-->Montag, 06. Dezember 2004
GROSSBRITANNIEN - Kältetod im Wirtschaftsboom
Sabine Rennefanz
LONDON, 5. Dezember. Rechts hängen schwere Samtvorhänge, in der Mitte sieht man einen länglichen Kasten aus hellem Holz. Es ist ein Sarg. Darüber steht:"Endlich warm." Und im Kleingedruckten des Plakates liest man:"21 500 ältere Menschen erfroren im vergangenen Jahr."
Das drastische Poster ist Teil einer Kampagne der englischen Rentner-Wohltätigkeitsorganisation Help the Aged, um auf ein Problem aufmerksam zu machen, das dieser Tage viele Briten beschäftigt.
Nirgendwo in Westeuropa sterben jedes Jahr zwischen Dezember und März so viele alte Leute an den Folgen der Kälte wie in Großbritannien, dem Land, das stolz auf seine boomende Wirtschaft verweist. Weil die Wohnungen zu schlecht geheizt sind, Bewegung im Winter schwieriger wird, bekommen sie eher Herzinfarkte und Lungenentzündungen, Bronchitis und Schlaganfälle."Es ist eine nationale Schande", sagt Paul Cann, Direktor von Help the Aged.
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Als der Schatzkanzler Gordon Brown in dieser Woche den vorläufigen Haushaltsplan für 2005 vorstellte, sprach er stolz davon, dass Großbritannien die am längsten dauernde Periode von Wirtschaftswachstum erlebe. Derart gut gelaunt, hatte er auch ein Vorwahlgeschenk für Wähler im Rentenalter: Er versprach, dass die so genannte Brennstoff-Beihilfe, die von der Regierung an ältere Menschen gezahlt wird, um fünfzig Pfund erhöht wird.
Derzeit erhalten 60- bis 79-Jährige pro Haushalt umgerechnet 290 Euro Beihilfe, über 80-Jährige bekommen 435 Euro. Die Erhöhung ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Mervyn Kohler von Help the Aged."Die Rentner haben das Gefühl, vom Wirtschaftswachstum nicht zu profitieren - und während die Nation immer reicher wird, werden sie immer ärmer." Ein Fünftel aller alten Leute in Großbritannien - zwei Millionen Menschen - lebt unter der Armutsgrenze. Sie erhalten 116 Euro Staatsrente pro Woche, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Laut Familienministerium braucht eine Einzelperson mindestens 182 Euro pro Woche, um Essen, Transport, Medikamente und Miete bezahlen zu können. Viele scheinen am Brennstoff zu sparen: Eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in London beheizen zu können, kostet rund 58 Euro im Monat.
Doch auch wenn man das Geld ausgibt, ist nicht sicher, ob die Wohnung wirklich warm wird. Vierzig Prozent des Baubestands auf der Insel stammt aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Viele Wohnungen besitzen nicht einmal eine Zentralheizung. Und selbst wenn man eine hat, verzieht die Wärme durch Fenster und Türen. Dämmstoffe und Isolierung werden weithin als unnötig angesehen, doppelglasige Fenster sind ungefähr so häufig wie meterhoher Schnee in London.
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http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/politik/401396.html
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