terrorismus zu beschwören, der immer noch unerbittlicher zu bekämpfen sei, tun sie freilich den jeweiligen Attentätern den Gefallen, sie auf die eigene Augenhöhe zu stellen, sie zum Gegner in einem dritten Weltkrieg zu stilisieren, der längst begonnen habe. Noch schlimmer aber ist: Im Krieg gegen den Terrorismus droht das Antlitz der eigenen Zivilisation so hässlich zu werden, dass es bald schon der Fratze ähneln könnte, welche die Terroristen vom Feind zeichnen. Auch tolerante und friedensbereite Intellektuelle in vom Terrorismus betroffenen Ländern sind nicht mehr ohne weiteres ansprechbar, wenn sie von aussen zur Behutsamkeit und zur politischen Vernunft gemahnt werden: Ihr könnt nicht nachvollziehen, antworten sie dann, wie es ist, wenn einem zerfetzte Gliedmassen um die Ohren fliegen. - Ihr sollt nachvollziehen, wie es ist, wenn die eigenen Kinder ermordet werden, rief wiederum ein Terrorist in Beslan einer Geisel zu, die fragte, weshalb ausgerechnet eine Schule als Ziel des Übergriffs ausgewählt wurde.
Von Gipfeltreffen zu Gipfeltreffen, von Anschlag zu Anschlag wird der internationale Terrorismus mit immer weiter reichenden Gegenmassnahmen bekämpft. Auch dabei fallen die Tabus: Was in Europa sich bis an jetzt auf neue Gesetze, Kulturkämpfe gegen den Islam und einfache Freund-Feind-Schemata beschränkt, äussert sich andernorts längst in Folter, Vertreibung und offener Rechtlosigkeit. Wenn aber die Koalitionäre gegen den internationalen Terrorismus sich darauf beschränken, auf jeden Anschlag mit noch mehr Gesetzen und Weltkriegsrhetorik, Drohgesten und Abgrenzungen zu reagieren, drohen sie sich ihrerseits den Tabubrüchen der Terroristen spiegelbildlich anzunähern.
Wer die Dialektik der Eskalation in Frage stellt und auf Ursachen der Gewalt hinweist, wird zum Komplizen des Terrors erklärt, wer von politischen Verhandlungen, gar von friedlichen Lösungen spricht, zum naiven Tropf. «Achtung vor der Verständnisfalle!», davor warnt selbst die Wochenzeitung «Die Zeit» ihre Leser auf der Titelseite. Mit Terroristen könne man nicht verhandeln, so heisst es, der Terrorismus verstehe nichts als die Sprache der Härte. Könnte es nicht sein, dass gerade dies der Fehler der Terrorbekämpfung ist: eine Sprache zu sprechen, die Terroristen verstehen? Womöglich treten die Koalitionäre eben dadurch erst mit den Terroristen in eine Kommunikation, die neue Antworten geradezu herausfordert. Jedenfalls wäre es Zeit, im Krieg gegen den Terror eine Bilanz zu ziehen, bevor noch mehr zivile Opfer, noch grössere Desorientiertheit und Verhärtung in den betroffenen Ländern und Kulturen noch mehr Terroristen produzieren.
Rückkehr zur Politik
Gegen die Ausweitung polizeilicher und geheimdienstlicher Aktivitäten, die konkret geeignet erscheinen, möglichen Attentätern auf die Spur zu kommen, ist schwerlich etwas einzuwenden. Jede vereitelte Gewalttat legitimiert aufs Neue staatliches Eingreifen bis an die Grenzen des rechtsstaatlich Vertretbaren. Doch werden einzelne Erfolge der Terrorbekämpfung Makulatur bleiben, solange Staaten sich dazu verleiten lassen, die Sprache von Terroristen zu sprechen. Dauerhafter Erfolg wird dem Kampf gegen den Terror erst dann beschieden sein können, wenn er zurückkehrt zu dem, was Terroristen nicht beherrschen: zur Politik. Gewiss kann man Leute, die bereits zum Massenmord entschlossen sind, nicht zu politischen Partnern aufwerten. Aber man kann versuchen zu verhindern, dass auf jeden gefassten oder getöteten Terroristen Hunderte neuer Rekruten kommen.
Es gibt kein Beispiel, dass es in jüngerer Zeit gelungen wäre, den Terror einzig mit immer härteren Gegenmassnahmen nachhaltig einzudämmen - nicht in Israel, nicht in Tschetschenien, nicht im Irak oder in Kaschmir. Hingegen sind Zahl und Ausmass der Gewaltakte stets dann ungleich geringer gewesen, als eine politische Lösung jedenfalls nicht mehr ausgeschlossen schien: während des Friedensprozesses im Nahen Osten oder der Pendeldiplomatie von Indern und Pakistanern um Kaschmir, seit dem Abzug der Israeli aus Libanon oder zwischen den beiden Tschetschenien-Kriegen Russlands; oder, um noch zwei von vielen unscheinbaren Beispielen zu nennen, in der indonesischen Region Aceh wie im tadschikischen Bürgerkrieg. Man muss nicht mit Terroristen verhandeln. Aber man sollte auch nicht mit Verhandlungen warten, solange es Terroristen gibt. Vor allem aber sollte man nicht, wie die russische Regierung, alles dafür tun, dass aus möglichen Verhandlungspartnern irgendwann Terroristen werden.
Erst jüngst hat der schiitische Grossayatollah as-Sistani den waffenstarrenden Amerikanern und der verblüfften Weltöffentlichkeit vorgeführt, wie eine umkämpfte Stadt wie Najaf gewaltlos zu befrieden ist. Das Beispiel mag zu speziell sein, um auf andere Schauplätze des Terrors übertragen zu werden. Aber das Prinzip, das as-Sistani eingeführt hat in die Auseinandersetzung zwischen faktischen Besatzern und sogenannten Widerstandskämpfern, ist realpolitisch erfolgreicher als die Realpolitik der Terrorbekämpfung. Es ist das Prinzip, am Primat der Politik auch dann festzuhalten, wenn er von den jeweiligen Gegnern missachtet wird. So grotesk ist der bisherige Krieg gegen den Terror gescheitert, dass es auf einen Versuch ankäme, ernst zu machen mit dem Frieden. Nichts könnte Terroristen mehr überraschen.
Navid Kermani
Navid Kermani lebt als Schriftsteller in Köln und hat zuletzt den Erzählband «Vierzig Leben» (Ammann) veröffentlicht. Er ist promovierter Islamwissenschafter und hat sich in Buchpublikationen auch mit der Märtyrerideologie islamischer Terroristen und der zeitgenössischen muslimischen Lebenswelt befasst.
|