- Das böse Spiel mit den Erwartungen - JLL, 19.04.2002, 15:10
- Re: die Welt ist nun mal ein Irrenhaus ;) (owT) - Jagg, 19.04.2002, 16:02
Das böse Spiel mit den Erwartungen
Vor einigen Jahren war man auf der Spitze des Fortschritts, wenn man gelernt hatte, dass nicht absolute Zahlen im Börsengeschäft relevant sind, sondern einzig deren Relation zu den vorherigen Erwartungen. Solange nur eine Minderheit so dachte, war dies durchaus ein ganz sinnvoller Ansatz. Denn immer wenn sich ein positives Delta zwischen den tatsächlichen Zahlen und den erwarteten Zahlen ergab, war eigentlich alles in Butter und man konnte sich über eine entsprechende Marktreaktion freuen. Diejenigen, die in absoluten Zahlen dachten, wurden dagegen regelmäßig enttäuscht und wurden letztlich zu einer aussterbenden Gattung. Denn der Markt"lernte", dass gute Zahlen - gemessen an den Erwartungen - gar nicht so gut und schlechte Zahlen gar nicht so schlecht waren. Zu dieser Zeit kam ein anderes Wort in Mode. Bestimmte Dinge seien"eingepreist". Auch hier die gleiche Entwicklung, zunächst war es eine Minderheit, die so dachte, aber dann wurde es die Mehrheit.
Kurz gesagt, was vor 10 bis 15 Jahren noch eine relativ elitäre Denke war, wurde inzwischen von den Massen aufgesogen. Im Prinzip vergleicht heute jeder Cretin die Zahlen mit den Erwartungen und in den Stand der Börsenexperten wird man erhoben, wenn man hie und da mit mildem Lächeln das Wörtchen"eingepreist" einfließen lässt.
Ich will hier nicht die Qualität der veröffentlichten Zahlen thematisieren, noch weniger die Qualität der Erwartungen, schon gar nicht das unheilige Zusammenspiel zwischen Erwartungen und veröffentlichten Zahlen. Auch möchte ich mich hier nicht darüber auslassen, dass, wenn man den Medien Glauben schenken darf, die negativen Dinge immer schon eingepreist sind, während sich an den positiven Aspekten stets künftige Fantasie entzünden soll. Nein, darum geht es mir nicht.
Mein Punkt ist ein anderer:
Könnte es sein, dass die ganze Erwartungs- und Einpreisungs-Herde mittlerweile den Bezug zum Absoluten verloren hat? Sind nicht vielleicht diejenigen heute die modernen, vorausschauenden Marktbeobachter, die sich wieder an harten absoluten Zahlen orientieren, die sich KGVs ausrechnen, oder nach Dividendenrenditen fragen? Mir kommt es so vor, dass das Börsenfußvolk mit der gebetsmühlenartigen Feststellung, dass bestimmte Erwartungen geschlagen wurden, ganz bewußt von den harten Zahlen abgelenkt werden soll. Mir will einfach nicht in den Kopf gehen, inwiefern es relevant oder gar positiv sein soll, wenn der Trottel A, der die letzten drei Jahre beständig daneben lag, einen Gewinn von 0,15 erwartet und dann der Trottel B nach Ziehen aller manipulativen Register der kreativen proforma-Buchhaltung auf einen Gewinn von 0,16 kommt? Die Medien jubeln über diese"tolle Leistung", dass die Aktie aber bei 50,00 steht, interessiert scheinbar niemanden mehr. Ebensowenig will mir einleuchten, wie bei Aktien mit hohen zweistelligen und teilweise dreistelligen KGVs auch nur ein einziger negativer Aspekt adäquat"eingepreist" sein kann? Aber vermutlich bin ich auch vom Aussterben bedroht.
Trotzdem einen schönen Tag.
JLL
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