Buch zur Unfreiheit
Vito Tanzi / Ludger Schuknecht
Public Spending in the 20th Century
Cambridge University Press
ISBN 0521664101
Rasanter Anstieg
Staatsausgaben werden nicht aus freiwilligen Spenden der Bürger
finanziert, sondern aus Zwangsabgaben oder Schulden, d.h. später
einzutreibenden Zwangsabgaben. Sie sind folglich ein Indikator für das
Ausmaß der Entmündigung oder Unfreiheit der Bürger. Die beiden
Ã-konomen, Tanzi vom Weltwährungsfond und Schuknecht von der
Europäischen Zentralbank, zeigen zunächst, wie die Staatsausgaben von
1870 bis 1996 zugenommen haben. Im Durchschnitt der jetzigen
OECD-Länder sind die Staatsausgabenquoten (relativ zum
Bruttoinlandsprodukt) von knapp 11% im Jahre 1870 auf 45% im Jahre
1996 gestiegen (S. 6). Im Zeitverlauf war der Anstieg uneinheitlich. Von
1870 bis 1913 war er minimal. Unter dem Einfluss von zwei Weltkriegen
und der Weltwirtschaftskrise dazwischen hat sich die Staatsquote von
1913 bis 1960 gut verdoppelt, ist dann aber vor allem in den 60er und 70er
Jahren weiter rasant gestiegen. Für den Anstieg von 28 auf knapp 42% in
den 20 Jahren von 1960 bis 1980 können nicht Kriege und ähnliche
Katastrophen, sondern nur staatsgläubige Ideen und Politiker
verantwortlich gemacht werden. In den 60er und 70er Jahren traute „man“
dem Staat offensichtlich zu, alle sozialen Probleme lösen zu können. Dass
Staatstätigkeit und Freiheitsbeschränkung nur zwei Seiten einer Medaille
sein können, wurde vergessen.
Ausnahme USA
Natürlich gab es beträchtliche Unterschiede im Ausmaß der
Staatstätigkeit. Zur Zeit der Reichseinigung lag Deutschland noch
geringfügig unter dem Durchschnitt, seit 1913 mit unschöner
Regelmäßigkeit immer darüber. Die USA lagen mit schöner
Regelmäßigkeit unter den üblichen Staatsquoten, haben nur 1960 mal mit
27% fast die damals üblichen 28% erreicht, sich seitdem aber einen
zunehmenden Abstand von der ausufernden Staatstätigkeit anderswo
erarbeitet. 1996 lagen sie mit nur 32,4% weit unter den üblichen 45%.
Implizite und explizite Verschuldung
Wenn man sich die Staatsausgaben genauer ansieht, wird klar, dass es
primär die Transfers und Subventionen sind, die für die Explosion der
Staatsausgaben nach 1960 verantwortlich sind. Von 1960 bis 1995 haben
sich nämlich diese Ausgaben von 9,7% des Bruttoinlandsprodukts auf
23,2% mehr als verdoppelt (S. 31). Auch bei den Bildungs- und
Gesundheitsausgaben lässt sich eine ähnliche Dynamik feststellen.
Gleichzeitig haben die öffentlichen Investitionen abgenommen (S. 48) und
seit 1970 haben - wegen der unsolide oder kreditfinanzierten
„Sozial“politik - die öffentlichen Zinszahlungen zugenommen (S. 46).
Schlimmer noch: Das Ausmaß der Staatsverschuldung wird allgemein
unterschätzt, weil nicht gedeckte Renten- und Pensionsversprechungen nur
„implizite“ und keine „explizite“ Staatsverschuldung darstellen. Je nach
Bewertung der impliziten Staatsverschuldung wird diese im Mittel
westlicher Länder auf 66 bis 184% des BIP geschätzt (S. 68), die zu den
expliziten Staatsschulden zu addieren sind. Im BRD-Fall sind die
Schätzungen ähnlicher und variieren „nur“ zwischen 111 und 160%. „Wir
Deutschen“ sind also beim Weg in die Staatsverschuldung recht „mutig“
gewesen.
Nur Mittelschicht gewinnt
Es ist vorstellbar, dass der Staat mit seinen zunehmenden Ausgaben, der
zunehmenden expliziten und impliziten Staatsverschuldung - also mit den
schon jetzt spürbaren und künftig noch drohenden
Freiheitseinschränkungen - wenigstens weithin geteilte Ziele erreicht hat.
Für die Zeit nach 1960 finden Tanzi und Schuknecht trotz ihrer gründlichen
Suche und der Verwendung vieler Indikatoren wenig Hinweise darauf,
dass die rasant zugenommene Staatstätigkeit, vor allem bei Transfers und
Subventionen, viel Positives bewirkt hat. Nur ein Beispiel dazu: Die
Transferzahlungen begünstigen nur minimal die Bedürftigen. In westlichen
Ländern üblich ist, dass fast 27% der Transfers an das ärmste Fünftel
gehen, 57% an die mittleren drei Fünftel und gut 16% an das
wohlhabendste Fünftel. Die BRD-Umverteilungspolitik erreichte diesen
dürftigen Erfolgsstandard (in den mittleren 80er Jahren) allerdings nicht.
Denn bei uns erhielten die ärmsten 20% nur knapp 22% der Transfers, die
reichsten 20% immerhin noch gut 18%, während die mittleren drei Fünftel
fast genau 60% erhielten (S. 96). Die so definierte Mittelschicht hat also
vor allem Reglementierung, Bürokratie und Freiheitsbeschränkungen
„gewonnen“.
Globalisierung als Retter?
Obwohl Tanzi und Schuknecht eine geringfügige Egalisierung der
Einkommensverteilung durch Staatstätigkeit konstatieren, fragen sie sich
dennoch, ob diese Verbesserungen mit den unvermeidbaren
Verzerrungen wirklich eine um fast 20% erhöhte Staatsquote wert sind (S.
114). Ihre Antwort ist eindeutig „nein“. Die Staatsausgaben könnten und
sollen auf eine Größenordnung um 30% des BIP reduziert werden (S. 134,
229), was allerdings einige Jahrzehnte benötigen dürfte. Die
Globalisierung könnte - so hoffen Tanzi und Schuknecht - da heilsame
Zwänge ausüben.
Empfehlungen
In den abschließenden Kapiteln wird analysiert, wie man das versuchen
könnte und in welchen Ländern welcher Weg schon ansatzweise mit
welchem Erfolg beschritten worden ist. Privatisierung, auch zumindest
einiger Universitäten, auch zumindest eines Teils der Rentenversicherung,
wird empfohlen.
Gegenteiliges Bürgerinteresse
Die Stärke des Buches ist seine wissenschaftliche „Objektivität“. Die
Autoren analysieren Trends und halten sich bei der Bewertung stark
zurück. Nirgendwo erwähnen sie, dass vor allem der seit den 60er Jahren
beobachtete beschleunigte Ausbau der Staatstätigkeit nicht nur meßbare
Ziele entweder verfehlt oder um einen sehr hohen Preis erreicht, sondern
dass die Ausweitung der Staatstätigkeit als solche ein permanenter Angriff
auf die Freiheit der zur Selbstbestimmung durchaus fähigen Bürger ist.
Nirgendwo äußern Tanzi und Schuknecht den Verdacht, dass es einen
massiven Interessengegensatz zwischen Politikern und Normalbürgern
geben könnte, dass Politiker ein berufsbedingtes Interesse daran haben,
andere zu „führen“ oder zu gängeln, dass aber freie Bürger ein Interesse
daran haben müssen, nicht gegängelt zu werden.
Besinnung auf den Wert der Freiheit
Aber die „Objektivität“ und Zurückhaltung der Autoren im Werturteil muss
den Freund der Freiheit nicht beunruhigen. Vielleicht tragen Tanzi und
Schuknecht gerade durch ihre emotionslose Analyse zur Verbreitung der
Einsicht bei, dass man Politikern möglichst wenig Geld anvertrauen sollte,
dass sie umso ineffizienter damit wirtschaften, je mehr sie davon kriegen.
Das wäre vielleicht der erste Schritt auf dem Wege zu einer Besinnung auf
den Wert der Freiheit.
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