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Sonntag 29.02.2004, MEZ 10:18
Verdingung, amtlich verfügtes Leid an Kinderseelen
swissinfo 27. Februar 2004 13:07
Arthur Honegger vor dem Bauernhof in Schlieren, wo er als 14jähriger Verdingbub schwere Misshandlungen erlebte.
Schwerstarbeit von früh bis spät und als Lohn eine Tracht Prügel: Für das erlittene Unrecht fordern jetzt ehemalige Verdingkinder wie Arthur Honegger eine offizielle Wiedergutmachung.
Was dem später erfolgreichen Journalisten Honegger damals widerfuhr, steht stellvertretend für das Schicksal Zehntausender von Verdingkindern.
ZUM THEMA
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"Verdingkinder" - aus dem Dokumentarfilm von Peter Neumann (Broadband)
"Verdingkinder" - aus dem Dokumentarfilm von Peter Neumann (58K Modem/ISDN)
"Schlimmer als alle Prügel empfand ich, dass niemand mit mir sprach. Fragte ich etwas, kam einfach keine Antwort", erzählt Arthur Honegger im Gespräch mit swissinfo.
Der unermüdliche 80-Jährige ist von einem der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte betoffen: dem Verdingwesen. Dieses wurde von den kommunalen und kantonalen Behörden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts betrieben.
Arthur Honegger wurde als Vierzehnjähriger von seiner Heimatgemeinde Dürnten zu einem Bauern in Schlieren im Kanton Zürich verdingt.
Es folgten harte eineinhalb Jahre: Der Bauer prügelte ihn und sperrte ihn danach tagelang in den Schweinestall, zur"Heilung" der Wunden. Der Grund: Der Verdingbub hatte den Meister nach einem schlimmen Unwetter über den erlittenen Ernteverlust trösten wollen.
Auch stach ihm der Bauer beim Heuen mit der Gabel den Hintern blutig, um ihn anzutreiben. Demütigungen gabs für Honegger an Werk- und Feiertagen.
"An meiner Konfirmation musste ich sofort nach der Kirche heimkehren und im strömenden Regen die Kühe hüten. Dabei hatte es einen Stacheldraht um die Weide." An Weihnachten wurde er einfach ins Bett gejagt.
Geprägt fürs Leben
Kein Wunder, dass diese physischen und psychischen Torturen beim jungen Menschen ihre Spuren hinterliessen."Ich war noch lange Zeit danach ein Niemand", sagt Honegger.
Er habe einen Geltungsdrang entwickelt,"jemand" werden wollen, und dabei"grosse Fehler" gemacht. Dies war auch für seine Frau Heidi, sie heirateten 1949, und die junge Familie eine schwere Zeit.
Wie Arthur Honegger wurden in der Schweiz bis Mitte des 20. Jahrhunderts Zehntausende von Knaben und Mädchen aus ärmsten Verhältnissen von ihren Heimatgemeinden an Bauern verschachert. Es gab sogar Märkte, wo die Verdingkinder versteigert wurden.
Wie viele Kinder insgesamt verdingt wurden, ist bis heute unbekannt. Die bisher einzige wissenschaftliche Untersuchung zum Thema stammt vom Historiker Marco Leuenberger, der das Verdingwesen im Kanton Bern untersuchte. Zeitweise landeten dort laut dem Verfasser jedes 20. Kind oder 5% aller Kinder in der Verdingung.
Sklaven ohne Fürsprecher
Auf den Höfen fristeten die Verdingkinder sozusagen als Leibeigene - welch Widerspruch zur gern zitierten stolzen Schweizer Geschichte - ein himmeltrauriges Dasein.
Schwerstarbeit ohne Lohn, sinnlose Beschäftigungen, Prügel, sexueller Missbrauch und Angst prägten den Alltag der Verdingbuben und -mädchen. Liebe, Nähe, Geborgenheit und Anerkennung, alles, was jedes Kind nötig hat, gehörten nicht zu ihrem Leben.
Amtlich beglaubigtes Unrecht
All das geschah mit dem amtlichem Stempel der Behörden. Vormunde, Armeninspektoren und Fürsorger schauten ob der Missstände einfach weg.
Selbst die Reportagen des bekannten Photographen Paul Senn oder die Zeitungsartikel des Schriftstellers und Journalisten C. A. Loosli vermochten nichts an der behördlichen Duldung zu ändern.
Viele der Betroffenen arbeiteten, für immer mundtot gemacht, ihren Lebtag lang weiter als Knechte und Mägde auf Bauernhöfen. Viele ehemalige Verdingkinder wurden kriminell. Anderen wie Arthur Honegger gelang es, das Leben angesichts der schlimmen Erfahrungen doch noch zu meistern.
Wende nach zwei Jahrzehnten
Erst rund 20 Jahre später, nach langer Krankheit im Jahr 1958, vermochte Honegger sich und seine Familie schrittweise aus der Armutsfalle zu befreien.
Es waren sein eiserner Wille und der starke Rückhalt bei seiner Frau Heidi und seinen drei Kindern, die ihn in den 60er Jahren zu lang ersehntem beruflichem Ansehen und finanzieller Unabhängigkeit geführt hatten. Doch auch als bekannter Journalist, Kolumnist, Schriftsteller und Kantonspolitiker verleugnete Honegger seine Wurzeln nie.
Die Vergangenheit sollte den Etablierten indes noch mehrmals einholen. So 1972, als der Gemeindepräsident ihrer damaligen Wohngemeinde Bülach die Familie davonjagen wollte, nachdem er von Honeggers"Herkunft" erfahren hatte.
Honegger blieb standhaft und reagierte mit seinem Buch"Die Fertigmacher". Der Lebensbericht erschien 1974 und wurde seither über 100'000 mal verkauft. Eine Neuauflage, erweitert um einen biographischen Teil über den Autor, gelangt demnächst in die Buchhandlungen.
Sensibilisierung der Ã-ffentlichkeit
Medienleute und Filmemacher haben das verdrängte Thema der Verdingung aufgegriffen und vermehrt ins Bewusstsein der Ã-ffentlichkeit gerückt. Nach langen Jahrzehnten haben die ehemaligen Verdingkinder endlich eine Stimme erhalten.
So im Dokumentarfilm"Verdingkinder", der Ende Januar am Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde. Darin porträtiert der Zürcher Historiker und Journalist Peter Neumann drei Betroffene, unter ihnen Arthur Honegger, und begleitet sie an die Orte ihrer schlimmen Erinnerungen.
Die aktuelle öffentliche Diskussion soll mithelfen, dass die Verdingung nun gesamtschweizerisch aufgearbeitet werden kann, wie das Betroffene, Historiker und Politiker vom Bundesrat fordern. Ziel des Projekts ist eine offizielle Wiedergutmachung für die ehemaligen Verdingkinder. Diese soll laut Arthur Honegger eine Entschuldigung für das erlittene Unrecht und eine Anerkennung der geleisteten Dienste umfassen.
Skepsis bleibt
Obwohl die Sache ins Rollen gekommen ist, bleibt Arthur Honegger skeptisch."Zu weltfremd" und zu wenig transparent, so kritisiert er, würden die Historiker den Aufarbeitungs-Prozess angehen.
Skepsis hegt er auch angesichts der politischen Debatte über die Verdingkinder, die für März im Schweizer Parlament geplant ist."Wieso veranstaltet man kein Hearing, zu dem man uns Betroffene einlädt? Das schockiert mich schon ein bisschen", ereifert sich Honegger.
Neben ihm sitzt ganz ruhig seine Frau Heidi. Ganz ruhig sagt sie auch:"Er hat viele Fehler gemacht, aber er hat immer gesagt: Denen zeige ich es einmal. Und das steckte tief in seinem Innern, auch heute noch."
swissinfo, Renat Künzi
Fakten
- Bis 1945 war die Verdingung in praktisch allen Landesteilen der Schweiz Teil der Fürsorgepolitik der Behörden.
- Eine genaue Zahl der Verdingkinder ist bis heute nicht bekannt, da das Thema erst punktuell erforscht ist, so im Kanton Bern.
- Laut dem Berner Historiker Marco Leuenberger wurden allein im Kanton Bern von 1850 bis 1900 jedes Jahr 6000 Verdingkinder verschachert.
- In den 1930er Jahren wurden 12'000 Kinder verdingt, was 5% ausmacht.
- Ã-ffentliche Versteigerungen von Verdingkinder fanden in einzelnen Gemeinden noch bis nach Mitte des 20.Jahrhunderts statt.
- Medienleute und Filmemacher haben das Thema jüngst vermehrt aufgegriffen, um einen Beitrag zur Aufarbeitung des Themas zu leisten.
In Kürze
Die Verdingung ist ein Zeugnis der Armut. Verdingt wurden Waisen- oder uneheliche Kinder, Scheidungskinder oder solche aus kinderreichen Familien.
Wenn Eltern oder Elternteile das Sorgerecht für ihr Kind entzogen wurde oder sie es freiwillig abgaben, wurden die Kinder von den Heimatgemeinden als Verdingkinder auf Bauernhöfe verschachert.
Für die Aufnahme von Verdingkindern zahlten die Gemeinden den Bauern ein Kostgeld.
Auf den Bauernhöfen arbeiteten die Verdingkinder als kleine Sklaven, ohne Rechte, Schutz und Wärme.
Ihr Alltag war geprägt von Schwerstarbeit, Prügel, Missbrauch, und Angst.
Ehemalige Verdingkinder, Historiker und Politiker fordern jetzt die Aufarbeitung dieses schwarzen Kapitels der Schweizer Geschichte.
Für das erlittene Unrecht fordern sie eine offizielle Wiedergutmachung vom Schweizer Bundesrat.
Links
- Verdingkinder, Artikel von C.A. Loosli im"Tages-Anzeiger" vom 6.3.1945
- Verdingkinder. Historische Aufarbeitung (Motion Nationalrat Reudi Baumann)
- Begriff Verdingung, Hist. Lexikon der Schweiz (HLS)
<ul> ~ Verdingkinder</ul>
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-->Gesprächsweise bin ich mit einem Bekannten auf diesen Artikel, das Posting neulich über die http://www.schwabenkinder.de/Seiten/startframe.html und die Sklavenkinder in Haiti gekommen.
Sein Vater war Tierarzt im St. Gallischen und hatte so berufsbedingt näheren Einblick ins Landleben bekommen. Und was er mir so zu berichten wußte, läßt mir die Haare zu Berge stehen. Das Mittelalter ist noch nicht vorbei, wir schauen nur eben da nicht hin. Knechte und Mägde auf Bauernhöfen werden auch heutzutage noch wie Menschen zweiter Klasse behandelt und gnadenlos ausgebeutet.
Nur mal eine kurze Episode.
Er selbst war in 2001 auf einem Bauernhof in der Nähe von Calw/Schwarzwald. Die Bauernfamile und die Knechte saßen zwar gemeinsam zu Tisch, aber die Sitzbank war auf der Seite für die Mitglieder der Famile weich gepolstert, für das Gesinde reichte das blanke Holz.
Man aß am gleichen Tisch, aber für das Gesinde wurden nur Speisen 2. Wahl hingestellt.
Und wenn sie mal was falsch machten, dann gab es - Schläge.
Ich wollte es ihm partout nicht glauben, daß es so etwas heutzutage in Deutschland tatsächlich geben sollte. Er schwor Stein und Bein, daß es da genau so zugeht. Man bräuchte nur auf die schwieligen, gerissenen Hände eines Knechts zu sehen um zu Erkennen, daß sein Leben fast nur aus Arbeiten und einem ( fast ) Sonntag besteht. Für Kost und Logis und einem kümmerlichen Lohn.
Wieso gehen die denn um Gotteswillen da nicht weg? Sie kennen es nicht anders, war die Antwort, sie würden sich in unserer modernen Gesellschaft nicht auskennen.
Also bleiben sie auf den Höfen um ein Leben lang von morgens bis abends für ein Hungerlohn zuarbeiten. Und das gibt es nicht nur im Schwarzwald, gleiches hat er schon öfters in der Schweiz gesehen.
Das Mittelalter lebt immer noch, leider.
Grüße
J.
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-->Hi JoBar,
Er selbst war in 2001 auf einem Bauernhof in der Nähe von Calw/Schwarzwald. Die Bauernfamile und die Knechte saßen zwar gemeinsam zu Tisch, aber die Sitzbank war auf der Seite für die Mitglieder der Famile weich gepolstert, für das Gesinde reichte das blanke Holz.
Man aß am gleichen Tisch, aber für das Gesinde wurden nur Speisen 2. Wahl hingestellt.
Und wenn sie mal was falsch machten, dann gab es - Schläge.
Bei meinen Großeltern, die einen Kotten hatten, saßen die Fremdarbeiter (Ukrainer, Weiß-/Russen) zwar nicht am selben Tisch.
Aber sie bekamen das gleiche Essen und sie wurden nicht geschlagen.
Und die Kinder spielten mit ihnen...
Wieso gehen die denn um Gotteswillen da nicht weg?
Die Fremdarbeiter meiner Großeltern wollten, nach Kriegsende, auch nicht weg (sie beteiligten sich auch nicht an den Gewalttaten ihrer"Kameraden"), sie baten vielmehr, bleiben zu können; sie würden auch mit der Scheune als Wohnsitz vorliebnehmen...
Sie gingen erst, als die Briten sie (und die"Kameraden", nachdem diese sich ausgetobt hatten) einsammelten und in die"Heimat" abschoben - und damit viele in den sicheren Lageraufenthalt oder Tod (überlebende kriegsgefangene Sowjet-Soldaten waren in Stalins Augen Verräter).
Verrückte Welt...
Gruß bernor
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