-->Donnerstag, 07. Oktober 2004
Herr Barbarossa! Zum EEG bitte!
Der Historiker Johannes Fried geht unter die Hirnforscher, um den"Schleier der Erinnerung" zu lüften
H. D. Kittsteiner
Mittelalterhistoriker wie der renommierte Frankfurter Professor Johannes Fried haben ein Problem: anders als die Neuzeitler sind sie weitgehend auf erzählende Quellen angewiesen, auf Annalen und Chroniken. Die aber sind auf besondere Weise unzuverlässig. Könnte man nicht, so fragt Fried, die Einsichten der Neurobiologie, der Gehirn- und Gedächtnisforschung für eine verfeinerte Quellenkritik nutzen? Denn auch das Gedächtnis ist unzuverlässig.
Und so beginnt sein Buch mit einer Kritik des Gedächtnisses: Der Präsidentenberater John Dean mit seinen Aussagen zum Watergate-Skandal erinnert sich scheinbar präzise, bringt aber zugleich Fantasieprodukte zu Protokoll. Die Physiker Niels Bohr und Werner Heisenberg können sich in ihren Erinnerungen nicht einmal auf den Ort einigen, an dem sie ihr Gespräch über die Möglichkeit einer Atombombe im Dritten Reich geführt haben. Der Philosoph Karl Löwith berichtet von einem intensiv miterlebten Vortrag Max Webers, der zu ganz anderer Zeit stattgefunden hatte. Haben sie bewusst gelogen? Nein. Das Gedächtnis zeichnet nicht"getreu" auf, sondern es ist ein kommunikativer Akt. In das, was es als"Vergangenheit" zu Tage fördert, gehen die Umstände des gegenwärtigen Wieder-Erinnerns ebenso mit ein wie die interne Bewertung der Vorgänge. Auf genau diese Punkte verweist die moderne Hirnforschung, die Neurobiologie. Sie hat sich von ihrer früheren Auffassung eines ein für allemal in den Synapsen eingeschriebenen"Engramms" längst verabschiedet.
Johannes Fried hat sich hauptsächlich auf zwei Forscher gestützt: auf Gerhard Roth und Wolf Singer. Eine von Roths Thesen lautet:"Wir nehmen stets durch die,Brille' unseres Gedächtnisses wahr; denn das, was wir wahrnehmen, ist durch frühere Wahrnehmungen entscheidend mitbestimmt." Singer - der den Historikertag 2000 mit einem Vortrag"Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft" eröffnete - hat über den Zusammenhang von Gehirn und Umwelt geforscht: Das Gehirn ist noch lange Zeit plastisch, seine neuronalen Netze treten in eine Auseinandersetzung mit der Umwelt ein. Und vor allem: Sowohl Wahrnehmung als Erinnerung sind konstruktive Akte mit beträchtlichen Spielräumen.
Diese Einsichten will Johannes Fried sich zu Nutze machen. Ein durchgängiger Begriff seines Buchs ist die"Erinnerungsmodulation". Erinnerungen stehen nie still, sie werden von Wiederholung zu Wiederholung neu geschaffen. Es gibt sogar"implantierte Erinnerungen", bei denen von außen in das Gedächtnis hineingeredet wird, so wie sich Kinder bisweilen an etwas"erinnern", das sie doch nur aus Erzählungen der Erwachsenen gehört haben können. Fried arbeitet mit einer Analogie: So wie das Gedächtnis ein sich selbst nicht bewusstes Konstrukt von"Erinnerung" liefert, so hätten auch die Geschichtsschreiber des Mittelalters nicht bewusst die Unwahrheit gesagt, sondern sich nur moduliert erinnert. Diesen Gedanken vermisst er in den älteren Historiken und Quellenkunden.
Doch was Fried dann an Beispielen zu Tage fördert, wie etwa den von Legenden umrankten Sieg Venedigs über Kaiser Barbarossa - sind das wirklich unbewusste Erinnerungskonstrukte im Sinne von Roth und Singer? Oder sind es bloß mit den jeweiligen historischen Horizonten und kulturellen Symbolen der Gewährsleute überformte Darstellungen? Dass Papst Alexander III. dem Rotbart den Fuß auf den Nacken gesetzt haben soll, darüber hat sich Jahrhunderte später noch Luther erregt. Doch hat das Ereignis überhaupt stattgefunden? Oder der Fußfall des Kaisers vor seinem Vasallen Heinrich dem Löwen zu Chiavenna? Hier war doch auch die gute alte Quellenkritik schon skeptisch gewesen. In Frage steht: waren da"Implantate" einer modulierenden kulturellen Erinnerung am Werk, oder bewusst tendenziöse Darstellungen? Und wie lässt sich der eine Einfluss vom anderen unterscheiden?
Fried springt oft unvermittelt von der neurobiologischen Begrifflichkeit des individuellen Gedächtnisses zum kulturellen Gedächtnis über, das, wie der Ägyptologe Jan Assmann gezeigt hat, anderen Regeln folgt und eine Kanonbildung der Identität anstrebt. Dass auch das individuelle Gedächtnis einen kollektiven Rahmen für sein Erinnern braucht, das hat schon Maurice Halbwachs dargelegt, und Fried weiß das natürlich. Zerbrechen die kollektiven Rahmen, verändern sich auch die Einschreibungen im individuellen Gedächtnis. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts liefert dafür die schönsten Belege. Wenn wieder einmal der Rahmen sich verändert - 1918-1933-1945-1989 -, werden die inneren Lebensläufe"umgeschrieben".
So etwas festzuhalten ist wichtig. Aber ging nicht auch der jeweilige politische und soziale Horizont als"Sehepunkt" bewusst mit in die Erinnerung ein, wie es der Hermeneutiker Chladenius schon im 18. Jahrhundert beschrieben hat? Historiker sind sich methodisch selten bewusst, dass ihr Gegenstand gar nicht die"Vergangenheit" schlechthin ist, sondern die vergangene Zukunft einer Vergangenheit. So wie der Geschichtsschreiber in seiner Gegenwart auf seinen künftigen Handlungsspielraum hin denkt, so muss er es auch für erzählende Quellen aus der Vergangenheit voraussetzen. Es wird nicht einfach etwas berichtet, es wird und wurde auch etwas gewollt.
Es gibt keine von der Gegenwart losgelöste Vergangenheit, sondern alle Vergangenheiten sind Konstrukte....
Wegen Ellis cut geht es hier weiter http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/serie_buch/383928.html
J
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