Wo die Strafen keinen Namen haben
Die GefÀngnisindustrie in den Vereinigten Staaten ist zum neuen Wirtschaftsfaktor
geworden
AuĂer GestrĂŒpp gibt es wenig im SĂŒden von Texas. Die meisten Einwohner des kleinen StĂ€dtchens
Beeville arbeiteten seit Mitte der fĂŒnfziger Jahre beim LuftstĂŒtzpunkt der Marine. 2000 Jobs mit
insgesamt 27 Millionen Dollar an Gehaltszahlungen im Jahr schaffte der Kalte Krieg in Beeville, 30
Prozent der Wirtschaft hingen von der Marine ab. 1991 schloss der StĂŒtzpunkt. Heute stehen auf den
ehemaligen MilitÀrarealen zwei GefÀngnisse. 1500 ArbeitsplÀtze bringen 30 Millionen Dollar an
GehÀltern. Beeville hat 13000 Einwohner - und 7200 Gefangene.
In den Vereinigten Staaten hat die GefÀngnisindustrie die Funktionen des militÀrisch-industriellen
Komplexes ĂŒbernommen. Wurden frĂŒher MilitĂ€rstĂŒtzpunkte als Wirtschaftshilfe in armen, lĂ€ndlichen
Regionen gebaut, sind es heute GefĂ€ngnisse. Ăber 150 private Haftanstalten gibt es in den
Vereinigten Staaten, die Betreiber nutzen ihren Einfluss in der Politik fĂŒr den eigenen Profit. Diese
These vertritt der Pulitzerpreis-TrĂ€ger Joseph Hallinan in seinem jĂŒngst erschienenen Buch âGoing up
the riverâ. Den Begriff des prison-industrial complex prĂ€gte 1998 Eric Schlosser - Autor des eben
erschienen Buches âFast Food Nationâ - in einem Beitrag fĂŒr Atlantic Monthly. Auch er arbeitet zur
Zeit an einem Buch ĂŒber die GefĂ€ngnisindustrie.
Die Parallelen zum Kalten Krieg sind nicht nur ökonomisch. Die Angst vor KriminalitÀt ist in den
neunziger Jahren zu einem massenpsychologischen PhÀnomen wie die Kommunistenfurcht in den
Sechzigern und Siebzigern geworden. In Beeville etwa, wo die KriminalitÀtsrate von 1991 bis 1995 um
elf Prozent sank, hörte Hallinan immer wieder, das Verbrechen sei âeine klare, gegenwĂ€rtige
Bedrohungâ vor Ort, obwohl dies tatsĂ€chlich nicht der Fall war.
Dass die KriminalitÀtsrate in den Vereinigten Staaten sinkt, ist mittlerweile Allgemeinwissen. Und
doch werden die GefÀngnisse immer voller. Allein Kalifornien hat mehr Gefangene in seinen
Anstalten als Frankreich, GroĂbritannien, Deutschland, Japan, Singapur und die Niederlanden
zusammen. 1, 3 Millionen Amerikaner saĂen im Jahr 2000 in Staats- oder BundesgefĂ€ngnissen. Und
jede Woche kommen 1000 hinzu. 476 von 100000 Amerikanern saĂen 1999 im GefĂ€ngnis, 1939, zu
Zeiten Al Capones waren es nur 137.
Dieser Anstieg ist vor allem die Folge schÀrfer Gesetze, nicht steigender KriminalitÀt. 1983 wurde in
den Vereinigten Staaten das erste private GefÀngnis von der Corrections Corporation of America
(CCA) gebaut. Ein Jahr spÀter erlieà der Kongress ein Gesetz, das vorzeitige Haftentlassung fast
gĂ€nzlich abschaffte und zugleich die Freiheit der Richter beim Festsetzen des StrafmaĂes beschnitt.
Seitdem steigen die Gefangenenzahlen. 59 Prozent der HĂ€ftlinge sitzen heute wegen Drogendelikten.
Die durchschnittliche Strafdauer fĂŒr den Verkauf von Crack betrĂ€gt elf Jahre - bei einem Mord sind
es sechs. SpÀtestens hier wirken Drogen wie ein zweiter Kommunismus: Eine nahezu unsichtbare
Kraft, die von auĂen in das Land strömt und es zersetzt. Die Antwort konnte nicht Rehabilitation und
Reintegration heiĂen. Der antiamerikanische Einfluss von Drogendealern musste abgetrennt, verbannt,
weggesperrt werden, wÀhrend die Gemeinschaft im Kampf gegen die kranken Elemente enger
zusammenrĂŒckte.
Einer reprÀsentativen Meinungsumfrage aus dem Jahr 1995 zufolge glaubt nur ein Viertel der
US-BĂŒrger, dass GefĂ€ngnisse der Rehabilitation dienen sollten. Gerade mal fĂŒnf Prozent des
kalifornischen Strafvollzugsbudgets werden fĂŒr WiedereingliederungmaĂnahmen ausgegeben. 70
Prozent der Gefangenen in den Vereinigten Staaten sind Analphabeten, auf einen Drogentherapieplatz
in GefÀngnissen kommen im Durchschnitt zehn Bewerber. Haftanstalten werden nicht zum Nutzen
der Inhaftierten gebaut - sondern jenem der ordentlichen, amerikanischen BĂŒrger. Mit ĂŒber 600000
BeschÀftigten sind die staatlichen und privaten GefÀngnisse nach General Motors und Wal-Mart der
drittgröĂte Arbeitgeber der Vereinigten Staaten, wie Loic Waquant in âElend hinter Gitternâ
vorrechnet. FĂŒr wirtschaftlich schwache und unattraktive Regionen sind GefĂ€ngnisse die einzige und
beste Entwicklungshilfe.
Viele Menschen in StĂ€dten wie Beeville sind GefĂ€ngniswĂ€rter. Nicht nur, weil es ĂŒberhaupt ein Job ist
- es ist auch ein sehr attraktiver, gutbezahlter mit zusÀtzlicher Krankenversicherung und einem
Rentenanspruch. Der Journalist Ted Conover, der ein Jahr lang im New Yorker
HochsicherheitsgefĂ€ngnis Sing Sing arbeitete, beschreibt in seinem Buch âGuarding Sing Singâ seine
MitanwÀrter bei der Ausbildung: Ein Filialmanager von Burger King, ein Klempner, ein
GebÀudereiniger, ein Vertriebsmanager von Wal-Mart, ein Inhaber eines Fitness-Studios.
Nicht nur die Einwohner von StÀdten wie Beeville und die AktionÀre von Unternehmen wie CCA -
die Anteile gewannen Anfang der Neunziger Jahre zeitweise um 1000 Prozent an Wert - profitieren
vom amerikanischen GefÀngnisboom. Die Inhaftierten bescheren auch anderen privaten Unternehmen
ansehliche Gewinne. So verlegte etwa der Möbelhersteller Kwalu 1997 seine Produktion von
Kapstadt in ein GefÀngnis in South Carolina. Die Arbeitsstunde eines Gefangenen kostet ingesamt
sieben Dollar. In Kapstadt betrÀgt der Lohn zwar nur ein Drittel davon, doch die ProduktivitÀt der
Gefangenen gleicht das mehr als aus. Sie mĂŒssen arbeiten, obwohl ihnen nach AbzĂŒgen von dem Geld
gerade mal 1,20 Dollar bleiben. Der GroĂteil der Jobs qualifiziert die Gefangenen in keiner Weise. Um
HĂŒhnerstĂ€lle sauber zu machen, muss ihnen nicht einmal das Lesen beigebracht werden.
Auch bekannte Firmen wie AT&T profitieren von GefĂ€ngnissen. FĂŒr FerngesprĂ€che geben HĂ€ftlinge
im Jahr SchÀtzungen zufolge eine Milliarde Dollar aus. Nur können sie nicht den billigsten Anbieter
wÀhlen. Die GefÀngnisleitung entscheidet, mit welcher Firma telefoniert wird. Deshalb gibt AT&T bis
zu 50 Prozent der Gewinne an die GefÀngnisse weiter, allein in New York kamen 1997 so 21,2
Millionen Dollar zusammen. MCI gibt dem Staat Kalifornien 32 Prozent der Gewinne ab, und den
HĂ€ftlingen bleibt nicht anderes ĂŒbrig, als fĂŒr jeden Anruf eine obligatorische ZusatzgebĂŒhr von drei
Dollar zu zahlen.
Die Abkehr von der Rehabilitation hin zu Strafe und Profit hat nicht etwa ruhigere, straff organisierte
GefÀngnissen geschaffen. Die Gewaltbereitschaft der Gefangenen steigt, je weniger sinnvolle
BeschĂ€ftigung sie haben. Da die meisten Inhaftierten aus GroĂstĂ€dten stammen und zum Teil einige
hundert Meilen entfernt von ihrer Heimat in jenen KleinstÀdten inhaftiert sind, wo WÀrterjobs
gebraucht werden, können ihre Familien sie nur selten besuchen. Anders, als der in den Vereinigten
Staaten gebrauchte Begriff Supermax fĂŒr HochsicherheitsgefĂ€ngnisse suggeriert, ist die entstehende
Gewalt selbst hier nicht zu kontrollieren. Morde an Gefangenen werden auch in
Hochsicherheitstrakten regelmĂ€Ăig verĂŒbt. Der zweifache Mörder Richard Johnson etwa hat im
GefÀngnis zwei weitere Menschen umgebracht und zwei schwer verletzt. Im Hochsicherheitstrakt des
GefĂ€ngnisses Youngstown gelang es ihm 1998 bei der RĂŒckkehr vom Hofgang in wenigen Minuten,
sich seiner Handschellen und FuĂfesseln zu entledigen, ein selbstgemachtes Messer aus seiner Zelle
zu holen und dann einen gefesselten Mitgefangenen auf dem Gang zu töten, bevor die WÀchter etwas
bemerkten. Conover beschreibt in âGuarding Sing Singâ, warum WĂ€rter so selten ihre gewalttĂ€tige
Kollegen melden: Sie sind ihre einzige Chance, einen immer drohenden Angriff eines Gefangenen zu
ĂŒberleben.
Nicht die WÀrter kontrollieren das Leben in GefÀngnissen. Die Gangs tun es. Sie entscheiden, wer
seine Zelle rĂ€umen muss, wer wieviel zu essen bekommt und wer ĂŒberlebt. Wie weit ihre Macht
reicht, zeigt die Liste von GegenstÀnden, die binnen eines Monats in der Zelle des lebenslÀnglich
inhaftierten GanganfĂŒhrers Ernest Wilson beschlagnahmt wurden: Ein Mobiltelefon, ein Game Boy,
ein Pager, 230 Dollar Bargeld, 15,7 Gramm Kokain, 13 Flaschen Rasierwasser, eine tragbare
Waschmaschine, ein tragbarer Farbfernseher, ein BĂŒgeleisen, ein Jagdmesser. In Illinois sind in
manchen GefÀngnissen 97 Prozent der Gefangenen in Gangs organsiert. Die Gruppen rekrutieren hier
ihre Mitglieder, die sie nach der Freilassung dann bei Straftaten einsetzen.
Das einzige Mittel gegen Gangs und Gewalt ist in amerikanischen GefĂ€ngnissen die Isolationshaft fĂŒr
besonders gewalttÀtige Gefangene in sogenannten special housing units. Wie eine Bundesrichterin
1999 in einem Urteil feststellte, sind diese âim Grunde genommen BrutkĂ€sten fĂŒr Psychosenâ.
Connover hat Gefangene erlebt, die den Tag ĂŒber mit FĂ€kalien im Mund am Sehschlitz ihrer Zelle
warten, bis ein WÀchter vorbeikommt, den sie anspeien können.
Es ist wenig bekannt, warum Alexis de Tocquevilles 1831 in die Vereinigten Staaten reiste. Bekannt
ist nur sein damals entstandenes Werk âĂber die Demokratie in Amerikaâ. Tocqueville war im
Auftrag der französischen Regierung in Amerika, um das damals in Europa bewunderte Konzept der
Besserungsanstalt kennenzulernen. KĂ€me er heute von dieser Reise zurĂŒck - sein Werk wĂŒrde
anders heiĂen.
KONRAD LISCHKA
Aus der SZ von gestern.
J.
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