- Zur Abwechslung - antares, 04.05.2002, 01:11
Zur Abwechslung
Wir schleppen unsere Ketten mit uns: es ist keine ganze Freiheit, wir wenden noch den Blick zurück nach dem, was wir hinter uns gelassen haben, und unsere Gedanken sind voll davon.
Unser Uebel sitzt uns in der Seele: sie aber kann sich selbst nicht entrinnen.
So müssen wir sie denn in sich selbst heimführen und Einkehr halten lassen; das ist die wahre Einsamkeit, der man sich inmitten der Städte und Königshöfe hingeben kann; doch ungestörter lässt sie sich im Stillen geniessen.
Da wir unser aber vorsetzen, allein zu leben und auf Gesellschaft zu verzichten, sorgen wir auch dafür, dass unsere Zufriedenheit nur von uns abhänge: entsagen wir allen Bindungen, die uns an andere Menschen ketten [oder überflüssigen Schnickschnack, Anmerkung des Posters], gewinnen wir es über uns, wahrhaft allein und mit Wohlbehagen allein leben zu können.
Als Stilpo aus der Feuersbrunst seiner Stadt entkommen war, in der er Frau und Kinder und Hab und Gut verloren hatte, fragte ihn Demetrius Poliorcetes, der ihn nach dieser Verwüstung seiner Vaterstadt mit unerschüttertem Gesicht einhergehen sah, ob er keinen Schaden erlitten habe. Er antwortete: Nein, und er habe, Gott sei gedankt, nichts ihm eigenes verloren.
Dies ist, was der Philosoph Antisthenes scherzhafterweise sagte: der Mensch müsse sich mit Vorräten versehen, die auf den Wogen schwimmend und treibend mit ihm dem Schiffbruch entgehen könnten.
Gewiss, der verständige Mensch hat nichts verloren, solange er sich selbst besitzt. Als die Barbaren Nola zerstörten, tat Paulinus, der Bischof der Stadt, der darin alles verloren hatte, und in ihre Gefangenschaft geraten war, dieses Gebet zu Gott:
Herr, behüte mich davor, diesen Verlust zu empfinden, denn du weißt, dass sie noch nichts von dem angetastet haben, was mein ist. Die Reichtümer, die ihn reich machten, und die Güter, die ihn gut machten, waren noch unversehrt. Das heisst die rechte Wahl der Schätze treffen, die weder Motten noch Rost fressen, und sie an einem Ort verbergen, zu dem niemand gelangt und den niemand verraten kann als wir selbst. Es ist recht, dass Weib, Kinder, Vermögen und vor allen Dingen Gesundheit besitze, wer kann; aber nicht, unsere Seele so daran zu heften, dass unser ganzes Glück daran hängt. Wir müssen uns ein Hinterstübchen aussparen, ganz für uns selber, ganz ungestört, in dem wir unsere wahre Freistatt und unsere hauptsächliche Zuflucht und Abgeschiedenheit errichten. Hier müssen wir unser tägliches Gespräch von uns zu uns selbst führen, so abgesondert, dass keine andere Geselligkeit oder fremde Beziehung darin Zutritt finde; hier nachsinne und hier lachen, ohne Frau, ohne Kinder und ohne Besitztümer, ohne Hauswesen und ohne Dienerschaft, damit, wenn das Ereignis ihres Verlustes eintritt, es uns nichts Neues sei, ihrer zu entbehren. Unsre Seele kann sich auf sich selbst zurückwenden; sie kann sich selbst Gesellschaft leisten; sie ist fähig, den Angriff zu führen, fähig, sich zu verteidigen, fähig zu empfangen, und fähig, zu geben: fürchten wir nicht, in dieser Einsamkeit vor eintönigem Müssiggang zu verkümmern,
in solis sis tibi turba locis. (Sei in der Einsamkeit dein eigenes Volksgetümmel: Tibull, Eleg.)
Die Tugend, sagt Antisthenes, ist sich selbst genug; ohne Regeln, ohne Worte, ohne äusseren Taten.
Unter unseren alltäglichen Handlungen ist von tausend nicht eine, die uns angeht. Dieser da, den du rasend und ausser sich diesen geborstenen Mauerwall emporklimmen und sich so vielen Feuerschlünden entgegenwerfen siehst; und jener andere, von Wunden bedeckt, schaudernd und bleich vor Hunger, aber entschlossen, eher zu verenden, als ihm das Tor zu öffnen: glaubst du, sie kämpften für ihre eigene Sache? Für jemanden vielleicht, den sie nie gesehen haben, der sich nicht die geringste Sorge um ihr Los macht und derweilen in Musse und Wonnen schwelgt. Dieser hier, den du nach Mitternacht schwindsüchtig, triefäugig und filzig aus seiner Bücherkammer treten siehst, denkst du, er forsche in seinen Büchern
danach, wie er rechtschaffener, zufriedener und weiser werde? Nichts von alledem. Er wird entweder darüber zugrunde gehen, oder er wird die Nachwelt über das Versmass des Plautus oder über die wahre Schreibweise eines lateinischen Wortes belehren. Wer gibt nicht willig seine Gesundheit, seine Ruhe und Leben um Ehre und Ruhm, diese nutzloseste und falscheste Münze, die unter uns im Umlauf ist? Unser Tod jagt uns noch nicht genug Angst ein, beladen wir uns dazu noch mit dem unserer Frauen, unserer Kinder und Hausgenossen. Unsere Geschäfte machen uns noch nicht genug Plackerei, fangen wir auch noch an, uns über die unserer Nachbarn und Freunde zu plagen und den Kopf zu zerbrechen.
Vah, quemquamne hominem in animum instituere, aut Parare, quod sit charius quam
ipse est sibi?
(Ah, wie kann nur ein Mensch sich in den Kopf setzen, dass ihm etwas teurer sei als er selbst? [Terenz, Adelphi])
Genug für andere gelebt, leben wir wenigstens dieses letzte Endchen des Lebens für uns! Wenden wir unsere Gedanken und Vorsätze auf uns und unsere Behaglichkeit zurück. Es ist kein leichtes Unterfangen, sich mit Sicherheit aus der Welt zurückzuziehen: es beansprucht uns vollauf genug, ohne dass wir noch andere Unternehmungen hinzumengen. Da Gott uns Zeit und Musse gibt, uns auf unsern Abgang einzurichten, bereiten wir uns recht dazu; packen wir unsere Sachen; nehmen wir beizeiten Abschied von der Nachbarschaft; machen wir uns von jenen lebhaften Verstrickungen los, die uns anderwärts haften lassen und uns uns
selber entfremden. Man muss diese starken Bande lösen und noch dies und jenes gern haben, aber sich an nichts binden als an uns selbst. Das heisst, das übrige mag unser sein, doch nicht so mit uns verheftet und verkittet, dass man es nicht von uns wegnehmen könne, ohne uns zu verletzen und ein Stück von uns mit wegzureissen. Das Grösste in der Welt ist, sich selbst gehören zu können.
...
Michel Eyquem de Montaigne (28.2.1533 - 13.9.1592)
Aus dem Essai"Von der Einsamkeit", aus dem Französischen übersetzt
von Herbert Lüthy.
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