Cujo
22.11.2005, 19:12 |
Panik als Lebensform Thread gesperrt |
-->DER SPIEGEL 47/2005 - 21. November 2005
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,385895,00.html
Philosophen
Panik als Lebensform
Von Romain Leick
Für den Kulturkritiker Paul Virilio sind die Tumulte in den französischen Vorstädten ein Fanal des kommenden großen Knalls in den Metropolen der Welt.
Wer den scharfsinnigsten Kritiker des modernen Geschwindigkeits-Zeitalters aufsuchen will, nimmt am besten den Hochgeschwindigkeitszug, der in drei Stunden Paris mit La Rochelle verbindet. Dort stolpert er in die Verlangsamung der Provinz. In der Bahnhofshalle der alten Protestantenstadt am Atlantik wartet ein kleiner, älterer Herr mit einer dunkelblauen Schiffermütze auf dem kahlen Kopf.
Als wäre er ein Fahrer, der einen prominenten Gast abholen soll, hält er ein Pappschild vor den Bauch, auf dem mit schwarzem Filzstift ein Name geschrieben steht. Sein eigener, nicht der des Besuchers: Virilio.
Katastrophenbeschwörer Virilio: Blick aufs Haupt der Medusa
AFP
Katastrophenbeschwörer Virilio: Blick aufs Haupt der Medusa
Professor Paul Virilio, 73, Philosoph, Urbanist und Kulturtheoretiker, Begründer der"Dromologie" (Wissenschaft der Geschwindigkeit, von griechisch"Dromos" für Rennbahn), die er seit 30 Jahren als verhängnisvollstes Phänomen des 20. Jahrhunderts studiert. Vor vier Jahren hat er sich nach La Rochelle zurückgezogen, wo das Leben beschaulicher verläuft. Besinnung braucht Zeit, während die Geschwindigkeit den Raum vernichtet und die Zeit verdichtet - ein sicherer Weg in die Katastrophe.
Wie ein Tsunami-Warnsystem registriert Virilio die Vorboten des großen Bebens, der"integralen Katastrophe", die er als Kehrseite des Fortschritts für unvermeidlich hält. Das letzte Grollen, das den kommenden Unfall ankündigt, erreichte La Rochelle nur am Rande, wie die Ausläufer einer mächtigen Dünung: die Jugendunruhen der vergangenen Wochen in den französischen Vorstädten.
Virilio schlägt vor, in die Mediathek zu gehen, einen modernen Glasbau an der Esplanade François Mitterrand. Der Forscher, nun Pensionär, kann das Forschen nicht lassen. Er breitet in der winzigen Lesekabine mehrfarbige Notizzettel aus, deren Gliederung so kompliziert scheint wie das elliptische Denken ihres Verfassers. Das Seminar beginnt.
Die gängigen Ursachen der Krawalle - Armut, Arbeitslosigkeit, fehlgeschlagene Integration, islamischer Fundamentalismus, unbehausbare Mietskasernen - interessieren den Katastrophendenker nur mäßig: Das sei ja alles richtig, aber seit Jahrzehnten bekannt! Virilio, Sohn eines italienischen Kommunisten, der vor Mussolini nach Frankreich floh, ist selbst arm in der Banlieue von Saint-Denis bei Paris aufgewachsen, dort, wo die Unruhen ihren Anfang nahmen und die Autos brannten. Er gehörte als Wissenschaftler dem"Hohen Ausschuss für Wohnraum für benachteiligte Menschen" an und leitete bis zur Emeritierung die Pariser"École Spéciale d'Architecture".
Wohntürme hält Virilio für"vertikale Sackgassen". Er mag Hochhäuser, von denen alle bekannten Architekten träumen, so wenig wie Mohammed Atta, Kopf der Attentäter auf das World Trade Center vom 11. September 2001, der in den Wolkenkratzern moderne Zwingtürme sah. Die äußerst heftige Kritik an der trostlosen Architektur der französischen Vorstädte führt jetzt zu einer systematischen Zerstörung der gewaltigen Wohnriegel und Türme im Großraum Paris - ein symbolischer Selbstmord des kollektiven Lebens in der Kosmopolis.
>> weiter
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,385895,00.html
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certina
22.11.2005, 19:33
@ Cujo
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Re: Panik als....in den Rhein springen oder sich erhängen ist rationeller.... |
-->hi,
...und ist auch konfortabler!
Warum erst wieder so ein Brembramborium?
Wenn man nicht inzwischen allzu genau wuesste, dass selbst jeder weltweit angesehene Philososoph auch täglich essen und trinken, schlafen und aufs Klo muesste, koennte man selbst in Grübeleien versinken...
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alberich
22.11.2005, 19:36
@ Cujo
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Der Spruch des Tages:"Vive la vie!" |
-->"Vive la vie!"
Ein Optimist sei, wer hinter jeder Katastrophe eine Chance erkennt. Das stamme von Winston Churchill.
"Ist der Spruch nicht schön?", sagt Virilio, der Unglücksprophet, und lacht.
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sensortimecom
22.11.2005, 21:56
@ Cujo
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Der Mann hat ziemlich gut durchschaut, was läuft. |
-->Um aber VOLL zu verstehen, wie es lang geht, sollte er meine HP durchlesen, wo ich über unumkehrbare Erschöpfungstendenzen der (monopolisierbaren) Kreativität schreibe... (www.sensortime.com)
Außerdem:
Was nutzt es eigentlich, den Millionen Arbeitslosen und Hoffnungslosen um viel Geld kurzfristig neue Wohnungen, teure Ausbildungen und subventionierte Arbeitsplätze bereitzustellen, wenn die Pro-Kopf-Verschuldung dank des debitistischen Wirtschaftssystems immer weiter ansteigt - und er (samt seinen Kindern und Enkeln) nachher NOCH SCHLIMMER DASTEHT als Jahre zuvor?
Wie Paul Vililio richtig feststellt: Ohne Eschatologie (manche sagen auch"Armageddon" dazu) geht es nicht ab. Zuerst muss der gesamte Sauhaufen hoch gehen, dann erst kann was Neues, Besseres, kommen. Leider, beim besten Willen, aber die Zeit für die Politiker ist abgelaufen. Sie sind Versager, Looser. In der nachfolgenden post-politischen Ära werden wir MENSCHEN mit Herz und Hirn anstelle von Politikern brauchen.
Erich B.
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Cujo
23.11.2005, 00:44
@ sensortimecom
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Re: Der Mann hat ziemlich gut durchschaut, was läuft. |
-->>Um aber VOLL zu verstehen, wie es lang geht, sollte er meine HP durchlesen, wo ich über unumkehrbare Erschöpfungstendenzen der (monopolisierbaren) Kreativität schreibe... (www.sensortime.com)
>Außerdem:
>Was nutzt es eigentlich, den Millionen Arbeitslosen und Hoffnungslosen um viel Geld kurzfristig neue Wohnungen, teure Ausbildungen und subventionierte Arbeitsplätze bereitzustellen, wenn die Pro-Kopf-Verschuldung dank des debitistischen Wirtschaftssystems immer weiter ansteigt - und er (samt seinen Kindern und Enkeln) nachher NOCH SCHLIMMER DASTEHT als Jahre zuvor?
>Wie Paul Vililio richtig feststellt: Ohne Eschatologie (manche sagen auch"Armageddon" dazu) geht es nicht ab. Zuerst muss der gesamte Sauhaufen hoch gehen, dann erst kann was Neues, Besseres, kommen. Leider, beim besten Willen, aber die Zeit für die Politiker ist abgelaufen. Sie sind Versager, Looser. In der nachfolgenden post-politischen Ära werden wir MENSCHEN mit Herz und Hirn anstelle von Politikern brauchen.
>Erich B.
Moin,
das"Danach" bzw. Eschatologie wird m.M. wie bei den autopoietischen Systemen Luhmanns vom Menschen bestimmt bzw. selbst konstruiert und erzeugt. Die"Erschöpfungstendenzen" werden beispielsweise von Baudrillard und Virillo auf exzellente Weise nachbuchstabiert. Ich kann dazu das Buch"Paroxysmus" empfehlen. Es zeigt auf wie das (autopoietische) System an die Wand fährt. Hier ein Auszug:
-----
Baudrillard in seinen Antworten einen düsteren, der Krise verpflichteten Ton an. Es sei «unsere Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen», im Schwinden begriffen, was sich erstmals deutlich nach dem Ende des Kommunismus gezeigt habe. Statt einen Neuimpuls zu erhalten, sei die menschliche «Geschichte» stagniert und in Auslegeordnungen stecken geblieben, die schon einmal da gewesen seien. Der Kommunismus und sein Niedergang hätten nicht zu einer Neubelebung des Politischen oder des Utopischen geführt, sondern, im Gegenteil, «zum Ausverkauf des Sozialen, der Politik als Idee, als Wert, als Utopie im Desaster der verwirklichten Utopie». Baudrillards illusionslose Berichterstattung von den Fronten des aktuellen Seins springt von der Weltpolitik zur Medienkritik, von der Geschichtsphilosophie zur Globalisierung, nicht ohne auch die Grunderrungenschaften der abendländischen Kultur, etwa die Demokratie, als vom Scheitern affiziert darzustellen. Überhaupt befinde sich die Welt in einem «Paroxysmus», in einem pathologischen Zustand, kurz vor dem Ende. Da ist der im mittleren Teil geäusserte Befund, «die Geschichte schafft es nicht mehr, über sich hinauszugehen», fast ein Wort des Trostes.
Gruß
Cujo
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Cujo
23.11.2005, 01:04
@ alberich
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Re: Der Spruch des Tages:"Vive la vie!" |
-->>"Vive la vie!"
>Ein Optimist sei, wer hinter jeder Katastrophe eine Chance erkennt. Das stamme von Winston Churchill.
>"Ist der Spruch nicht schön?", sagt Virilio, der Unglücksprophet, und lacht.
--------------
Ich habe auch nie verstanden, warum die"Pessimisten" und"Apokalyptiker" als morbide, destruktiv etc. bezeichnet werden. Im Gegensatz zum"Optimisten", der immer wieder negativ"erwischt" wird, werden die Pessimisten jeden Tag positiv überrascht. *g*
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CRASH_GURU
23.11.2005, 06:01
@ Cujo
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Re: Der Mann hat ziemlich gut durchschaut, was läuft. |
-->>>Um aber VOLL zu verstehen, wie es lang geht, sollte er meine HP durchlesen, wo ich über unumkehrbare Erschöpfungstendenzen der (monopolisierbaren) Kreativität schreibe... (www.sensortime.com)
>>Außerdem:
>>Was nutzt es eigentlich, den Millionen Arbeitslosen und Hoffnungslosen um viel Geld kurzfristig neue Wohnungen, teure Ausbildungen und subventionierte Arbeitsplätze bereitzustellen, wenn die Pro-Kopf-Verschuldung dank des debitistischen Wirtschaftssystems immer weiter ansteigt - und er (samt seinen Kindern und Enkeln) nachher NOCH SCHLIMMER DASTEHT als Jahre zuvor?
>>Wie Paul Vililio richtig feststellt: Ohne Eschatologie (manche sagen auch"Armageddon" dazu) geht es nicht ab. Zuerst muss der gesamte Sauhaufen hoch gehen, dann erst kann was Neues, Besseres, kommen. Leider, beim besten Willen, aber die Zeit für die Politiker ist abgelaufen. Sie sind Versager, Looser. In der nachfolgenden post-politischen Ära werden wir MENSCHEN mit Herz und Hirn anstelle von Politikern brauchen.
>>Erich B.
>Moin,
>das"Danach" bzw. Eschatologie wird m.M. wie bei den autopoietischen Systemen Luhmanns vom Menschen bestimmt bzw. selbst konstruiert und erzeugt. Die"Erschöpfungstendenzen" werden beispielsweise von Baudrillard und Virillo auf exzellente Weise nachbuchstabiert. Ich kann dazu das Buch"Paroxysmus" empfehlen. Es zeigt auf wie das (autopoietische) System an die Wand fährt. Hier ein Auszug:
>-----
>Baudrillard in seinen Antworten einen düsteren, der Krise verpflichteten Ton an. Es sei «unsere Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen», im Schwinden begriffen, was sich erstmals deutlich nach dem Ende des Kommunismus gezeigt habe. Statt einen Neuimpuls zu erhalten, sei die menschliche «Geschichte» stagniert und in Auslegeordnungen stecken geblieben, die schon einmal da gewesen seien. Der Kommunismus und sein Niedergang hätten nicht zu einer Neubelebung des Politischen oder des Utopischen geführt, sondern, im Gegenteil, «zum Ausverkauf des Sozialen, der Politik als Idee, als Wert, als Utopie im Desaster der verwirklichten Utopie». Baudrillards illusionslose Berichterstattung von den Fronten des aktuellen Seins springt von der Weltpolitik zur Medienkritik, von der Geschichtsphilosophie zur Globalisierung, nicht ohne auch die Grunderrungenschaften der abendländischen Kultur, etwa die Demokratie, als vom Scheitern affiziert darzustellen. Überhaupt befinde sich die Welt in einem «Paroxysmus», in einem pathologischen Zustand, kurz vor dem Ende. Da ist der im mittleren Teil geäusserte Befund, «die Geschichte schafft es nicht mehr, über sich hinauszugehen», fast ein Wort des Trostes.
>
>Gruß
>Cujo
Hi,
das Ende der Welt wurde schon vor Tausend Jahren beschworen.
Das ganze intellektuelle Geschwafel lässt sich auf einen einfachen Satz reduzieren:
"Der (moderne) Staat ist die große Fiktion, nach der sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben."
Frédéric Bastiat
und ausserdem
"Our human race is affected with a chronic underestimation of the possibility of the future straying from the course initially envisioned."
Nassim Taleb
Gruss
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Stephan
23.11.2005, 08:24
@ CRASH_GURU
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Re: Der Mann hat ziemlich gut durchschaut, was läuft. |
-->>Das ganze intellektuelle Geschwafel lässt sich auf einen einfachen Satz reduzieren:
>"Der (moderne) Staat ist die große Fiktion, nach der sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben."
>Frédéric Bastiat
>und ausserdem
>"Our human race is affected with a chronic underestimation of the possibility of the future straying from the course initially envisioned."
>Nassim Taleb
>Gruss
>
Moin,
Enzym zu sein ist nicht schwer...weil der gute Leo noch nicht im Archiv ist ;-), hier ein nicht von allen geteilter Ansatz für die Zeit danach...
<ul> ~ Post-optimale Gesellschaften</ul>
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sensortimecom
23.11.2005, 08:58
@ Cujo
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Cujo: Danke für die Literaturhinweise! |
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CRASH_GURU
23.11.2005, 13:33
@ Stephan
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Re: Der Mann hat ziemlich gut durchschaut, was läuft. - bin Kohr Fan -:) (o.Text) |
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