- Wochenendlektüre: Gründerzeitjahre - Taktiker, 31.05.2002, 10:33
- Warum grad aufm Klo lesen??? - Praxedis, 31.05.2002, 10:43
- :-) - Taktiker, 31.05.2002, 10:54
- Immer mal die Taktik wechseln - Rene, 31.05.2002, 12:58
- Warum grad aufm Klo lesen??? - Praxedis, 31.05.2002, 10:43
Wochenendlektüre: Gründerzeitjahre
Hat soeben jemand im Consors-Board gepostet - und ich fands spannend zu lesen. Langer Text - also ausdrucken und aufm Klo lesen!
Günter Ogger:
<h1>Die Gründerjahre. Als der Kapitalismus jung und verwegen war</h1>
Vollständige Taschenbuchausgabe Januar 1982, 1995 Droemersche Verlagsanstalt, Knaur (C) 1982, 1995
Das Buch gibt es leider nicht mehr im Handel. Für den Börsianer ist besonders Kapitel 9 von Interesse, in welchem sich der Autor ausgiebig der Börse um 1870-1875 beschäftigt. Insbesondere die zahlreichen Neuemissionen vor 125 Jahren haben es dem Autor angetan - und mir auch. Schon damals lief das Geschäft prinzipiell wie heute auch. Alle wollen abzocken, Banken, Alteigentümer und auch Aktionäre. Ein sehr lesenswerter Text wie ich meine.
„9. Kapitel
Das Reich im Rausch
So richtig in Schwung kamen die Gründer in den »goldenen« siebziger Jahren. Wie einst die Digger im Goldland Kalifornien, so verfielen nun die ehedem so nüchternen Bürger Preußens und der anderen deutschen Staaten nach dem glorreichen Sieg Bismarcks über die Franzosen in einen wahren Taumel. Ausgelöst wurde der deutsche Goldrausch von der größten Geldsumme, die jemals ein Land aus einem besiegten Kriegsgegner herausgepreßt hatte.
Nachdem Paris am 28. Januar 1871 endgültig kapituliert hatte, beorderte Bismarck für die Verhandlungen mit dem französischen Regierungschef Adolphe Thiers zwei der gerissensten deutschen Finanziers aus Berlin ins Schloß von Versailles: seinen Hausbankier Gerson Bleichröder und den oberschlesischen Magnaten Guido Henckel von Donnersmarck. Die millionenschweren Unterhändler, damals neben Alfred Krupp die beiden reichsten deutschen Privatleute, setzten die französischen Reparationszahlungen schließlich auf fünf Milliarden Goldfrancs fest? eine schier unvorstellbare Summe, die das Volkseinkommen Preußens nahezu verdoppeln würde. Gezahlt werden sollte cash, das hieß in Gold, und zwar innerhalb von drei Jahren.
Die Goldlawine, die daraufhin in plombierten und schwer bewachten Sonderzügen aus dem Westen anrollte, überforderte nicht nur die Tresore der Berliner Banken, sondern auch das Vorstellungsvermögen der preußischen Finanzbürokratie. Ähnlich naiv wie heutzutage die Geldverweser der arabischen Ã-lscheichs, pumpten die Beamten das Franzosengold viel zu hastig und ungeschickt in den Geldkreislauf der Nation. Anstatt langfristige Projekte zu finanzieren, etwa im Eisenbahn? oder Wohnungsbau, zahlten sie mit dem neuerkämpften Reich nach treudeutscher Art erst einmal ihre Schulden zurück. Die Folgen waren fatal: Das Kapital, das Deutschlands Bürger in Staats- oder Kriegsanleihen investiert hatte, wurde nun plötzlich frei und überschwemmte die Börsensäle.
Deutschlands Groß? und Kleinkapitalisten waren in bester Laune. Den Krieg hatte man gewonnen, die Wirtschaft florierte, und an der Börse ging es rund, seit die preußische Regierung am 27. Juni 1870 das neue Aktiengesetz veröffentlicht hatte. War früher eine staatliche Konzession nötig, um eine Aktiengesellschaft zu gründen, so konnte nun jeder an der Börse Anteilscheine seines Unternehmens feilbieten. Und auch das Management? damals hieß es noch Geschäftsleitung konnte jetzt frei von behördlicher Aufsicht nach Belieben schalten und walten. Viele der deutschen Wirtschaftsführer machten von ihrer neuen Freiheit ausgiebig Gebrauch.
Großmannssucht der Teutonen
Mit erschreckender Deutlichkeit zeigte sich nun? kaum war das Kaiserreich gegründet? zum ersten Mal die so verhängnisvolle Großmannssucht der Teutonen. Im Überschwang des Sieges über Frankreich glaubten die Deutschen, das Glück für immer gepachtet zu haben. Jedermann wollte teilhaben am neuen Reichtum; der Glanz der französischen Milliarden blendete Rittergutsbesitzer und Rentner, Bankiers und Dienstboten, die High Society und die Habenichtse. Die Spekulation avancierte zum beliebtesten Gesellschaftsspiel jener Tage, und der Börsenzettel wurde zur Standardlektüre des Bürgertums.
Hausgehilfen kratzten ihre Spargroschen zusammen, trugen sie frohgemut zum nächsten Bankschalter und begehrten dringend irgendeine Aktie zu kaufen. An den Stammtischen der Kleinstadthonoratioren wurde nun nicht mehr über Graf Moltkes Schlachtpläne, sondern über die Geschäfte der Eisenbahngesellschaften diskutiert. Selbst die Reichsten im Reich waren sich nicht mehr zu vornehm, hie und da einen »schnellen Taler« mitzunehmen. Der Fürst von Hohenlohe?Ã-hringen, einer der größten Grundbesitzer Deutschlands, steckte Millionen in dubiose Firmengründungen, und sogar der Kanzler höchstpersönlich, Fürst Otto von Bismarck, mußte sich vorhalten lassen, er denke beim Regieren zu oft an seine private Schatulle.
Ein naher Verwandter seiner Frau Johanna, einer geborenen von Puttkamer, behauptete öffentlich, der Reichskanzler habe nur deshalb ein Gesetz ändern lassen, damit Johanna das Puttkamer?Vermögen erben könne. Und der Bankier Gerson Bleichröder, der schon seit Mitte der sechziger Jahre das Privatvermögen des Fürsten verwaltete, wußte allzu häufig verdächtig gut über künftige Regierungsbeschlüsse Bescheid, die ihm und seinem prominenten Kunden erkleckliche Gewinne eintrugen.
Märchenhafte Spekulationsgewinne
Wer mochte da schon zurückstehen, wenn es, wie die Zeitungen täglich schrieben, so leicht war, an der Börse reich zu werden. Bei soviel Kauflust im Publikum fühlten sich die Bankiers und Börsianer geradezu herausgefordert, ständig neue Anlagepapierchen zu präsentieren. Das Gründerfieber begann zu grassieren.
Was jetzt, in der Zeit des leichten Geldes, gegründet wurde, verdiente diesen Namen eigentlich schon nicht mehr. Denn als »Gründung« verstand man nun nicht mehr den Stare eines Unternehmens vom Punkt Null aus, sondern bereits die bloße Umwandlung eines Familienunternehmens in eine Aktiengesellschaft. Wo immer ein Schornstein rauchte? schnell waren ein paar »Gründer« zur Stelle, die dem verdutzten Inhaber einen großartigen Plan unterbreiteten.
Das Strickmuster jener »Gründungen« war stets dasselbe: Das Gründungskomitee kaufte dem bisherigen Besitzer den Laden zu einem weit überhöhten Preis ab, schlug darauf noch ein hübsches Sümmchen für Spesen und Provisionen und gab dann so viel Aktien aus, daß das Grundkapital nicht selten doppelt und dreifach so hoch war wie der tatsächliche Wert des Betriebes.
Damit das Publikum Geschmack fand an derlei luftigen Börsentiteln, wurde es mit Hochglanzprospekten und sensationellen Zeitungsberichten geködert? korrupte Verleger und Journalisten gibt es schließlich nicht erst seit der Erfindung des Bauherrenmodells.
Beim breiten Publikum fanden die Papiere des »neugegründeten« Unternehmens, das in Wahrheit nur seine Rechtsform geändert hatte, reißenden Absatz. Gerüchte über märchenhafte Spekulationsgewinne machten die Runde, und immer mehr Aktionäre gierten danach, möglichst viel von dem Goldenen Kalb abzubekommen, das da in den Börsensälen offenbar täglich neu geschlachtet wurde.
Jeden Tag eine neue Aktie
Der Nachschub an frischen Aktien war immens. Wurden im Königreich Preußen zwischen 1790 und 1870 insgesamt nur etwa 300 Aktiengesellschaften zum Börsenhandel zugelassen, so entstanden allein in den Jahren 1881/72 insgesamt über 780 preußische Aktiengesellschaften. Im Schnitt erschien in diesen Leidensjahren folglich jeden Tag eine neue Aktie auf dem Berliner Kurszettel.
Berlin war unbestritten das Zentrum der Gründerhausse, auch wenn seine Börse bis dahin im Schatten der Wiener Konkurrenz gestanden hatte. In der Hauptstadt der k.u.k. Monarchie gab es zum Beispiel anno 1870 schon 20 private Aktienbanken, in Berlin hingegen nur eine einzige, den Kassenverein, der sich mit seinem Kapital von ~ Million Taler gegenüber der Wiener Kreditanstalt mit ihren 40 Millionen recht kläglich ausnahm. Doch Berlin holte rasch auf, und Ende 1872 gab es in der ungleich größeren Donaumonarchie nicht einmal halb so viele Aktiengesellschaften wie in Preußen.
Gegründet wurde alles, was sich an der Börse verkaufen ließ: Banken und Versicherungen, Pferdebahnen und Firmen zur Verwertung von Mineralbrunnen, Maschinenfabriken und botanische Gärten, Bierbrauereien und Hotels, Eisenbahnen und Leimsiedereien. Die meisten dieser Neugründungen verschwanden genauso schnell wieder von den Kurszetteln, wie sie darauf erschienen waren, doch einigen gelang es, trotz ihrer Geburtsfehler zu Wohlstand und Ansehen zu kommen.
Das wohl bekannteste Unternehmen aus dieser Zeit ist die Deutsche Bank. Sie erhielt am 10. März 1870 ihre Konzession, wenige Wochen, bevor das neue Aktienrecht in Kraft trat. Gegründet wurde das Institut von sechs Privatbankiers; die treibenden Kräfte waren dabei der Berliner Adalbert Delbrück und der spätere Reichstagsabgeordnete Ludwig Bamberger, die es leid waren, mit anzusehen, wie ausländische Banken immer größere Gewinne bei der Finanzierung der Exportgeschäfte deutscher Firmen abschöpften. Die Deutsche Bank sollte ein reines Exportfinanzierungsinstitut werden. Daß sie mehr wurde, hat sie vor allem ihrem ersten Generaldirektor zu verdanken, Georg Siemens.
Zu den wenigen seriösen Gründungen jener Zeit gehören auch die Chemie? und Pharmafirma Schering AG, die Schultheiss?Brauerei AG sowie die Maschinenfabriken von Egells und Wöhlert in Berlin. Der größte und bekannteste unter den Unternehmern der preußischen Hauptstadt aber, Lokomotivenkönig Albert Borsig, weigerte sich beharrlich, die vom Vater aufgebaute Firma den Finanz? und Börsenhaien in den Rachen zu werfen, obwohl ihm sagenhafte Summen? angeblich über zwölf Millionen Taler? dafür geboten wurden.
Unzählige Familien werden ruiniert
Der wahnwitzige Börsenboom, der mit dem Zusammenbruch der Wiener Kreditanstalt im Mai 1873 endete und dann in die längste und schwerste Wirtschaftskrise des Jahrhunderts mündete, führte zu einer nie dagewesenen Umverteilung des Volksvermögens. Hunderttausende verloren, als die Kurse ins Bodenlose abrutschten, ihre Ersparnisse. Unzählige Familien waren so gründlich ruiniert, daß sie mehrere Generationen brauchten, um sich davon wieder zu erholen. In Berlin stieg die Zahl der Selbstmorde sprunghaft an, für viele Spekulanten endete der Traum vom ewigen Reichtum im Obdachlosenasyl.
Die »Gartenlaube« schilderte den Fall eines Gutsbesitzers aus Pommern, der seinen Landsitz verkauft hatte und mit einem Barvermögen von 250.000 Talern nach Berlin gekommen war, um hier als Rentier zu leben. Der gutgläubige Agrarier ließ sich überreden, sein Kapital in Aktien der Centralbank für Bauten anzulegen, die schon zehn Monate nach ihrer Gründung eine Superdividende von 43 Prozent ausschüttete und deshalb im April 1873 noch zum Kurs von 420 gehandelt wurde. Der Privatier kaufte Centralbank?Aktien im Nennwert von 80.000 Talern zum Kurs von 400?was insgesamt 320.000 Taler machte. 250.000 zahlte er bar ein, den Rest von 70.000 schoß ihm seine Hausbank vor, die sich als Sicherheit sämtliche Aktien zur Verwahrung übergeben ließ. Die »Gartenlaube« beschreibt das Ende: »Der Cours begann zu sinken und sank ohne Aufhören; der Banquier verlangte Deckung, und da diese nicht geleistet werden konnte, ließ er die Actien im Wege der Execution an der Börse verkaufen. Der ehemalige Gutsbesitzer hatte in noch nicht einem halben Jahr sein ganzes Vermögen verloren, und er war dem Banquier auch noch 20.000 Thaler schuldig. «
Der große Gründerkrach von 1873 gilt vielen westlichen Wirtschaftshistorikern als einmaliger »Betriebsunfall« in der Geschichte des Kapitalismus, an den man sich nicht allzu gern erinnert. Wolfgang Zorn, Professor für Wirtschafts? und Sozialgeschichte an der Universität München, stellt deshalb fest: »Die Forschung auf diesem Gebiet ist noch nicht sehr fortgeschritten, da gibt es noch viel aufzuarbeiten.« Um so eifriger nahmen sich die marxistischen Geschichtsschreiber der DDR des Themas an. Hans Mottek beispielsweise, einer der führenden Ostberliner Wirtschaftshistoriker, hat dazu mehrere Bücher veröffentlicht. Er begreift die große Gründerkrise als einen Modellfall für die Unfähigkeit des Kapitalismus, mit seinen selbst geschaffenen Problemen fertig zu werden.
Modell oder Betriebsunfall? lernen können wir allemal aus den Ereignissen jener Zeit. Denn nur allzu genau wiederholen sich in unseren Tagen viele Erscheinungen aus den Kindertagen des Kapitalismus. Auch wenn die Börse heute ungleich besser funktioniert, wenn die Gesetze, denen das Wirtschaften unterworfen wurde, die Erfahrungen von damals längst berücksichtigt haben? die Grundmuster menschlichen Erwerbsstrebens sind stets die gleichen geblieben. Und die Methoden, mit denen clevere Geschäftemacher heute auf Dummenfang gehen, unterscheiden sich allenfalls stilistisch von den Werbemitteln ihrer Vorfahren von anno 1870.
Methoden des Dummenfangs
Wem kommen nicht gleich die heutigen Zeitungsanzeigen von Abschreibungsfirmen, Warenterminvermittlern oder Aktienpromotern in den Sinn, wenn er in den Börsenprospekten aus der Hochgründerzeit blättert! Auch damals profitierten die Zeitungen kräftig vom Börsenboom. Manche von ihnen ließen die einzelnen Annoncenspalten immer schmäler werden und erhöhten im gleichen Tempo ihre Preise. Wahre Kunstwerke produzierten die Texter der großformatigen Aktienofferten. So warb etwa die Erste Altenburger Zuckerfabrik, die gleichzeitig auch den Bergbau betreiben wollte, für ihre Börsenpapiere: »Zu den gesegnetsten Fluren des deutschen Vaterlandes gehört der Ostkreis des Herzogtums Sachsen?Altenburg. Die vorzügliche Fruchtbarkeit seines Bodens ist allgemein anerkannt. Aber er birgt auch die wertvollsten unterirdischen Reichthümer? ein Braunkohlenlager von seltener Mächtigkeit, das für diese Gegend eine industrielle Entwicklung in Aussicht stellt, welche nur der weckenden und fördernden Hand wartet, um rasch eine dauernde Blüte zu erlangen.«
Den Gewinn der mit Reichtümern so gesegneten Gesellschafe berechnete ein Herzoglicher Domänenpächter« namens Naumann großzügig mit »113.000 Thaler jährliche«? doch ein Jahr später bedurfte das Unternehmen der Weckenden und fördernden Hand« nicht mehr? es war bankrott, und seine Aktionäre waren ihre Einlagen los.
Der »Börsenreisende für Stadt und Land«
Der Schriftsteller Otto Glagau, Mitarbeiter des Familienblatts »Gartenlaube« und Autor des 1877 erschienenen Buches »Der Börsen? und Gründungsschwindel in Berlins, war einer der sachkundigsten Kritiker der Spekulation. Er machte, neben den Gründern selbst, vor allem seine Berufskollegen von der Journaille für den zweifelhaften Erfolg der Bauernfängerei verantwortlich:
»Die »kleinen Leute« namentlich, und selbst die gewöhnlichen Bürgerklassen, hatten bis 1870 von der ganzen Börse nur eine schwache Ahnung; sie kannten Actien kaum dem Namen nach, und der Courszettel war ihnen eine Tafel mit Hieroglyphen. Sie verwahrten ihre Ersparnisse im alten Strumpf; sie gaben ihr Geld auf die Sparcasse oder auf Grundstücke? bis der Gründungsschwindel auch sie aufblicken ließ, auch sie in seinen Strudel zog.
Jedes Blatt und jedes Blättchen legte sich einen Courszettel zu, errichtete eine ständige Rubrik für Börsennachrichten, brachte im Inseratenwie im radactioneilen Teil täglich Reclamen für neue Gründungen und neue Actien. Es entstand plötzlich eine neue Classe von Reisenden, der Börsenreisende für Stadt und Land, welcher von Haus zu Haus ging, in die Keller und in die Dachkammern stieg und seine Actien anbot. Die Börse hatte überall, im kleinsten Städtchen und im abgeschiedensten Dörfchen, ihre Agenten, welche dem Handwerker, dem Bauern dieses oder jenes Börsenpapier aufredeten, indem sie ihm Himmel und Erde versprachen und ihn gläubig, ihn sicher machten durch die Unterschriften, durch die stolzen, vornehmen oder doch wohlaccreditierten Namen, welche die Actie trug.«
Die Zeitungen gierten nach Inseraten und überschlugen sich mit Berichten über sensationelle Gründungserfolge. Nur wenn ein Blatt zu wenig abbekam von dem reichen Geldsegen, mit dem die Gründer die Anzeigenplantagen zu düngen pflegten, durften seine Journalisten sich ein wenig gründlicher mit dem Geschehen an der Börse beschäftigen. Kaum erschien dann ein kritischer Artikel über dieses oder jenes Unternehmen, da sprudelten für gewöhnlich auch schon wieder die Annoncenaufträge, und ein paar Ausgaben später erstand das vorher so gebeutelte Unternehmen vor den Augen der Leser in neuem Glanz. Journalisten und Verleger waren jedoch keineswegs die einzigen, die sich so eindeutig in den Dienst der Gründer stellten. Auch viele Spitzenpolitiker wie der preußische Finanzminister Otto Camphausen, der Präsident des Abgeordnetenhauses von Bennigsen oder die Reichstagsabgeordneten von Kardorff und Bamberger zählten während des Gründerbooms zu den großen Verdienern. Nur wenige Außenseiter wagten es, den »Betrug am kleinen Mann«? so die »Gartenlaube«? offen beim Namen zu nennen. Außer Otto Glagau waren dies Wirtschaftsjournalisten wie Rudolf Meyer, Ferdinand Perrot oder Georg Hirth.
Der Revolverjounalistfordert zum Duell
Der Abgeordnete Ludwig Bamberger, Mitbegründer der Deutschen Bank und auch der Reichsbank, drehte den Spieß um und schalt die wenigen Börsenblätter, die sich noch einen halbwegs objektiven Standpunkt bewahrt hatten, auf der Tribüne des Parlaments als »Revolverpresse«. Daraufhin forderte ihn der Journalist Rudolf Meyer zu einem Duell auf Pistolen. Bamberger indes nahm als Mann des Geldes derartige preußische Offizierssitten nicht so ernst und zog seine Beschuldigung zurück. Otto Glagau entrüstete sich: »Herr Ludwig Bamberger, und mit ihm die liberale Presse, leiden an einer großartigen Begriffsverwirrung, wenn sie solche Blätter, welche die manchesterliche Mißwirtschaft enthüllen, die Ausplünderung des Volkes durch Gründer und Börsianer verdammen, als Revolverpresse bezeichnen. Zur Revolverpresse gehören vielmehr die Börsenblätter, die gegen Geld und gute Worte frevelhaften Schwindel unterstützt und gefördert haben.«
»Und sie kamen in hellen Haufen«
Die pausenlosen Anfeuerungskampagnen der Hauptstadtpresse verfehlten ihre Wirkung nicht. Kaum war wieder eine neue Gesellschaft gegründet, waren Hochglanzprospekte verschickt und hymnische Zeitungsartikel plaziert worden, da fieberte denn auch bereits das Publikum nach den Aktien. Schon damals bedienten sich die Gründer der Methoden der Massenpsychologie, um die Kauflust anzuheizen. Sie erzeugten künstliche Knappheit und suggerierten dem Publikum, daß nur derjenige eine Chance habe, schnell reich zu werden, der sofort zugreife.
Die Aktien der neuen Gesellschaft wurden an einem bestimmten Tag bei drei oder vier Banken Berlins zur Zeichnung aufgelegt, und nur wer schon am ersten Tag zugriff, bekam die Papiere noch zum Ausgabekurs von ~ oo Prozent angeboten. Otto Glagau schildert, was sich da in den Schalterhallen der Banken abspielte: »Und sie kamen in hellen Haufen, sie versperrten die Straße, sie belagerten das Haus. Und als die Türen sich endlich öffneten, quoll der Strom herein, und in einem Augenblick waren die ausliegenden Bogen mit Unterschriften bedeckt. Der eine zeichnete 100 Thaler, der andere 500, der dritte 1.000, der vierte 3.000, der fünfte 10.000 Thaler. »Drei?, fünfmal überzeichnet!, »Kolossal überzeichnet!«, meldeten noch am selben Abend die Zeitungen im Chor.«
Das ganze Theater war indes von den Gründern der Gesellschaft sorgfältig inszeniert worden: Jene Leute, welche sich an der Zeichnungsstelle drängen und stoßen, sind Commis und Ausläufer von verbündeten oder befreundeten Geschäftshäusern, oder gemietete Dienstmänner, welche man heute in Paletot und Zylinder gesteckt hat; und zu ihnen gesellen sich Müßiggänger und Neugierige. Hin und wieder verirrt sich auch mal ein Privatmann; getäuscht von dem Treiben, zeichnet er eine Summe und erhält sie trotz aller »Reduktionen« unvermeidlich und volle, beobachtete der Autor der »Gartenlaube«.
Die »Häusern und die?großen Häuser«
In Wahrheit waren die Papiere natürlich keineswegs so leicht abzusetzen, wie die von den Zeitungen beschriebenen Szenen vermuten ließen. Doch der scheinbare Erfolg steckte an, und allmählich interessierten sich immer mehr kleine Beamte, Arbeiter und Dienstboten für die wundersamen Aktienpapiere, die einen anscheinend über Nacht aller materiellen Sorgen entheben konnten.
Das Zentrum aller Wünsche und Sehnsüchte, aller Gründeraktivitäten und Kursmanipulationen war die Börse, die zwar in Berlin schon seit 1716 existierte, aber nie zuvor so populär war wie in den wilden Gründerjahren. Der klassizistische Bau an der Ecke Burg? und Neue
Friedrichstraße barg den größten geschlossenen Raum Berlins. Der Börsensaal? Beleg für die enorm gewachsene Bedeutung des Aktiengeschäfts? war dreimal so groß wie der früher viel bewunderte Königssaal im Kroll?Bau und faßte über 5.000 Personen. Ein Zeitgenosse beschrieb das Schauspiel, das sich bot, wenn kurz vor Mittag die 13 Türen, die von der Vorhalle in den eigentlichen Börsensaal führten, geöffnet wurden:
»Von allen Seiten strömen die Jünger Merkurs herbei. Sie kommen zu Fuß und zu Wagen, in Droschken zweiter und erster Klasse, auch in eigenen, oft kostbaren Equipagen, mit galonierten Kutschern und Bedienten. Es kommen die Jungen Leute«, die Boten und Ausläufer; es kommen die Makler, Agenten und Banquiers; es kommen die »Häuser« und die Großen Häuser». Alles drängt und flutet in das Vestibül, wo ein Portier und zwei Kontrolleure Wache halten? drei stattliche Figuren in schmucker Uniform und, wie alle Bedienstete und unteren Beamten, christlich?germanischer Abkunft. Links geht es zur Fonds? oder Geldbörse, rechts zur Produkten? und Warenbörse.
Eine mächtige Tür, in Form eines mit grünem Tuche ausgeschlagenen Drehkreuzes, das man geschickt und behutsam benutzen muß, bildet den Zugang. Bei jeder Umdrehung werden wohl ein Viertelhundert Personen befördert, und zwar im Geschwindeschritt. Trotzdem schlüpft so leicht keiner durch. Der Kontrolleur kennt jeden, und wen er nicht kennt, den hält er an und fragt nach der »Karte« oder nach dem?Hauses und führt den Unberechtigten höflich am Kragen wieder hinaus.«
Das Spiel an der Börse
Die Spielregeln an diesem größten Geldumschlagplatz des Deutschen Reiches waren viel lockerer als an den heutigen Wertpapierbörsen. Es gab noch keine Aufsichtsbehörde, und auch die spekulativsten Börsengeschäfte wie etwa der Terminhandel waren nicht verboten. Es wurde gejobbt und gedealt, daß ein zeitgenössischer Beobachter schrieb: »Gegen das Spiel an der Börse sind alle Hasardspiele bloße Kindereien, sind sogar die aufgehobenen »Spielhöllen« unschuldig zu nennen. In Homburg oder Baden?Baden konnte man doch nur so viel verlieren, als man gerade bei sich hatte. Beim »Differenzeln« an der Börse aber weiß man nie, wieviel man verliert; man kann in einer Stunde mehr verlieren, als man überhaupt besitzt. Das Börsenspiel ist so halsbrecherisch und gemeingefährlich, daß es die Regierungen nimmermehr dulden sollten... Sicher ist, daß hier viele Familien ruiniert werden und der Teufel hier eine reiche Ernte hält.« Die von der Stimmung der Zeit erfaßten Berliner ließen sich indes durch solche Einsichten nicht von ihrem festen Entschluß abbringen, mit Hilfe der Aktienspekulation mühelos reich zu werden. Scharenweise liefen sie? wie heute Zahnärzte und andere Spitzenverdiener den Abschreibungskünstlern? damals den Gründern nach, die sich immer phantasievollere Projekte einfallen ließen.
Die »Flora« ist eine Sumpfblüte
Eine der typischen Berliner Gründungen jener Jahre war die »Flora«. Die Idee zu dem großartigen Plan? die »Flora« sollte ein der Kaiserstadt würdiges Vergnügungszentrum werden, mit Sommer? und Wintergärten, Palmenhäusern und Festsälen? stammte von dem damals größten Baulöwen Berlins, einem Unternehmer namens J. A. W. Carstenn. Der aus Hamburg zugewanderte Großspekulant hatte in wenigen Jahren ein Millionenvermögen verdient, indem er Wiesen und Acker vor den Toren der Stadt billig aufkaufte und dann in Bauland »umwandelte«? nicht anders als die Baulöwen unserer Tage.
Seinen größten Coup landete der später geadelte Immobilienkrösus, der u. a. auch die komplette von Steglitz bis Charlottenburg führende Kaiserstraße erstellte, mit dem Bau des Stadtteils Lichterfelde. Als Carstenn seine Landund Baugesellschaft Lichterfelde AG gründete, bestand diese heute dicht bebaute Region Berlins aus einem verlassenen Dorf und kahlen Äckern. Carstenn machte aus dem trostlosen Flecken in kürzester Zeit eine ansehnliche Villenkolonie mit gleich zwei Bahnhöfen.
Zuerst kaufte er den Lichterfelder Bauern ihr Land zu einem Spottpreis ab, gab es dann mit einigen hunderttausend Talern Gewinn an die von ihm gegründete Baugesellschaft weiter und ließ danach auf Kosten seiner Aktionäre Villen erbauen, die wiederum mit erklecklichem Profit an betuchte Berliner verscherbelt wurden.
Der Trick mit der Kadettenanstalt
Damit die verwöhnten Hauptstädter Gefallen an einem Landsitz in der bisher wenig einladenden Gegend fanden, dachte sich der rastlose Gründer einen besonderen Trick aus: Er schenkte dem Kaiser in Lichterfelde ein großzügig bemessenes Areal zum Bau einer neuen Kadettenanstalt. Und da die Preußen zu Beginn des Bismarckreiches nichts so sehr faszinierte wie das Militär, hatte Carstenn später keine Mühe, die in unmittelbarer Nachbarschaft der künftigen Offiziersausbildungsstätte gelegenen Luxushäuser an den Mann zu bringen.
Achtungsvoll meldete die »Nationalzeitung« in ihrer Abendausgabe vom 18. Dezember 1871: »Seine Majestät der Kaiser hat sich in einem Schreiben sehr anerkennend über den Plan ausgesprochen. Der General a la suite des Kaisers, Freiherr von Steinäcker, wurde zum Vorsitzenden des Verwaltungsrats gewählt und eine Stelle für ein von Seiten des Kriegsministers zu delegierendes Mitglied offengehalten.« Klar, daß der Kurs der Land? und Baugesellschaft Lichterfelde AG sofort anzog. Nach dem ersten Geschäftsjahr schüttete die Carstenn?Gesellschaft an die Aktionäre 25 Prozent Dividende aus, und der Aktienkurs stieg weiter. 1873 indes gab es nur noch 5 Prozent Dividende, und im Jahr darauf gar nichts mehr. Die Aktien, die ihren Gipfel beim Kurs von 155 erreicht hatten, sackten nun bis auf 18 ab.
Ein ähnliches Debakel sollte auch die Aktionäre der »Flora« erwarten, für die sich Carstenn wiederum einige nette Bonbons ausgedacht hatte. Das Projekt paßte zweifellos in die Zeit: ein luxuriöser Tanz? und Vergnügungspalast für die Emporkömmlinge aus der Gründergeneration. Mit sicherem Instinkt für die Sehnsüchte seines Publikums offerierte Carstenn seinen Aktionären neben einer »sicheren« Dividende von I2 Prozent das Recht auf freien Eintritt in den künftigen Berliner Lust? und Musentempel. Und selbstverständlich sollte dieses Recht auch für die Familienmitglieder seiner Geldgeber gelten.
Das Unternehmen lief nach bewährtem Schema ab: Zuerst kaufte Carstenn zusammen mit dem reichen Rittergutsbesitzer Ludwig Ebers in aller Heimlichkeit ein großes Parkgrundstück in Charlottenburg auf, in dem vorher das Steinsche Schloß gestanden war. Dann gründeten die beiden Grundstückseigner die sogenannte Aktiengesellschaft Flora undluden zur Generalversammlung am 26. September 1871 alles ein was in Berlin Rang und Namen hatte.
Der Dachstuhl stürzt ein:
Für den Verwaltungsrat des Unternehmens gewannen die cleveren Geschäftemacher Notabeln wie den Fürsten von Putbus, den Polizeipräsidenten von Wurmb sowie diverse geheime Kommerzienräte und Legationsräte. Mit am Tisch saßen freilich auch einige der berüchtigtsten Gründerfiguren, wie etwa Heinrich Quistorp, der es an Reichtum und Zahl seiner Gründungen durchaus mit Carstenn aufnehmen konnte, sowie der beinahe ebenso gerissene Vielzweckunternehmer Jean Fränkel. Damit die Berliner High Society auch kräftig von ihrem Recht, Aktien des noblen Unternehmens zum Subskriptionspreis kaufen zu dürfen, Gebrauch machte, warfen die Gründer einen besonders ansehnlichen Köder aus. Die Lucca, damals die gefeiertste Primadonna Berlins, werde regelmäßig in der »Flora« auftreten, versprach Carstenn, und damit dies auch klappte, ernannte er zum ersten Direktor des Etablissements den Ehemann des Stars, einen Herrn von Rhaden. Die Gründer hatten damit, so dachten sie wohl, ihre Pflicht und Schuldigkeit getan und konnten nun getrost zusehen, wie aus dem schönen Plan Wirklichkeit wurde. Der nächste Schritt, die Zeichnung des Aktienkapitals, machte noch keinerlei Schwierigkeiten, da die Berliner von der großartigen Idee offenbar angetan waren. Lediglich die Bauarbeiten kamen ein wenig schleppend in Gang, und im März 1873 stürzte der Dachstuhl des noch nicht vollendeten großen Saales ein. Die für dieses Frühjahr verhießene Eröffnung mußte um ein volles Jahr verschoben werden.
»Es herrscht die tollste Mißwirtschaft«
Erst im Mai 1874 berichteten die Zeitungen über die Eröffnung, doch fertig war das Bauwerk noch lange nicht. Das ganze Unternehmen krankte, wie so viele Projekte jener Tage, am typischen Gründerfieber: Alle Beteiligten wollten zu viel dabei verdienen und zu wenig dafür tun. Die »Gartenlaube« lieferte einen Situationsbericht: »Auch sonst herrscht die tollste Mißwirtschaft. Aufsichtsrat und Vorstand sind häufig zugleich Gläubiger der »Flora«, besitzen Wechsel auf dieselbe oder haben sich Inventarienstücke verpfänden lassen. Die nötigsten Utensilien sind zum Teil entliehen und kosten eine horrende Miete. Auch die Restauration gab lange zu klagen, bis der Inhaber an einem schönen Julitage auf die Straße flog, gerade als die in Charlottenburg tagenden Ehrengäste bei ihm zu dinieren gedachten. Sein Nachfolger ist binnen wenigen Monaten bankrott geworden, aber nicht gerade durch seine Schuld. Man hatte ihm nur die Küche überlassen, nicht die Getränke, weder die Weine noch das Bier. Trotzdem mußte er das ganze Heer der Kellner halten und lohnen. Das Bier schenkt für eigene Rechnung der Präsident des Aufsichtsrates, Herr Julius Pickartt, da er zufällig auch Generalpächter der Bierhallen ist.«
Auch großangelegte Propagandamanöver wie der Start eines französischen Luftschiffes vom Gelände der »Flora« aus oder eine Lotterie für eine viertel Million Taler brachten das fehlgeleitete Unternehmen nicht wieder in die Gewinnzone. Die »Flora«?Aktien fielen ins Bodenlose, und ihre Besitzer verloren insgesamt über zwei Millionen Taler an dem Vergnügungspalast. Die Gartenlaube wehklagte: »Arme, unglückliche »Flora«! Nie ist ein Weib, und dazu noch eine Göttin, so mißhandele, so schamlos ausgeplündert und bestohlen worden!«
Der »Kaiserhof« ist gut versichert
Glücklos wie die »Flora« blieb auch eine andere, ähnlich hochtrabende Gründung: der »Kaiserhof«. Ein Super?Luxushotel sollte es werden, würdig einer Weltstadt, die Berlin zu werden sich anschickte. Die Macher des großartigen Projektes kamen aus dem Umkreis der eben neu gegründeten Deutschen Bank. Es waren Männer wie der Kommerzienrat Adalbert Delbrück, der Freiherr August von der Heydt und Georg Siemens. Sie gründeten die Berliner Hotelgesellschaft AG, die am Ziethen? und Wilhelmsplatz ihre Nobelherberge mit 262 Fremdenzimmern sowie mit »Luftschachten, Fahrstuhl und Sonnenbrenner« errichten wollte. »Ein Wunder an Komfort, Eleganz und Luxus«, schwärmte die Presse.
Als das fashionable Bauwerk dann endlich fertig war, kam Seine Majestät Kaiser Wilhelm I. höchstpersönlich, um den Fahrstuhl auszuprobieren. Zum Eröffnungsbankett waren Wo Vertreter der Behörden, der Wissenschaften und Künste, der Kaufmannschaft und der Presse eingeladen. Überschwenglich schilderte die »Nationalzeitung« das gesellschaftliche Ereignis: »Vor jedem Gedeck waren neun verschiedene Weingläser aufgestellt. Alle Gläser erklangen. An den schlanken Kelch, mit perlendem Schaum gefüllt, stieß der mächtige grüne Rheinwein?Römer, Burgunder und Mosel begrüßten sich, und der Chablis in der breiten, flachen Schale klang an den funkelnden Bordeaux in schön geschliffenem Kristallglase.«
Neun Tage nachdem der Prachtbau für Gäste geöffnet worden war, nahm das punktvolle Spektakel ein überraschendes Ende. Gäste und Bedienstete verließen das »Musterhotel« in wilder Flucht, und aus den Fenstern flogen Betten, Kleider, Wäsche, Teppiche und Gardinen auf die Straße? der »Kaiserhof« brannte lichterloh. Wie das Feuer entstanden war, konnte nie ganz geklärt werden. Doch bald liefen in Berlin Gerüchte um, den Gründern des Luxushotels sei der Brand nur allzu gelegen gekommen. Tatsächlich stellte sich nun heraus, daß der Bau mit 2,5 Millionen Talern Schulden belastet und erst wenige Tage vor dem Brand bei der Städtischen Feuerkasse erstklassig versichert worden war.
Die Gründer entdeckten den Biermarkt
Wo es hoch hergeht, wird ordentlich getrunken, und das Berlin der Gründerjahre machte da keine Ausnahme. Das beliebteste Getränk war schon damals das Bier, und so war es nur logisch, daß sich die Gründer auch der florierenden Brauereibranche annahmen. Gezapft wurde dreierlei Gerstensaft:
? das einfache »Lager«;? das etwas teurere »Bairisch«;
? die »kühle Blonde«, ein Weißbier, das die Berliner oft mit einer Prise Kümmel veredelten.
In Berlin gab es damals unzählige kleine und mittelgroße Brauereien wie Schwendy, Lipps, Ahrens, Wagner, Patzenhofer, die alle ein recht ordentliches Gebräu lieferten. Auch das einzige »Actien?Bier« der Hauptstadt aus der schon 1857 gegründeten Tivoli AG galt als durchaus trinkbar. Das änderte sich freilich schlagartig, als die professionellen Gründer wie eine Meute durstiger Wölfe über die Brauereien herfielen, sie ihren Inhabern zu weit überhöhten Preisen abkauften und sofort in Aktiengesellschaften umwandelten.
Die Brauereibranche galt als besonders lukrativ, weil sie hohe Wachsturneraten versprach. Denn in jedem Sommer brach in Berlin der Biermangel aus. Da die damaligen Biere nur beschränkt lagerfähig waren, mußten sie schnell getrunken werden. Die Brauereien aber
konnten sich in ihren Kapazitäten nicht am sommerlichen Spitzenbedarf orientieren, weil sie sonst im Winter unweigerlich auf unverkauften Bierseen sitzengeblieben wären.
Prost mit »Dividendenjauche«.
In der warmen Jahreszeit mußte deshalb Gerstensaft aus ganz Deutschland nach Berlin eingeführt werden, und so sahen die Gründer in der vieldiskutierten »Bierfrage« eine Einladung zum schnellen Geldverdienen. Kaum war das neue Aktienrecht in Kraft, schäumte der Biermarkt über. Innerhalb weniger Wochen gab es ein Dutzend neuer Aktienbrauereien, darunter die Firmen Union?Brauerei, Friedrichshöhe, Schultheiss, Bock, Moabit, Schöneberg, Adler, Königsstadt, Sozietäts?Brauerei und Hasenhaide.
Wie es bei diesen Gründungen zuging, verriet der selbständige Brauer Bützow, der sich 1871 von der Vereinigung der Brauereibesitzer trennte: »Man bot mir für meine Brauerei die enorme Summe von 300000 Thalern. Der Kommissionär, der das Geschäft übermittelte, beanspruchte für sich die Kleinigkeit von 25000 Thalern, der eigentliche Hauptgründer verlangte 50000 Thaler, die Banquiers, die das Börsenconsortium bildeten, forderten 225000 Thaler, so daß ein Actienkapital von 600000 Thalern ausgeworfen werden sollten Die Brauerei, die in Wahrheit nur etwa 200000 Taler wert war, sollte den Aktionären also zum dreifach überhöhten Preis angeboten werden. Bützow lehnte das Angebot ab und blieb selbständig.
Spielball der Profitinteresser: Für die Berliner hatte der überschäumende Bierboom nur Nachteile. Das Bier wurde teurer und schlechter, und die Käufer der gepanschten Brauereiaktien verloren den größten Teil ihres Einsatzes. Die »Gartenlaube« notierte: »Um die Bieractien unterzubringen, warf man hohe Dividenden aus; und um bei der ungeheuren Belastung und der kostspieligen, verschwenderischen Wirtschaft überhaupt Dividenden erzielen zu können, produzierte man ein Getränk, dem das Volk mit vollem Reche und höchst treffend den Namen »Dividendenjauche« beilegte. Unter diesem widerlichen Gesöff, das den Durst nicht stillte und doch auch wieder nicht reizte, mancherlei Unbequemlichkeiten und sogar Unpäßlichkeiten erzeugte, litten Publikum und Gastwirte gleichermaßen. Man trank es nur mit Unbehagen und Widerstreben, und man trank natürlich weit weniger als sonst. Selbst leidenschaftliche Biertrinker bezwangen und kasteiten sich.«
Weil die »Dividendenjauche" auch für die Gastwirte immer teurer wurde und andererseits die Gäste sich merklich zurückhielten, verfielen die Berliner Wirte auf einen auch heute noch gängigen Trick: Sie verkleinerten die Gläser und schenkten mehr Schaum als Bier aus. Berüchtigt wurden die sogenannten Fexierseidel, mit zolldickem Boden, fingerdicken Wänden und spitz nach oben zulaufend, die statt einem halben nur noch höchstens einen viertel Liter Bier faßten. Gleichzeitig erhöhten die Gastronomen die Preise um 33 1/3 Prozent.
Weil die meisten Brauereien indes mit viel zu hohem Aktienkapital ausgestattet und schlecht verwaltet waren, mußten sie laufend ihre Dividenden kürzen und dementsprechend Kursabschläge hinnehmen. Union, eine der größten Berliner Brauereien, sackte zum Beispiel an der Börse von 140 auf 65, ab. Die einst prächtig florierende Brauerei von Schwendy konnte 1873 gerade noch 3 Prozent Dividende verteilen, ein Jahr später waren es gar nur 1,5 Prozent.
So wie beim Bier war es überall: Die Aussicht auf schnell verdientes Geld entfachte unternehmerische Aktivitäten wie nie zuvor, aber das Ganze glich einem Strohfeuer, das schnell wieder in sich zusammenfiel. Niemand machte sich mehr die Mühe, auf solide Art zu wirtschaften, alles mußte möglichst schnell gehen und möglichst hohe Gewinne abwerfen. Selbst solide Industriegründungen gerieten so in den Sog des gefährlichen Booms und wurden zum Spielball der Profitinteressen. Eine von ihnen war die Vereinigte Königs? und Laurahütte, das größte Montanunternehmen Oberschlesiens.
Der kombinierte Kohle? und Stahlkonzern, der noch heute den Kern der polnischen Schwerindustrie bildet und zwischen den beiden Weltkriegen dem Siegerländer Konzernbastler Friedrich Flick gehörte, war damals im Besitz des Grafen Guido Henckel von Donnersmarck. Das Unternehmen des schwerreichen Großgrundbesitzers bestand aus mehreren Zechen, Hütten? und Walzwerken und erforderte beträchtliche Investitionen, wenn es zu einem einheitlichen Konzern durchorganisiert werden sollte.
Die Aktionäre werden geprellt
Das Projekt erschien dem Grafen zu groß, und so wandte er sich an den Bankier Gerson Bleichröder, seinen Kompagnon bei den Unterhandlungen mit dem französischen Ministerpräsidenten Thiers. Die beiden Magnaten beschlossen, die gesamten oberschlesischen Berg? und Hüttenwerke des Grafen zusammenzufassen und in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Hätten sie nur dies und nichts anderes getan, wäre die Laurahütte bestimmt nicht die größte Fehlspekulation der Gründerjahre geworden. Bleichröder und Henckel aber trieben das Aktienkapital nach bester Gründersitte auf das Doppelte des wahren Unternehmenswertes hoch? wobei beide klotzig verdienten? und manipulierten den Kurs an der Börse nach allen Regeln der Kunst.
Im Vertrauen auf den guten Ruf der Hüttengründer kamen die Zeichner scharenweise herbei, und die Aktien des neuen Unternehmens kletterten unaufhörlich bis auf die Rekordmarke von 270. »Hätte man sich beschränkt und das Publikum nicht durch Agiotage ausgebeutet, so wäre gegen diese Gründung nichts einzuwenden gewesene, urteilte ein zeitgenössischer Kritiker in der »Neuen Börsenzeitung«.
Das Agio aber? die Differenz zwischen dem echten Unternehmenswert und dem an der Börse ausgestreuten Aktienkapital? betrug schlichte 100 Prozent, und so sackte der Kurs nach dem Wiener Börsenkrach bis auf 80 ab, und Hunderte von Aktionären büßten zwei Drittel ihrer Ersparnisse ein. Ähnlich erging es ihnen mit den anderen großen Bleichröder?Gründungen, den Kohletrusts Shamrock und Hibernia im Ruhrgebiet.
»Alles muß noch höher steigen«
Der nach Bleichröder zweitmächtigste Bankier des Kaiserreichs, Adolf Hansemann, Chef der Disconto?Gesellschaft, war der Urheber des folgenschwersten Gründungsschwindels im Ruhrgebiet. Hansemann tat sich mit dem Essener Eisenhändler Friedrich Grillo zusammen, der verschiedene Zechen zur Dortmunder Union zusammengefaßt hatte. Die Aktien des Unternehmens, an dem auch die Oppenheim?Bank in Köln und die Rothschilds beteiligt waren, erschienen an der Börse zunächst zum Kurs von 110, dann stiegen sie unaufhörlich bis 228, ehe sie nach dem Börsenkrach auf lächerliche 12 Taler absackten.
Der frohere Eisenbahnkönig Strousberg meinte dazu: »Das Übel bestand in der schrecklichen Weise, wie die Agiotage betrieben wurde, und das Eigentümliche dabei ist, daß Grillo glaubte, nichts wäre hoch genug, alles müsse noch höher steigen. Er ist zuletzt, wenn auch nicht mit vielem, sitzengeblieben und in die Lage gekommen, einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Reichtums zu verlieren.«
Schon damals gab es Hausbesetzungen
Der »kleine Mann« erlebte den Gründerschwindel, sofern er seine Ersparnisse nicht gerade in Aktien investierte, vor allem als Mieter. Denn nirgendwo trieb die Spekulationswut solche Blüten wie auf dem Wohnungsmarkt. Die Parallelen zur Gegenwart sind verblüffend: Schon damals gab es gezielte Wohnraumvernichtung zugunsten protziger Büropaläste, bereits in jener Zeit grassierte der Mietwucher, gab es künstlich erzeugte Wohnungsnot. Selbst Hausbesetzungen sind keine Erfindung unserer Zeit, denn auch schon damals verzeichneten die Berliner Polizeiakten die Zwangsräumung von Wohnhäusern, in denen sich Obdachlose zum Nulltarif eingenistet hatten.
Der Konjunkturaufschwung nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich bescherte Berlin einen Bevölkerungszuwachs wie nie zuvor. Aus allen Teilen des Reiches strebten Abenteurer und Karrieremacher, Dienstmädchen und Salondamen, Arbeiter und Handwerker in die Hauptstadt, um hier ihr Glück zu machen. Besonders stark war der Zustrom an Landarbeitern, Tagelöhnern und Dienstboten aus den großen Rittergütern im Osten; sie alle hofften, in der Metropole dem Frondienst und ihrem unwürdigen Dasein zu entkommen. Doch was sie in Berlin erwartete, war häufig noch schlimmer. Denn auf dem Land gab es immerhin genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Daran aber mangelte es im Millionendorf an der Spree, seit das Gründerfieber ausgebrochen war.
Primitive Verschläge für die Armen
Anno 1867 standen in Berlin noch gut 8600 Wohnungen leer, fünf Jahre später waren es kaum noch 1000. Diese Zahlen allein aber sagen noch gar nichts über die eklatante Wohnungsnot in der deutschen Hauptstadt aus, denn die meisten der leerstehenden Wohnungen wa
ren viel zu teuer und zu groß für die mieterlosen Neuankömmlinge. In Wahrheit gab es Zehntausende Obdachlose, die in Barackenlagern vor der Stadt kampierten, unter Brücken oder in ausrangierten Eisenbahnwaggons nächtigten. Selbst unter den Drehscheiben der Berliner Bahnhöfe hatten sich die heimatlosen Zuwanderer einquartiere.
Der stetige Zustrom an Neubürgern trieb die Mietpreise ebenso in die Höhe, wie das die im Gründerboom steigenden Einkommen taten. Hatte vor 1870 bei einer normalen Berliner Familie des mittleren Beamtentums etwa ein Sechstel des Haushaltseinkommens für die Miete gereicht, so schluckte die Wohnung imJahr 1872 bereits rund ein Viertel des Verdienstes.
Alle, die am Gründerboom profitierten, stellen nun höhere Ansprüche an Größe und Ausstattung ihrer Wohnung. In der Innenstadt wurden planmäßig Wohnhäuser abgerissen, um Platz für die Verwaltungspaläste der vielen neuen Aktiengesellschaften, der Banken und Versicherungen zu schaffen. Die Direktoren und Aufsichtsräte, die Börsenmakler und Spekulanten richteten sich repräsentative Stadthäuser ein, bauten protzige Villen rings um den Tiergarten und trieben allgemein das Preisniveau für Wohneigentum in die Höhe. Die Arbeiter, Handwerker und kleinen Beamten, die zuvor noch im Innenbezirk der Stadt gewohnt hatten, verließen allmählich das teure Terrain und zogen hinaus in die Vororte.
Berlin wird Weltstadt
Auf dem Tempelhofer Feld, dem heutigen Flughafengelände, entstand »Barackia«, eine provisorische Siedlung aus Weilblechhütten und primitiven Verschlägen für die Ärmsten der Armen.
Als die »Gründer« sich des Berliner Wohnungsmarktes annahmen, dachten sie freilich nicht an preiswerte Mietunterkünfte, sondern an prunkvolle Gebäude für die gut betuchten Schichten des Volkes. »Berlin wird Weltstadt« hieß der Slogan, der sie anfeuerte. Es war der Titel eines Theaterstücks von David Kalisch, das damals an Erfolg alle anderen Stücke weit übertraf. Tatsächlich aber hielt die Hauptstadt des neuerstandenen Deutschen Reiches noch keinen Vergleich mit ihren großen Vorbildern Paris und London aus.
Waren dies längst Millionenstädte, so zählte Berlin anno 1870 erst gut eine halbe Million Einwohner. Doch schon ein Jahr später waren es 824000 und 1873 bereits über gooooo. Berlin war die am schnellsten wachsende Hauptstadt in Europa. Doch noch immer glich das Straßenbild dem der verschlafenen Residenz des Alten Fritz, als im Juni 1871 die große Parade zu Ehren des Sieges über Frankreich stattfand. Nie zuvor hatten die Deutschen so offen ihre militärische Macht demonstriert wie an diesem strahlend blauen Sommertag, als der von Wilhelm I. sowie von Bismarck und den Generalfeldmarschällen Moleke und Roon hoch zu Roß angeführte Troß an den begeistert winkenden Berlinern vorbeizog. 42000 mit Blumen und Lorbeerkränzen geschmückte Soldaten folgten dem Deutschen Kaiser auf seinem Triumphzug durch Berlin. Baronin Hildegard von Spitzemberg, die mit ihrem Tagebuch eines der interessantesten Dokumente aus jener Zeit hinterließ, notierte hingerissen: »Der stolzeste Anblick waren die Unteroffiziere aus allen deutschen Corps, die den Truppen voraus die 81 französischen Fahnen und Adler trugen.«
Chicago an der Spree
Das große Tschingderassa läutete eine neue Epoche in der Geschichte der Hauptstadt ein. Plötzlich Baten sich überall im Stadtgebiet Baugruben auf, versanken die alten, idyllischen Häuschen in Schute und Staubwolken, entstanden quasi über Nacht neue Paläste im Seil des Klassizismus, der Neorenaissance oder gar der Neugotik.
Eine Weltstadt etwa mit dem Flair von Paris wurde Berlin indes nie, eine Geldstadt freilich war es schon damals: »Mit seiner günstigen geographischen Lage und nunmehr voll durch Eisenbahnen und Kanäle erschlossen, wurde Berlin zu einem Handelszentrum mit einem sich ständig ausdehnenden Industriegebiets, schrieb der amerikanische Historiker Fritz Stern.
Der spätere Gründer der AEG, Emil Rathenau, erfand für die dynamische Hauptstadt des Kaiserreiches einen Titel, den die Berliner damals als Beleidigung auffaßten: Chicago an der Spree. Wie in der amerikanischen Schlachthofmetropole am Michigansee drehte sich auch im Berlin der frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einfach alles um den Profit.
»Grauenhafte Mißgeburten.«
Die Reichen bauten sich im Westen der Stadt ihre Villen, die Armen vegetierten in trostlosen Mietskasernen dahin. Jahrzehnte später klagte der deutsche Historiker Friedrich Meinecke über das Berlin der Gründerjahre: »Hier steht ein assyrischer Tempel neben einem Nürnberger Patrizierhaus, ein bißchen weiter schimmert Versailles auf, dann muß man an den Broadway, an Italien oder Ägypten denken? grauenhafte Mißgeburten einer technisierten Bierphantasie.«
Der Historiker sprach vielen Deutschen aus dem Herzen, als er feststellte: »Wir denken mit Beschämung heute zurück an den ordinären Rausch der Gründerzeit, an den ahnungslosen Obermut, mit dem ein trivialer Liberalismus den Kulturkampf führte... Wir trauern über den ästhetischen Stumpfsinn, mit dem man es ertrug, daß das alte, liebe, bescheiden feine Deutschland unserer Jugendzeit, der stille Reiz unserer alten Städte, Gärten und Hausgeräte dem billigen Putze der Massenindustrie und des Massengeschmacks zum Opfer fielen.«
In jenen Tagen entstand aber auch eine Form des Bauens, die wir heute schon wieder eher liebevoll denn abschätzig als Gründerzeitarchitektur bezeichnen: überdachte Einkaufspassagen, mit verschwenderischer Pracht ausgestattete Kaufhäuser, Glaspaläste aus Stahlrippenkonstruktionen und pompöse Denkmäler. Alles mußte groß, wuchtig oder, um ein Modewort der Zeit zu gebrauchen, »kolossal« wirken. In Berlin entstanden so typische Gebäude wie der Potsdamer Bahnhof, das Palais Royal und die Kaisergalerie, eine glasüberdachte Passage zwischen der Behrenund Friedrichstraße.
Aus Kartoffelackern werden Bauparzellen
Nirgendwo zeigte sich die Vitalität, aber auch die Geschmacklosigkeit und Brutalität der Gründerperiode deutlicher als im Geschäft mit Häusern und Wohnungen. Angeekelt schrieb Otto Glagau:
»Die Gründer bemächtigten sich der >Wohnungsfrage<, sie erklärten, der »Wohnungsnot« abhelfen zu wollen, und gründeten zu diesem Zweck Aktiengesellschaften über Aktiengesellschaften. Sie kauften Häuser und Grundstücke in der Stadt und legten sie nieder, sie kauften öffentliche Gärten und Etablissements und verwandelten sie in Bauplätze; sie kauften die Kartoffeläcker und Gemüsefelder in den Vorstädten, die Wiesen, Sümpfe und Sandschollen vor den Toren, die Weiden und Ländereien der benachbarten Dörfer und steckten überall Häuserzeilen und Straßenviertel ab. Aus den Gärtnern der Vorstädte, aus den Bauern der Umgegend wurden große Kapitalisten, die nicht recht wußten, was sie mit ihrem Gelde anfangen sollten und es bald der Börse zutrugen. In zweimaligem Umkreise von Berlin gab es plötzlich keine Äcker und Felder mehr? nur noch Baustellen und Baugründe.« Noch schneller, als die Häuserzeilen hochgemauert wurden, erschienen die Namen immer neuer Baugesellschaften auf den Kurszetteln der Börsenmakler. Binnen weniger Monate etablierten sich annähernd wo neugegründete Aktiengesellschaften in Berlin, die vorgaben, für neuen Wohnraum sorgen zu wollen. Ein Statistiker beim Berliner Bauamt, Hans Schwabe, rechnete aus, daß die in Aussicht gestellten Neubauten für eine Bevölkerung von neun Millionen ausreichen würden, daß Berlin also, wenn sämtliche Projekte verwirklicht würden, dreimal größer als London wäre.
Zum Glück gingen die meisten dieser Baugesellschaften pleite, ehe sie auch nur den ersten Backstein setzen konnten. Viele von ihnen hatten das ernstlich auch gar nicht vor, sondern wollten lediglich mit dem Grund und Boden spekulieren. Und dieses Geschäft florierte damals wie heute: An und außerhalb der Börse wurden Grundstücke wie Effekten verhandelt, wurden die?Schlußscheines von Häusern mit immer höherem Aufgeld bezahlt. Die Preise erreichten eine fabelhafte Höhe, standen bald in keinem Verhältnis mehr zu dem Mietserträgnis und zu dem eigentlichen Werte der Baulichkeiten; jeder Maßstab ging verloren, ganz willkürliche Schätzungen gewannen die Oberhand, es blühte der Schachers, berichtete die »Gartenlaube«.
Ein Spekulant erhängt sich
Das Blatt schilderte den Fall eines Hausbesitzers, der sein Anwesen für 120000 Taler zu verkaufen gedachte. Es meldeten sich jedoch so viele Interessenten, die sich gegenseitig überboten, daß er schließlich 250000 Taler dafür erlöste. 14 Tage später aber hörte er, daß sein ehemaliges Haus von einer Bank für 400000 Taler erstanden worden war. Aus Wut und Verzweiflung hängte er sich kurz danach auf.
Im Berlin der Gründerzeit stiegen die Grundstückspreise noch schneller als 100 Jahre später im Frankfurter Westend. Baulöwen wie Her
mann Geber, Heinrich Quistorp, J. A. W. Carstenn oder Paul Monk verdienten in kürzester Zeit Millionen an der Grundseücksspekulation. Doch die meisten Berliner Bodenmillionäre konnten sich nicht lange an ihrem schnell erworbenen Reichtum erfreuen, denn nach dem Börsenkrach brach auch der Immobilienmarkt zusammen.
Täglich hagelte es nun Pleiten von Baugesellschaften, die ihre Schulden nicht mehr bezahlen konnten, weil ihre Grundstücke nur noch halb soviel wert waren wie zur Zeit der Kreditaufnahme. Die Zahl der leerstehenden Wohnungen stieg sprunghaft auf über 4000 an, und rund 20 Millionen Taler, so schätzte der Statistiker Schwabe, lagen brach.
Barrikadenkrieg gegen Obdachlose
Die wahnwitzige Grundstücksspekulation hatte die Wohnungsnot in Berlin nicht verringert, sondern noch vergrößert: Im Juli 1872 kam es zu heftigen Barrikadenkämpfen zwischen der Polizei und randalierenden Obdachlosen. Ausgelöst wurde der Aufruhr, als Polizisten auf Antrag eines Spekulanten einen Tischler aus seiner Wohnung in der Blumenstraße zerrten. 600 Schutzleute in Uniform und ebenso viele in Zivil konnten den Aufstand nur mit Mühe unterdrücken.
Sogar das Militär in den Garnisonen rund um Berlin stand in Alarmbereitschaft, und ein Bürgerkrieg schien nicht ausgeschlossen. Einer der Offiziere, der spätere König von Württemberg, schrieb nach Hause: »Es wäre ein fürchterliches Gefühl gewesen, unter Umständen gegen wohnungslose Volksgenossen, zum Teil heimgekehrte Kriegskameraden, kämpfen zu sollen!«
Damals entstand das bekannte Lied von Georg Herwegh, das in Berlin schnell zum Gassenhauer wurde:
»1870 und drei:
Reich der Reichen, da stehst Du, juhe!
Aber wir Armen,
verkauft und verraten,
denken der Proletariertaten.
Noch sind nicht alle Märze* vorbei«
* Anspielung auf die im Marz 1848 ausgebrochene Revolution
Das Ende des Gründerbooms, der dem Historiker Sartorius von Waltershausen als »eine Epidemie entfesselter Geldgiere erschien, begann schon einen Monat früher als das Lied suggerierte, nämlich am 7. Februar 1873. An diesem Tag enthüllte Eduard Lasker, der Führer der Nationalliberalen Partei im preußischen Abgeordnetenhaus, einige typische Schwindelmanöver des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg, in die hohe politische Würdenträger wie der Handelsminister Graf Itzenplitz oder der Geheime Kommerzienrat Wagener und Notabeln wie der Fürst Putbus und der Prinz Biron verwickelt waren.
Ein Abgeordneter entlarvt den Schwindel
Laskers Enthüllungen über die Vorgänge beim Bau der Pommerschen Centralbahn und der Berliner Nordbahn schlugen in Berlin wie eine Bombe ein, obwohl Eingeweihte schon lange davon wußten. Spaltenlang berichteten die Zeitungen über den sensationellen Aufstieg des einst mittellos gestarteten Eisenbahnkönigs, der eigentlich Baruch Hirsch Straußberg hieß und zeitluveilig als reichster Mann in
Deutschland gegolten hatte.
Genüßlich Selektierten sich die Zeitungsleser an den Storys über Korruption und Schwindelmanöver, über riesige Gewinne und schlampige Verwaltung. Der Präsident des Reichskanzleramtes, Rudolf Delbrück, kommentierte den wachsenden Unmut über die Praktiken der Gründer mit Zynismus: »Es liegt außerhalb der Macht einer jeden Gesetzgebung, Leute, die nun einmal ihr Geld los sein wollen, daran zu hindern.« Doch die Lawine, die Lasker mit seiner Enthüllungsrede losgetreten hatte, war nicht mehr aufzuhalten.
Das Echo kam aus dem Süden: Im April 1873 liefen in Wien Gerüchte um, zwei der größten Banken stünden vor dem Zusammenbruch. Sofort setzte ein Sturm der Aktionäre und Sparer auf die Schalterhallen ein, jeder wollte seine Wertpapiere so schnell wie möglich verkaufen. Die Kurse purzelten von Minute zu Minute schneller abwärts.
Noch glaubten die Berliner Gründer, die Wiener Panik sei eine typisch österreichische Erscheinung, und selbst der bekannte Nationalökonom Joseph Nenwirth urteilte: »Es ist eine streng lokalisierte Börsenkrisis und nichts weitern Doch die Wirtschaftssysteme der jungen Industriestaaten waren schon viel enger verflochten, als die Theoretiker dies vermuteten.
Die Kurse stürzen ins Bodenlose
Zwar gab es in Berlin tatsächlich vorläufig nur geringe Kursabschläge, doch im Sommer kamen Meldungen über den Atlantik, daß in Amerika die große Krise der Eisenbahngesellschaften ausgebrochen sei. Nun gab es kein Halten mehr? die erste Weltwirtschaftskrise war da. Niemand ahnte freilich, daß sie in die längste und tiefste Depression des Jahrhunderts münden würde.
Die Bilanz des Gründerbooms war trotz aller Auswüchse erstaunlich. In drei Jahren wurden in Deutschland so viele Stahlwerke, Hochöfen und Maschinenfabriken gebaut wie in den vorangegangenen 70 Jahren. 84~ neue Aktiengesellschaften mit einem Kapital von 2,8 Milliarden Mark waren entstanden. Berlin war beinahe zu einer Millionenstadt geworden, und die Deutschen hatten zum ersten Mal jenes Gefühl verspürt, das Ludwig Erhard fast ein Jahrhundert später mit dem Slogan ausdrückte: »Wir sind wieder wer!«
Alles schien ihnen damals zu glücken: auf dem Schlachtfeld wie an der Börse, auf den Weltmärkten wie in der hohen Politik. Das Jahrhundertziel der Deutschen, nämlich England wirtschaftlich zu überholen, war bereits in Sichtweite. Dann kam der Krach, und alle Blütenträume verflogen über Nacht. 61 Banken, 116 Industrieunternehmen und 4 Eisenbahngesellschaften gingen bankrott. An den Börsen sanken die Aktienkurse ins Bodenlose, und noch 1876 lagen die Kurse im Schnitt um S° Prozent unter den Notierungen während des Booms bis zum Februar 1873.
Der Bankier Gerson Bleichröder, der die Krise glimpflich überstanden hatte, schätzte, daß im Börsenkollaps rund ein Drittel des deutschen Nationalvermögens verlorengegangen war. In Berlin standen Zehntausende Wohnungen leer, und unzählige Hausbesitzer konnten ihre Bankkredite nicht mehr zurückzahlen. Deutschland, das sich noch vor kurzem auf dem Weg zu ewigem Reichtum wähnte, stand unverhofft vor dem wirtschaftlichen Abgrund.
»Etwas Gräßlicheres als der Tod«
Niemand wollte mehr investieren, niemand wollte noch etwas kaufen. Die Firmen blieben auf ihren Waren sitzen und mußten die Preise zurücknehmen, und von Gewinnen und Dividenden war längst keine Rede mehr. Die Produktion ging drastisch zurück, die Zahl der Arbeitslosen nahm laufend zu, Löhne und Gehälter mußten gekürzt werden.
Den Schrecken, der damals den deutschen Bürgern in die Knochen fuhr, beschreibt Thomas Mann anschaulich in seinem Roman über die Lübecker Kaufmannsfamilie Buddenbrook. An jener Stelle, an der Tony Buddenbrook vom Bankrott ihres Mannes erfährt, heißt es: »In diesem Augenblick ging alles vor ihr auf, was in dem Wort »Bankrott« verschlossen lag, alles, was sie schon als kleines Kind dabei an Vagem und Fürchterlichem empfunden hatte... »Bankrott«... Das war etwas Gräßlicheres als der Tod, das war Tumult, Zusammenbruch, Schmach, Schande, Verzweiflung und Elend.«
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