- FAZ Kommentar zur FDP, Möllemann und der Antisemitismus-Debatte - Popeye, 05.06.2002, 09:09
- Re: Eine treffende Analyse (owT) - Henning, 05.06.2002, 09:40
- nicht so schlüssig! - Taktiker, 05.06.2002, 10:02
- Re: nicht so schlüssig! - Henning, 05.06.2002, 10:41
- Re: nicht so schlüssig! - Emerald, 05.06.2002, 10:51
- Zitat:"Schussbahn der aufgehetzten Medien":Warum hat denn die CDU Angst davor? - Josef, 05.06.2002, 12:30
- Re: schweigsame CDU - Henning, 05.06.2002, 12:35
- Re: nicht so schlüssig! - Henning, 05.06.2002, 10:41
- Manche sind eben doch gleicher als andere - le chat, 05.06.2002, 10:30
FAZ Kommentar zur FDP, Möllemann und der Antisemitismus-Debatte
Kamel und Nadelöhr
Von Volker Zastrow
Jeder weiß aus dem Privatleben, daß Streit zerstörerisch sein
kann, aber auch konstruktiv. In der Demokratie genießt der
Streit sogar Verfassungsrang: Das formalisierte Ringen um
Entscheidungen bedeutet nichts anderes als Zivilisierung der
Macht durch Institutionalisierung des Streits. Es gibt aber auch
in der Demokratie den zerstörerischen, unzivilisierten Streit, in
dem der politische Gegner keine Achtung mehr genießt und es
nur mehr um die bloße Macht geht, um unbedingten Sieg oder
bedingungslose Niederlage, und in dem die Streitenden
erblinden für die längerfristigen Folgen ihres Handelns. Das
beschreibt die Möllemann/Karsli-Affäre, von der zur Zeit nicht
zu sagen ist, ob sie Voraussetzungen für Rechtspopulismus in
Deutschland schmälert oder schafft.
Woran erkennt man zerstörerischen Streit? Das sichere
Merkmal ist, daß alles Trachten der Streitenden darauf
ausgerichtet ist, die Basis der Gemeinsamkeiten zu zerstören.
Typischerweise werden Aussagen des Gegenübers nicht mehr
ernst, schließlich nicht einmal mehr wahrgenommen, sondern
im Diskurs sogleich kongenial verschärft. Aus Möllemanns
Attacke, Friedman verschaffe mit seiner"untoleranten,
gehässigen Art" den"Antisemiten Zulauf" - ein Vorwurf, der
sogleich auf ihn zurückfiel -, sind inzwischen schon überall
"antisemitische Äußerungen" geworden. Ist diese
Vereinfachung zulässig? Das Nazi-Wort, zunächst vom
nordrhein-westfälischen Grünen-Abgeordneten Karsli
ausgegraben, wird jetzt vom thüringischen Ministerpräsidenten
Bernhard Vogel (CDU) auf Möllemann gemünzt und dessen
angeblichen"Nazi-Vorwurf, die Juden seien schuld am
Antisemitismus". Hat Möllemann das gesagt? Gemeint?
Der destruktive Streit will nicht differenzieren. Jetzt geht es
darum, ob"antijüdische Ressentiments in Deutschland
salonfähig gemacht" werden dürfen (Jürgen Rüttgers, CDU),
um eine Auseinandersetzung zwischen"Möllemann und den
Demokraten" beziehungsweise einen"Streit zwischen der FDP
und der ganzen Bevölkerung" (Paul Spiegel), um einen
"Paradigmenwechsel der deutschen Politik" schlechthin (Franz
Müntefering, SPD). Und von der betroffenen Miene so
manchen Politikers trieft die Genugtuung. Denn man weiß, daß
die Lage keineswegs hoffnungslos ist, vielleicht nicht einmal
ernst - und daß es in Wahrheit nicht um Paradigmen der Politik
geht, sondern um den Trotz eines Mannes.
Der Streit aber gehorcht eigenen Gesetzen. Natürlich kann man
fragen, was er noch mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber das
führt nicht weiter, weil weder über den Anlaß, den Grund noch
den Gegenstand Einvernehmen herrscht. Der Streit selbst ist
jetzt die Realität. Dabei stehen nicht etwa gleich starke Parteien
gegeneinander, sondern in verquerer Symbolik eine einzelne
Gestalt - der angeblich"nicht druckempfindliche" Möllemann -
gegen den Rest der Welt, die sich halb ziehend, halb hinsinkend
formiert. Möllemann wird zum Ungeziefer stilisiert; nicht
einmal mehr zum Kamel taugt er noch, und deshalb werden
jetzt die letzten Nadelöhre verstopft, durch die er noch gestern
hätte gehen oder kriechen können.
Möllemann hat seinen Fehler eingestanden. Was wäre unter
dem gegenwärtigen Druck eine darüber hinausgehende Bitte
um Verzeihung wert? Auch dieser symbolische Streit über die
Entschuldigung offenbart das Aufgebauschte der ganzen
Sache: Von Antisemiten Entschuldigungen zu verlangen wäre
lächerlich. Denen muß man ganz anders begegnen. Was den
Rechtspopulismus betrifft, hat sich Möllemann wiederholt
dagegen, insbesondere gegen Haider, verwahrt. Ungefähr
vorgestern, das nur zur Erinnerung, galt er noch als
Linksliberaler.
Wegen alldem muß man ihn nicht mögen. Aber ihn jetzt
abschießen? Westerwelle hat, nüchtern betrachtet, ja zwei
Probleme: daß er über Möllemanns Eigensinn, dem er unter
anderem den Vorsitz mitverdankt, sowenig herrschen kann wie
über den anderer führender Freier Demokraten der älteren
Generation. Westerwelle wurde genötigt, in eine Machtprobe
mit Möllemann zu ziehen, deren Ausgang - ein Patt mit
gegenseitiger Beschädigung - nicht schwer vorherzusehen war.
Deshalb hat er selbst die Probe auch nicht gesucht. Das war
ihm deutlich anzumerken. Und sein"Ich habe
entschieden"-Getue war eben unverkennbar Getue.
Wenn die FDP ihren Vorsitzenden, der objektiv überfordert und
bereits empfindlich beschädigt ist, nicht ganz zerschreddern
will, dann muß sie schleunigst ihre Reihen schließen. Das kann
sie, wenn sie es kann, nur indem sie sich den destruktiven
Streitritualen verweigert, die derzeit vor allem gegen sie wirken.
Am Anfang ging es noch darum, die Freien Demokraten als
Koalitionspartner für die Sozialdemokraten unmöglich zu
machen - Fischers Kalkül. Jetzt ist, mit der Verselbständigung
des Streits, die Schraube weitergedreht. Die FDP soll auch als
Koalitionspartner für die Union erledigt werden - Münteferings
und Strucks Bestreben. Und drittens geht es schlicht und
einfach darum, die Volkspartei-Ambitionen der FDP mit der
Gegenstrategie einer nachhaltigen öffentlichen Rufschädigung
zu durchkreuzen. Die Union hält schon gehörigen
Sicherheitsabstand.
Sie weiß aus Erfahrung: Die moralische Denunziation des
politischen Gegners ist für SPD, Grüne und PDS ein
unentbehrliches legitimatorisches Element, um das strukturelle
Defizit auszugleichen, das der Linken die Erlangung einer
Stimmenmehrheit in Deutschland erschwert. Nachdem alle
anderen Wahlkampfthemen mit sachlich ernstem Bezug -
einschließlich der weitreichenden Gedankenspiele einer
deutschen Nahostpolitik - sich schon vor der Sommerpause für
Schröder erschöpft hatten, ist ihm nun der
Antisemitismus-Streit wie ein Geschenk in den Schoß gefallen.
Jetzt geht es nicht mehr um Sachentscheidungen, sondern um
Diskursmacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.2002, Nr. 127 / Seite 1
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