Liebe Brüder und Schwestern, Besorgte, Nachdenkliche, Optimisten und Schönredner,
die Zusammenfassung von dottore (71696) und ein beim Stöbern in Opas Mottenkiste verbrachter Tag haben mich veranlaßt, einmal der Frage nachzugehen, woher denn"die Blase" kommt, von welchem Niveau wir auszugehen haben, das ja bekanntlich unterschritten werden muß nach der uns allen bekannten Theorie, deretwegen wir uns hier treffen.
Eine Zeit, die Stundenlöhne von 140 Mark hervorgebracht hat (welche dem Leistungsempfänger berechnet werden, von denen der Leistungserbringer aber maximal 20 bis 25 Mark netto behalten darf), spricht für sich selbst.
Wenn man der Berichterstattung glauben will, so stehen Freizeit, Arbeitszeitverkürzung und die sogenannten"Errungenschaften" von freiwilligen betrieblichen Zugaben im Zentrum der Erwartung.
Mindestens eine Urlaubsreise pro Jahr gehört zum guten Ton, zwei sind besser.
Schon im Hinblick auf das Gerede der Nachbarschaft ist vielfach die laufende Neuanschaffung eines Wagens von einer früheren Notwendigkeit zu einem Prestigeverhalten mutiert.
Niemand scheint zu bemerken, daß es keine konstanten Markt-Errungenschaften gibt, wonach auch die zahlungspflichtigen Arbeitgeber von immer gleichbleibenden oder gar steigenden Einnahmen ausgehen könnten.
Jede Mark, die an die Mitarbeiter bezahlt werden kann, muß zunächst am Markt verdient werden, und daß die Firma nur gemeinsam, in einem Miteinander von Geschäftsleitung und Belegschaft erfolgreich ist, scheint vielfach nicht klar zu sein.
So gibt es keine ewig gleiche Bringschuld des vermeintlich sozial starken Unternehmers, denn in einem schwierigen Umfeld ist das Hauptvermögen des Unternehmers, seine Firma, von heute auf morgen womöglich nichts mehr wert, wenn keine Überschüsse mehr zu erwarten sind, sondern die Vertragsverpflichtungen hervortreten und aus der Substanz heraus gedeckt werden müssen, während der Arbeitnehmer seine Vertragsbeziehung schnell und folgenlos beenden kann.
Wie war das eigentlich früher, als die Blase ihren Anfang nahm?
Nehmen wir einmal die jährliche Kehrgebühr des örtlichen Schornsteinfegers, eines der wenigen Monopolbereiche, die es noch gibt.
Sie dürfte heute bei einem Einfamilienhaus bei rund 100 Mark pro Jahr liegen, bei einem 6-Familienmietwohnhaus gehe ich von 200 Mark aus.
Ein Zettel aus dem November 1952 zeigt mir die damalige Berechnungsgrundlage:
Betreff: Umlegung der Preiserhöhung für Kaminkehrergebühren
Ab 1.11.1952 sind die Kaminkehrergebühren für dieses (8-Familien-) Haus von monatlich 2,60 DM auf 3,20 DM oder pro Jahr um 7,20 DM erhöht worden.
Auf grund der Verordnung P R 72/49 vom 29.11.1951 wird dieser Mehrbetrag von 7,20 DM auf die im Hause befindlichen Wohnungen umgelegt. Es erhöht sich daher Ihre Mietzahlung pro Monat um 0,08 DM.
Die nächste Erhöhung gabs 1956:
Umlegung
der Kaminkehrergebühren - Erhöhnung ab Juli 1956 von 3,20 DM auf 3,68 DM, 0,48 DM für 8 Parteien.
Es trifft daher auf jede Partei in Zukunft 0,06 DM mehr.....
Im Rahmen einer Zwangseinquartierung - damals gab es Wohnruambewirtschaftung nach dem Wohnraumbewirtschaftungsgesetz, gefundene Wohnungen mußten zugewiesen werden und konnten nur mit Genehmigung der Wohnungsbehörde in Nutzung genommen werden, auch wenn eine Wohnung mal gerade 16qm groß war und unterm Dach lag - ergab sich ein Rechtstreit zwischen dem Hauptmieter (mein Opa) und den Einquartierten:
Schreiben des Rechtsanwalts:
.....von der Schuldnerin erhielt ich eine weitere Rate von 2,-- DM. Inzwischen wurde der Termin zur Leistung des Offenbarungseides auf den 5.6.1953... anberaumt.....
und in diesem Zusammenhang ebenfalls interessant ist ein Schreiben des Vermieters:
betr.: Untermietzuschlag
der Ihnen mit Zuschrift vom 20.12.1951 mitgeteilte Untermietzuschlag von 4,45 DM vermindert sich, nachdem die Küche ab 1.9.1952 an Sie übergegangen ist, auf 3,52 DM.
Ab 1.9.52 sind deshalb bei der Mietzahlung monatlich 0,83 DM weniger zu zahlen......
Noch ein paar Preise:
1955: 5 Zentner Schwelkoks a´5,82 DM = 29,10 DM, 90 Tage Zahlungsziel
1959: Stundenlohn für Wachmann: 2,-- DM pro Stunde
ca. 1953: Lehrlingslohn pro Monat 1.Lehrjahr 20,-- DM, 2. LJ 40,-- DM, 3. LJ 60,-- DM
Februar 1962: Monatsrente von Opa 38,60 DM
Nemhen wir die Arbeitsverhältnisse. Wir lesen in einem Geschäftsbrief vom 7.9.1957:
Sehr geehrter...., über Ihre nette Zuschrift und Anfrage sind wir Ihnen sehr verbunden........
Nun kurz zu Herrn G.: G. arbeitet seit drei Jahren bei uns, ist ein alter Mann mit 70 Jahren, hat wenig Rente, auf Grund seines Alters noch sehr fleissig und hat dabei Gelenheit, monatlich noch ein paar Mark zu verdienen. Er kann sich dann noch eine Halbe kaufen, die er gerne trinkt. Sollten Sie noch ein paar solche Pensionisten, die etwas Energie besitzen, wissen, würden wir sie gerne noch dazu nehmen zum Verkauf unserer Produkte. Hochachtend,.....
Auch Bankkunden hatten noch eine andere Stellung inne:
22.8.1961
Hiermit geben wir Ihnen zur Kenntnis, daß wir Ihnen für vorzeitiges Ausgleichen Ihrer Kreditschuld an Gebührenrückvergütung die Summe von
DM 2,--
gutschreiben konnten.
Genannter Betrag geht Ihnen in den nächsten Tagen an Ihre o.a. Anschrift zu und wir hoffen, Ihnen hiermit gedient zu haben.
Stets gern für Sie beschäftigt zeichnen wir Hochachtungsvoll, Warenkredit-Verkehrsbank
Wir deutlich wird, sind das Beträge, die sich heute im Scherzbereich bewegen.
Opa hatte kein Telefon, kein Auto, zwei uralte Schränke, Tisch, Bett, Stuhl.
Urlaub kannte er nicht, er ging höchstens zum Fischen aufs Land.
Noch anekdotenhaft etwas zur damaligen Staatsgewalt:
an einen jugendlichen Verkehrsdelinquenten = Fahrradfahrer
Du bist beim Jugendgericht wegen Fahrens ohne Licht und Nichtbeachtung des polizeilichen Haltezeichens am 3.7.1951 zur Anzeige gebracht worden. Nach den gesetzlichen Bestimmungen soll die Tat bestraft werden. Ich sehe von einer Bestrafung ab und erteile Dir eine Ermahnung mit der Auflage, binnen einer Woche eine Geldbusse von 4 DM bei der Geschäftsstelle....einzuzahlen.
Ich nehme hierbei an, daß Du Dich künftig einwandfrei führst und keinen Anlass mehr zu einem Vorgehen gegen Dich gibst.
Bei nicht rechtzeitiger Zahlung der geldbusse wird zur Hauptverhandlung geschritten werden......
oder ebenso:
Strafbefehl.... nach einer Anzeige der Landpolizei.....vom 21.3.1957 sollen Sie am 6.2.1957 mit einem PKW auf der Hauptstraße in.... die angeordnete Höchstgeschwindigkeit vom 40 km/h um fast 30 km/h überschrotten haben.........Beweismittel: Zeugen.............wird eine Geldstrafe von 20 DM festgesetzt zzgl. eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 2,50 DM.
Ja, das waren noch Zeiten.
Heute verschandeln Graffittis allerorten die Landschaft, sind Jugendliche wachsender Bestandteil der Strafttäterstatistiken.
Mit einem einzigen Hunderter einkaufen zu gehen, gleicht einem Abenteuer.
Alles ist auf ein zahlenmäßig viel höheres Niveau gestiegen, aber auch die Standards sind unvergleichlich höher.
Schon als Jugendlicher hatte ich einen weit höheren Besitz als Opa mit 75.
Was gleichzeitig die Sättigung der Volkswirtschaft beschreibt, ist ein fernseher defekt, stehen immer noch drei andere herum.
Die Neubaugebiete zeigen uns, daß die Verschuldungsblase auch den Vorteil bot, erst einmal bis auf weiteres einen höheren Lebensstandard erreichen zu können, und vielen gelang es, zwischendurch schuldenfrei zu werden, ein Eigenheim zu haben, während eine Generation früher feuchte, muffige einzelne Zimmer mit der ganzen Familie bewohnen mußte.
Vielleicht wird es ja gelingen, die Sache weiterzuprolongieren, wie es schon oft geschah.
Sollte die Blase jedoch platzen, sehen wir in diesen alten Unterlagen, auf welche neuen Niveaus wir uns einzustellen haben, wohin sich die Größenordnungen zurückziehen.
Die Errungenschaften werden zu bloßen Erinnerungen, und die in den USA vorexerzierten Zweitjob-Zwänge werden evident, statt herablassende Lachnummer zu sein.
Dennoch sehen wir in den alten Dokumenten aus Opas Mottenkiste, daß die Lebensumstände unendlich viel sorgenvoller waren, als sie es heute sind, und wie gering die individuelle Freiheit von Bürgern damals war, etwas zur Verbesserung der Lage zu tun, während wir heute bequem von zu Hause aus die Stellenanzeigen durchsörfen können, international mobil sind und in der Lage sind, uns über Szenarien in Foren auszutauschen, während man früher nicht mal einen Volksempfänger hatte.
Keine Bange also.
Jedoch gehörte zur damaligen Generation weithin ein Wesenszug, der heute größenteils fehlt, nämlich Genügsamkeit, Sparsamkeit, Fleissigkeit, ethisches Wohlverhalten und Zusammenhalt in der Familie. Selbstverständlich war rein gar nichts.
Wie eine deflationäre Tauchphase auf die Forderungsmentalität heutzutage wirken wird, bleibt sorgenvoll abzuwarten, denn ein zusammengebrochenes Weltbild in ansonst intaktem Umfeld macht aggressiv und orientierungslos, neidisch auf die, denen es besser geht.
Die Vorstellung, man könne auskommen, ohne dafür zu arbeiten, war der alten Generation völlig fremd. Wenn ich mit lehrlingsausbildenden Leuten spreche, so macht mich die locker-anmaßende Auffassung mancher Berufseinsteiger rat- und fassungslos.
Da der Einfluß eines jeden von uns auf die großen Entwicklungen marginal ist, kann es nur unser Bestreben sein, privat auf der Hut zu sein, uns abzusichern und im Vergleich zu anderen einen Vorsprung zu bewahren, selbst wenn dies mehr Wunschdenken als Erfolg bleiben sollte.
Getreu dem Spruch der Rentner, der alte Mann tut seine Pflicht, er hängt ihn rein, mehr kann er nicht....
Schönen Sonntag wünscht Euch Euer Baldur
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