Aus der FTD vom 12.3.2001
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Neuer Markt: Ende einer hausgemachten Euphorie
Von Christoph Keese, Wolfgang Münchau, Ina Bauer und Tim Bartz
Der Neue Markt wird vier Jahre alt. Aus diesem Anlass veröffentlicht die FTD eine
Serie über Aufstieg und Fall des Wachstumssegments. Teil 1 der neuen Serie.
Als der Frankfurter Insolvenzverwalter Dirk Pfeil erstmals die Telekommunikations-Firma
Gigabell betrat, fragte er nach den Buchhaltungs-Computern. Das am Neuen Markt notierte
Unternehmen hatte gerade Zahlungsunfähigkeit angemeldet. Die Angestellten verwiesen Pfeil
auf einen Rechner - doch auf dem war die Software nicht installiert. Die stand unausgepackt im
Schrank. Im ganzen Unternehmen war kein Computer mit ordnungsgemäßer Buchführung zu
finden.
Der verwunderte Pfeil wollte daraufhin die Rechnungen sehen, die angeblich von Schuldnern
nicht bezahlt waren und die als hohe Forderungen in den Büchern standen. Wieder Fehlanzeige:
Einen Sammelordner gab es nicht, die Angestellten zogen nur vereinzelte Blätter aus den
Schubladen - sie wussten schlicht nicht, wer ihnen wie viel Geld schuldete. Spätestens da wurde
Pfeil klar, dass mit dem Neuen Markt etwas nicht stimmt:"Ich dachte, das sind alles
Hightech-Unternehmen, die ein schwieriges Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen. Und
dann finde ich eine Firma, bei der nicht einmal die Buchhaltung läuft."
Vor vier Jahren, am 10. März 1997, startete in Frankfurt der Neue Markt, und vor genau einem
Jahr erreichte er seinen Höhepunkt: Auf 9604,46 Punkte kletterte der Nemax 50 damals. Dann
endete die Euphorie in einem Hagel schlechter Nachrichten - es ging bergab. Innerhalb von
zwölf Monaten büßte der Index 81 Prozent seines Wertes ein. Manche Investoren konnten noch
rechtzeitig aussteigen, doch die meisten verloren viel Geld - auf dem Papier, weil sie ausharrten
und jetzt auf fast wertlosen Aktien sitzen, oder real, weil sie ihre Verluste realisierten.
Geldvernichtungsmaschine Neuer Markt
Der Crash des Neuen Marktes hat so viel Geld vernichtet wie kein anderes Börsenereignis der
deutschen Nachkriegsgeschichte. Vor einem Jahr steckten 234 Mrd. Euro Kapital in dem
Segment. Heute sind es nur noch 89 Mrd. - obwohl in diesem Zeitraum 133 neue Unternehmen
an den Markt gingen und dabei weitere 13 Mrd. Euro einsammelten. Knapp 160 Mrd. Euro
wurden somit entweder abgezogen oder vernichtet.
Der Fall der Wachstumsmärkte ist auch ein internationales Phänomen. Doch in keinem Land war
die Bewegung so extrem wie in Deutschland. Die Nasdaq, der High-Technologie-Markt in den
USA, rutschte während der letzten zwölf Monate lediglich um 56 Prozent ab. Der rasante Sturz in
Frankfurt ist damit teils ein globales, teils ein spezifisch deutsches Problem.
Fallen konnten die Deutschen nur so tief, weil sie vorher so hoch gestiegen waren. Nirgendwo
war die irrationale Übertreibung so maßlos wie hier zu Lande. Einen ersten Fieberschub erlebte
der Neue Markt vom Sommer 1998 bis zum Jahresende. Damals verdoppelte der Nemax seinen
Wert, während der Nasdaq Composite nur halb so viel stieg. Dann hielt der Nemax länger als
ein halbes Jahr inne; die Amerikaner zogen auf gleiches Niveau nach. Im Herbst und Winter
1999 kletterten beide Märkte weiter, allerdings mit drastischem Skalenunterschied: Die Nasdaq
legte um 80 Prozent zu, der Neue Markt verdreifachte seinen Wert nahezu.
Das war die Extrem-Übertreibung, die sich rächte. Sie beruhte auf einer fundamentalen
Fehleinschätzung des Technologie-Booms von 1999."In dieser Zeit gaben die Firmen viel Geld
aus, um das vermeintliche Jahr-2000-Problem zu lösen", sagt Mike Young, Chefstratege für
europäische Aktien bei Goldman Sachs in London."Hinzu kam ein massiver Anstieg der
Investitionsausgaben im Telekommunikationssektor." Dies waren Einmaleffekte, die nicht in die
Zukunft hätten hochgerechnet werden dürfen.
Hausgemachtes Problem
Beide Märkte - der amerikanische und der deutsche - tappten in die gleiche Falle, doch die
Deutschen waren um den Faktor 2 euphorischer. Der globale Effekt erklärt etwa die Hälfte des
hiesigen Absturzes. Der Rest des Problems ist hausgemacht.
Für alle Beteiligten hat der Einbruch gravierende Folgen. Mehr als 50 Unternehmen verschoben
im vergangenen Jahr ihren Börsengang. Ihnen fehlt jetzt das Kapital für geplantes Wachstum.
Beispiel Flachbildschirmhersteller Data Display aus Germering bei München: Das Unternehmen
will frühestens im nächsten Jahr herauskommen und hat bis dahin keinen Zugang zu
Börsenkapital. Sprecher Armin Polster:"Der Ruf des Neuen Markts hat sehr gelitten. Wir denken
jetzt auch über andere Marktsegmente nach."
Etliche Qualitätswerte wurden in den Strudel gerissen, obwohl sie gute Zahlen liefern. Manche
von ihnen erwägen einen Abschied. Computer-Dienstleister IDS Scheer zum Beispiel meldete
für das vergangene Jahr 245 Mio. DM Umsatz und 32 Mio. DM Vorsteuerergebnis - eine
Steigerung weit über den eigenen Prognosen. Trotzdem fiel der Kurs in den letzten zwölf
Monaten um 40 Prozent. Vorstandssprecher Helmut Kruppke:"Das liegt eindeutig am negativen
Umfeld des Neuen Marktes. Wir sind in Sippenhaft genommen." Wenn der Firmenwert am Neuen
Markt dauerhaft nicht dargestellt werden könne, denke man über einen Ausstieg nach. Ähnlich
droht auch Mobilcom-Chef Gerhard Schmid.
Allerdings sind die Aussteigewilligen derzeit in der Minderheit. Beispiel Aixtron: Der
Halbleiter-Zulieferer hat seinen Kurs seit der Emission im November 1997 bis heute mehr als
verzehnfacht und zählt damit zu den Stars. Vorstand Kim Schindelhauer:"Der Markt ist eine
gute Sache. Es wäre katastrophal, wenn man ihn kaputtredet wegen einiger schwarzer Schafe."
So oder ähnlich argumentierten die meisten Unternehmer in den Interviews der FTD.
Privatanleger sind die Verlierer
Die größten Verlierer des Neuen Markts sind die Privatanleger. Sie gingen oft nahtlos vom
Sparbuch in die Aktie; an einen Markt, der sie vielfach überforderte. Sie wurden Opfer einer
Unklarheit, die von Anfang an bestand: Für welche Investoren ist das Wachstumssegment
eigentlich gedacht?
In der Phase vor dem Start diskutierte die Börse das intensiv mit Banken, Politik und
Unternehmen. Den Stand der Diskussion kurz vor dem Start fasste die"FAZ" im Januar 1997 so
zusammen:"Für den Privatanleger ist das neue Handelssegment nach Ansicht von Experten
nicht geeignet. Professionelle Investoren mit großer Kapitalausstattung können hingegen bei
einer Investition hohe Renditen einstreichen."
Allerdings geriet die Deutsche Börse vor dem Start unter Druck. Kritiker warfen ihr vor, die
Latten durch Qualitätsprüfungen und Meldepflichten zu hoch zu legen. Noch im März 1997
schrieb der"Spiegel":"Die Kandidaten für den Neuen Markt sind rar" - und würden es auch
bleiben."Wir hatten bis zuletzt gezittert, denn nichts ist schlimmer, als ein neues Produkt zu
starten, ohne Kunden zu haben", sagt auch Rainer Riess, heute Head of Primary Markets der
Deutschen Börse und damit Chef des Neuen Markts."Wir waren sehr froh, mit Mobilcom und
Bertrandt zwei sehr ordentliche Unternehmen zum Start gefunden zu haben." Wenn schon das
Angebot fraglich war, sollte wenigstens die Nachfrage stimmen. Auf die institutionellen Anleger
alleine wollte man sich nicht verlassen. Mehr und mehr gerieten die Privatanleger in den Fokus.
Damals waren gerade 5,5 Prozent des Geldvermögens der Haushalte in Aktien investiert. Nur 16
Prozent des Aktienumlaufs steckte in Daueranlagen privater Haushalte. Den Rest der Papiere
hielten Unternehmen.
Unberührte Geldquelle anzapfen
Diese unberührte Geldquelle wollte die Börse anzapfen. Riess:"Es war das erste Mal, dass die
Börse an den Privatanleger als Kunden wirklich gedacht hat. Wir haben uns an Anlageberater
und Privatanleger gewandt und haben als Medium das Internet intensiv genutzt." Die Stimmung
jener Zeit brachte Unternehmer Horst Görtz, Chef des Nachrichtenverschlüsselers Ultimaco, im
"Spiegel" auf den Punkt: Angesicht der vielen Milliarden, die in Deutschland jedes Jahr mit
"wertlosen Warenterminkontrakten oder Optionsgeschäften" verpulvert würden, wäre es viel
klüger, wenn dieses Geld an die Börse flösse."Wenn wir nur ein Zehntel dieses Risikokapitals
mobilisieren können, entsteht ein unglaublicher Dampf, der viele Unternehmen nach oben reißen
würde."
Viel zu wenig fragten sich Banken und Börse: Würde es wirklich gut für Kleinaktionäre sein,
massiv in das neue Risikosegment zu investieren? Anders als bei der Nasdaq in den USA warnte
von offizieller Seite niemand die Privatanleger. Eine fundamentale Wahrheit blieb dadurch
unbeachtet: Man sollte stets nur einen kleinen Anteil seines Vermögens in Wachstumsbörsen
stecken. Wer zu viel am Neuen Markt investiert, kann sein Risiko nicht streuen, denn die
Unternehmen haben dort per se ein sehr ähnliches Risiko-Chance-Profil. Das haben viele
Anleger nicht verstanden. Sie sicherten sich vermeintlich ab, indem sie ihr Geld auf
verschiedene Neue-Markt-Aktien verteilten - ein fataler Fehler im Portfoliomanagement, vor
dem Banken und Börse sie deutlicher hätten warnen sollen.
Seit dem Crash sucht die Ã-ffentlichkeit die Schuld vor allem bei Unternehmen und Managern. In
der Tat gibt es Betrüger und Größenwahnsinnige am Neuen Markt. Beispiel EM.TV: Mitte Februar
2000 verkaufte Vorstandschef Thomas Haffa außerbörslich 200.000 Aktien und verstieß damit
gegen eine Haltefrist, die im Unternehmensbericht vereinbart war. Und noch am 5. November
behauptete Haffa auf einem Aktienseminar öffentlich, seine Zahlen seien stimmig. Nur vier
Wochen später, am 6. Dezember, bewies sein Quartalsergebnis das Gegenteil.
Staatsanwälte und Klagen
Beispiel Metabox: Gegen den Hersteller von Settop-Boxen ermittelt die Staatsanwaltschaft
Hannover wegen Kursmanipulation und Kapitalanlagebetrugs. Staatsanwälte im Haus hat auch
der bayerische Spezialsoftware-Produzent b.i.s wegen des Verdachts auf Nichtmeldung einer
Geschäftsanbahnung. Bei Infomatec wurden zwei Vorstände festgenommen. Anleger verklagen
das Unternehmen außerdem, weil es fälschlich Aufträge über 163 Mio. DM gemeldet haben soll.
Besonders barock führte sich Gigabell-Vorstandschef Daniel David auf. Er jonglierte im letzten
Herbst mit zwei potenziellen Investoren - der auf den Bahamas registrierten Briefkastenfirma
Costingham und dem italienischen Internet-Anbieter Tiscali. Obwohl er mit keinem der beiden
zum Abschluss kam, mietete er ein Schiff auf dem Main und warf eine teure Party.
Insolvenzverwalter Dirk Pfeil:"Bei denen ging es immer zuerst ums Feiern. Das konnten die am
besten." Die Rechnungen für das schicke Flussfest konnte Gigabell nicht bezahlen. Reeder und
Caterer stehen jetzt beim Insolvenzverwalter mit anderen Gläubigern Schlange.
Ende Februar entzog die Deutsche Börse Gigabell die Zulassung, weil die Firma nach
"mehrfacher Ermahnung" keinen Geschäftsbericht zum dritten Quartal vorgelegt hatte. Es war
das erste Mal, dass der Neue Markt ein Unternehmen ausschloss. Zwei Wochen später folgte der
nächste Schock für Anleger: Software-Hersteller Micrologica stellte Insolvenzantrag wegen
drohender Zahlungsunfähigkeit.
Firmen sind nicht das Problem
Diese Fälle verursachen viel Aufregung, doch sie sind für eine Wachstumsbörse ganz normal.
337 Unternehmen sind derzeit am Neuen Markt notiert. In den vier Jahren des Bestehens
stellten mit Gigabell, Letsbuyit.com und Micrologica gerade einmal drei Firmen einen
Insolvenzantrag, nur eines wurde ausgeschlossen. Zum Vergleich die Nasdaq: Im letzten Jahr
mussten 700 Firmen die Börse verlassen, weil sie pleite waren, ihre Aktie mehr als 30
Handelstage unter 1 $ sackte oder sie gegen eine der vielen anderen Regeln verstoßen hatten.
Zuletzt bekamen Xpedior, Bluefly und Affinity den Blauen Brief der Börsenverwaltung. 1999
waren es gar 906 von 5068 gelisteten Firmen. Seit vielen Jahren fliegen auf diese Weise rund 20
Prozent der Werte hinaus, während etwa die gleiche Zahl neu zugelassen wird. Übertragen auf
den Neuen Markt hieße das: Pro Jahr könnten rund 70 Unternehmen aussteigen. Davon sind die
Frankfurter noch weit entfernt.
Auch ist die Qualität der notierten Werte im Schnitt höher, als die einzelnen Skandale der letzten
Zeit vermuten lassen. Firmen wie Teleplan, D. Logistics, Comroad, Qiagen, Aixtron oder Thiel
Logistics sind solide und haben ihren Erstkäufern bis heute Geld gebracht. Von den 264
Unternehmen, die in den vergangenen zwei Jahren emittierten, liegen 50 trotz der brutalen
Korrektur noch immer satt über ihrer Erstnotiz.
Die Firmen waren also nicht das größte Problem des Neuen Marktes. Gelitten hat der Markt vor
allem unter überhöhten Emissionspreisen und irrationaler Käufernachfrage. Wer trägt daran die
Schuld? Sind es die Banken, Analysten und Medien? Wer muss was verantworten? Die
Antworten darauf gibt diese Serie.
© 2001 Financial Times Deutschland
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