- Denkwürdiger Artikel über den Kanzler, der keine Ziele hatte (G. S.) - H. Thieme, 08.03.2002, 12:26
- Re: Denkwürdiger Artikel über den Kanzler, der keine Ziele hatte (G. S.) - silvereagle, 08.03.2002, 12:48
- Re: Denkwürdiger Artikel über den Kanzler, der keine Ziele hatte (G. S.) - Euklid, 08.03.2002, 13:14
- Re: Denkwürdiger Artikel über den Kanzler, der keine Ziele hatte (G. S.) - silvereagle, 08.03.2002, 12:48
Denkwürdiger Artikel über den Kanzler, der keine Ziele hatte (G. S.)
Wolfgang Münchau
Selbst nach vier Jahren Amtszeit hat Bundeskanzler Schröder keine Konzepte. Zeit für einen Wechsel.
Wer waren die großen Regierungschefs? In Deutschland zählen Adenauer, Brandt und Kohl dazu, vielleicht Schmidt, in Frankreich
sicher de Gaulle und Mitterrand, in den USA Franklin D. Roosevelt, Kennedy, auch Nixon und Reagan. Trotz ihrer starken politischen
Unterschiede hatten diese Präsidenten und Kanzler eines gemeinsam: Sie begriffen Politik als Verfolgung strategischer Ziele. Bei Brandt
war es die Ostpolitik, bei Schmidt eine unpopuläre Neuorientierung der Sicherheitspolitik, bei Roosevelt New Deal und der Krieg gegen
Hitler.
Clinton gehört wegen seiner sehr indifferenten Außenpolitik wohl nicht zu den großen Präsidenten. Bundeskanzler Gerhard Schröder
aber gehört auf keinen Fall dazu, weil er keine strategischen Ziele verfolgt - mit Ausnahme seiner Wiederwahl. Schröder ist nicht der
miserabelste Kanzler, den wir je hatten. Das war Ludwig Erhard, der selbst als Kanzler die Welt nur durch die Brille eines kleinkarierten
Wirtschaftsministers sah. Das erklärt auch seinen Vorschlag, die damalige DDR mitten im Kalten Krieg den Sowjets abzukaufen.
Unhaltbare Versprechen
Schröder kann sich so wenig von seiner Vergangenheit lösen wie der Dicke mit der Zigarre. Doch Erhard hielt zumindest noch
wirtschaftspolitische Prinzipien aufrecht. Schröders Wirtschaftspolitik dagegen reduziert sich auf sein Engagement in der Autoindustrie,
unhaltbare Versprechen, die Arbeitslosenzahlen zu senken, und spektakuläre Rettungsaktionen maroder Betriebe. Schröder glaubt, im
Sinne der Wirtschaft zu handeln, wenn er die Interessen einzelner Unternehmen vertritt. Das ist falsch.
Die Angelsachsen unterscheiden zwischen"Economy" und"Business" - in Deutschland heißt beides Wirtschaft. Letzte Woche im
Bundeskabinett griff Schröder die EU-Kommission scharf an - wegen ihrer angeblichen Wirtschaftsfeindlichkeit. Wenn Schröder von
Wirtschaft redet, meint er"Business" und nicht die Gesamtwirtschaft -"Economy".
Schröder hat die Europäische Kommission zum Feind ernannt. Weil er glaubt, dies sei gerechtfertigt und populär beim Wahlvolk. Der
Kanzler hat insbesondere ein Problem mit dem Wettbewerbskommissar Mario Monti. Im Gegensatz zu Schröder kennt Monti nicht nur
den Unterschied zwischen Business und Economy - er praktiziert ihn auch. Monti ist dem deutschen Bundeskanzler diesbezüglich
intellektuell um Längen voraus, weil er es versteht, die Einzelinteressen von Firmen, auch großer Firmen wie VW, den Interessen der
Gesamtwirtschaft unterzuordnen. Die EU-Kommission ist manchmal anti-Business, aber zumeist pro-Wirtschaft. Bei Schröder ist es
umgekehrt.
Schröder ist nicht der erste europäische Regierungschef, der die EU-Kommission als politischen Feind identifiziert hat. Margaret
Thatcher hat sich am ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors die Zähne ausgebissen, was sie im Jahre 1990 den Job
gekostet hat. Dass gerade die deutschen Wähler und vor allem die Wähler aus der politischen Mitte auf diese Tour reinfallen und
Schröders billigem Anti-Europa-Kurs applaudieren, ist kaum zu erwarten.
Schröder schadet nationalen Interessen
Strategisch ist Deutschland in der Vergangenheit gut gefahren als Partner der Kommission, als Partner Frankreichs und auch als
Partner der kleinen Länder. Strategisch kann Deutschland auch davon profitieren, ein stärkeres Verhältnis zu Großbritannien zu pflegen
als in der Vergangenheit. Aber eine Anti-Kommissions-Politik, die eine politische Isolation zur Folge hätte, ist ein strategisches
Desaster und auch eine taktische Fehlkalkulation. Schröder wird so die politische Mitte nicht wiedergewinnen und schadet den
fundamentalen Interessen unseres Landes.
Im Gegensatz zu Schröder sind Kohl und Schmidt große Europäer. Es gab zu keinem Zeitpunkt für Kohl einen taktischen Grund, den
Euro zu unterstützen. Schmidt ist unter anderem wegen seiner Sicherheitspolitik, die in der eigenen Partei wenig Unterstützung fand,
gestürzt. Beide Bundeskanzler klebten an ihrer Strategie.
Auch für Schröder gäbe es eine Reihe von wichtigen strategischen Zielen, die ein deutscher Bundeskanzler derzeit verfolgen könnte:
eine komplette Neuorientierung der deutschen Sicherheitspolitik mit Abschaffung der Wehrpflicht, höheren Verteidigungsausgaben für
eine gut ausgerüstete Berufsarmee; oder eine Reform des deutschen Föderalsystems mit klarerer Trennung zwischen Bund, Ländern und
Gemeinden; oder eben die längst überfälligen Wirtschaftsreformen - des Gesundheitswesens, der Renten, der Sozialhilfe, der
Arbeitsmärkte, der Ladenschlusszeiten und der Wettbewerbsgesetze.
Selbst die angeblich erfolgreiche Finanzpolitik ist ohne Strategie. Sparen kann nie Ziel der Finanzpolitik sein, sondern nur ein Mittel, um
Wirtschaftswachstum und die Ressourcenzuteilung zu verbessern. Schröder hat nie ein strategisches, wirtschaftspolitisches Ziel definiert
- außer dem widersinnigen Versprechen, die Zahl der Arbeitslosen auf ein bestimmtes Niveau zu drücken.
Noch nie hatte Deutschland einen so unfähigen Strategen an der Spitze der Regierung. Wer selbst nach vier Jahren Amtszeit Strategie
einer fragwürdigen Taktik opfert, wird es nie lernen. Es gibt den Spruch, jedes Land hat die Regierung, die es verdient. Deutschland hat
eine bessere Regierung verdient.
© 2002 Financial Times Deutschland
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