- Weise Erkenntnis: 'Das Schlimmste steht uns erst bevor' - Popeye, 22.06.2002, 16:12
- Re: Weise Erkenntnis: 'Das Schlimmste steht uns erst bevor' - kingsolomon, 22.06.2002, 21:52
Weise Erkenntnis: 'Das Schlimmste steht uns erst bevor'
"Das Schlimmste steht uns erst
bevor"
Die Arbeiterpartei hält Scharons Art der
Terrorbekämpfung für wirkungslos / Von Jörg Bremer
JERUSALEM, 21. Juni. Das Konzept der"langfristigen
Rückbesetzung" palästinensischer Gebiete durch die
israelische Armee ist vor allem eine Initiative des
Ministerpräsidenten Scharon und des scheidenden
Generalstabschefs Mofaz. Aus Scharons Büro jedenfalls
kam dazu nach dem verheerenden Anschlag in Jerusalem am
Dienstag die erste Mitteilung. Die Rückeroberung der Städte
im Westjordanland außer Jericho stößt auch auf die
Zustimmung der rechtsnationalen Minister. So ist der
nationalreligiöse Minister im Kabinett Effi Eitam als Sprecher
der Siedler für alles, was das Friedensabkommen von Oslo
restlos zunichte macht. Auch der frühere sowjetische
Dissident Scharanskyi und die ultraorthodoxe orientalische
Schas-Partei denken so. Aber der wichtigste Partner im
Kabinett, die Arbeiterpartei von Verteidigungsminister
Ben-Eliezer und Außenminister Peres, will dies Vorgehen
nicht mittragen.
Ben-Eliezer wird mit der Äußerung zitiert, er könne sich
nicht erinnern, die Entscheidung mit gefällt zu haben, daß
sich die Armee nach jedem Anschlag weiter in bisher
autonome Gebiete einfressen und so lange bleiben werde, bis
der Terror aufhöre. Doch als Verteidigungsminister muß
Ben-Eliezer die Befehle dazu geben. Die Formel"Land für
Terror" wird auch von Peres nicht gutgeheißen; dabei nahm
Peres im Gegensatz zu Ben-Eliezer an der Sitzung teil, bei
der der Beschluß gefällt wurde. Er war offenbar übermüdet;
hatte er doch eigens seinen Balkan-Aufenthalt abgekürzt und
war für die entsprechenden Sicherheitskonsultationen
zurückgekehrt. Am Tag darauf soll Peres dann zu Scharon
ins Büro geeilt sein; der zweite Anschlag innerhalb von 36
Stunden in Jerusalem hatte kurz zuvor - nach 20 am Vortag -
sieben weiteren Israelis das Leben gekostet. Peres versuchte
Scharon zu beruhigen."Wir müssen die Attentäter stoppen,
gegen die (islamistischen) Hamas-Mörder vorgehen. Die
müssen sterben. Doch die Eroberung der Gebiete würde dies
Ziel nicht erreichen, vielleicht sogar das Gegenteil", mahnte
Peres.
Ähnlich äußerte sich der Kulturminister und ehemalige
General Vilnai von der Arbeiterpartei, der einmal statt Mofaz
Generalstabschef werden wollte:"Mein Gott, so kann man
doch keinen Selbstmordterror aufhalten, so wird nur der
Kreislauf des Blutvergießens verlängert. Die schlagen zu,
wir erobern. Wo soll das hinführen? Scharon ist doch ein
intelligenter und erfahrener Mann." Aus ihrer Sicht haben
alle Mittel der Gegengewalt letztlich versagt. Stumpf klingt
da der Aufruf des Polizeiministers Landau vom Likud:"Bis
wir die gesamten Gebiete erobert haben, wird der Terror
nicht nachlassen, und natürlich müssen wir auch nach Gaza
hinein." All diese Eingriffe, Zerstörungen und Besetzungen
sollten die Autonomiebehörde dazu bringen, den Terror selbst
auszumerzen. Tatsächlich aber geschah das nie. Nun gibt es
keine funktionierende Autonomieregierung mehr. An vielen
Orten herrscht Chaos, vor allem in der islamistischen
Hochburg Dschenin.
Die Rolle des Vorsitzenden der Autonomiebehörde, Arafat,
ist unklar. Scharon und Mofaz hoffen auf seine Exilierung.
Washington und Europa geben wohl nichts mehr auf sein
Wort. Zwar ist er der einzige einigende Faktor in den
autonomen Gebieten, aber er wird politisch von Tag zu Tag
schwächer. Jetzt machte er mit einem Aufruf gegen Terror
von sich reden. Er übergab ihn aber bisher nur den
Nachrichtenagenturen - aus"technischen Gründen" trug er
ihn nicht selbst im Fernsehen vor. Arafat solidarisierte sich
mit dem Aufruf von 55 Intellektuellen, unter denen sein
Minister Nusseibeh ist, die die Gruppen"hinter militärischen
Operationen" beschwören, nicht länger junge Männer zu
solchen"Operationen" auszuschicken. Überdies sagte Arafat
im Gespräch mit der Zeitung"Haaretz", er sei bereit, den
"Clinton-Plan" von Anfang 2001 gutzuheißen."Genug ist
genug, kein Krieg mehr." Aber hört ihm noch jemand zu?
Sagt er das zur eigenen Rettung, oder ist das ein
Strategiewandel?
Arafat kann derzeit seiner Nation nicht den"politischen
Horizont" anbieten, der vielleicht ein Anreiz wäre, die als
Helden geltenden Mörder endlich auszugrenzen. Er wartete
wohl bisher genauso auf ein Ende der Amtszeit Scharons,
wie Scharon weiter sein Ende will. Die Islamisten aber und
auch die Al-Aqsa-Brigaden, die über die Fatah mit Arafat
verbunden sind, betreiben den Terror auch, um Arafat und
seine Autonomiebehörde loszuwerden."Für uns hat es die
Autonomiebehörde nie gegeben", sagt zum Beispiel der
Führer des Islamischen Dschihad in Dschenin, Saadi.
Minister Vilnai sagte im Rundfunk, der Kreislauf der Gewalt
könne nicht mit"noch drei Panzern mehr und noch mehr
Hubschraubern gelöst werden". Und wenn es stimme, daß es
niemanden in der Autonomiebehörde als Gesprächspartner
gebe,"dann sage ich, daß dieser Partner geschaffen werden
muß". Die Zeitung"Yediot Ahronot" warf der Regierung vor,
daß sie die"Errungenschaften" der"Operation Schutzschild"
im März nicht genutzt habe. Seither habe es eine Flaute der
Gewalt gegeben, während nun die Islamisten und die anderen
Terror-Gruppen darum wetteiferten, wer am meisten Israelis
ermorden könne:"Die Operation Schutzschild wurde zu einer
vergessenen Geschichte."
Schon müssen wieder 1500 Reservisten zum Krieg gegen die
Palästinenser einrücken. Aber auch mit ihnen ist die Armee
nicht in der Lage, alle autonomen Gebiete zurückzuerobern.
Allein zum Bau des"Schutzzaunes" zwischen Israel und dem
Westjordanland werden mehr Soldaten gebracht, und danach
wird seine Überwachung Kräfte binden. Bei einer
Wiederbesetzung der Palästinensergebiete wäre auch die
zerstörte Autonomiestruktur neuerlich durch die"zivile
Militärverwaltung" der Israelis zu ersetzen, um die
Palästinenser mit Schulen und Krankenhäusern zu versorgen
und den Abfall wegzubringen. Dazu brauchte Israel zwei
Milliarden Euro jährlich aus einem schon jetzt überlasteten
Haushalt. Israel erscheint am Ende mit seinen Optionen und
doch erst noch am Anfang einer neuen Terrorwelle.
Verteidigungsminister Ben-Eliezer warnte:"Das Schlimmste
liegt noch vor uns. Sie planen einen Mega-Terror-Anschlag,
und das muß uns Sorgen machen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.2002, Nr. 142 / Seite 5
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