- Wir sitzen in einem tiefen Schlammloch...und WER sagt das wohl...?! - Tofir, 03.08.2002, 22:22
Wir sitzen in einem tiefen Schlammloch...und WER sagt das wohl...?!
In einem tiefen Schlammloch
Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Norbert Walter über die Folgen der Börsenkrise.
Herr Professor Walter, seit dem März 2000 haben Anleger weltweit 12000 Milliarden Dollar an den Börsen verloren. Wie stark schlägt das nun auf die Realwirtschaft durch?
In Ländern mit großem Aktienbesitz, also in den USA, Großbritannien, Holland oder der Schweiz wird der Aktiencrash tiefe Spuren bei den Konsumausgaben hinterlassen. Vor allem bei den langlebigen Gütern, bei Waschmaschinen, Hausbau oder Autokauf.
Müssen wir nun mit einer erneuten Rezession rechnen?
Die „double dip recession“ ist für die USA nun eine ernst zu nehmende Hypothese. Nach dem Rückgang 2001 und dem durch Lagerkorrekturen ausgelösten Anstieg im ersten Halbjahr 2002 setzt sich jetzt der Aufschwung nicht weiter fort, weil die Investitionen nicht anspringen und der Konsum zur Schwäche neigt.
Anleger befürchten schon eine ähnliche Entwicklung wie in Japan, eine langjährige Stagnation, oder sogar eine Weltrezession wie nach 1929. Steht es so schlimm?
Es gibt strukturelle Ähnlichkeiten. Wie in Japan gab es auch in den USA ein Bubble auf den Aktienmärkten, weniger bei Immobilien. Für Europa gibt es eine zweite Parallele: die demographische Falle. Aber ansonsten sind Europa und die USA nicht mit Japan vergleichbar. Wir haben politisch nicht so sklerotische Strukturen.
Liegt denn jetzt wenigstens der Tiefpunkt der Börsen-Talfahrt hinter uns?
Wenn Murphys Gesetz nicht gilt, wenn also nicht alles schief geht, was schief gehen kann, könnte das der Tiefpunkt gewesen sein. Andernfalls kann es durchaus noch weiter runter gehen.
Neben den Finanzskandalen verunsichern politischen Risiken - Stichwort 11. September. Sind die Goldenen Neunziger endgültig vorbei?
Ja. Der 11. September war eine ähnliche Zäsur wie die Ermordung John F. Kennedys oder der Bau der Berliner Mauer. Die Friedensdividende der Neunzigerjahre gibt es nicht mehr.
Damals wirkte ein Circulus virtuosus: Steigende Aktienkurse ermöglichten den Unternehmen höhere Investitionen und den Verbrauchern mehr Konsum, beides regte das Wachstum an und brachte den Börsen noch mehr Schwung. Stehen wir nun umgekehrt vor einem Jahrzehnte langen Circulus vitiosus?
Ich glaube noch nicht, dass wir jetzt wieder alles nach unten abwickeln, auszuschließen ist eine solche Abwärtsspirale aber nicht. Doch es gibt ein positives Moment: In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich die Anleger daran gewöhnt, dass Finanzmarktanlagen zweistellig rentieren. Mit drei Prozent Rentenmarktrendite geben sie sich nur kurzfristig zufrieden und werden nach anderthalb Jahren spätestens wieder mit den Hufen scharren.
Die Gier besiegt die Angst?
Nicht Gier, aber die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Vielleicht nicht in deutschen oder japanischen Köpfen, aber dass es eine Dekade spiralförmig abwärts geht, dieser fatalistische Glaube passt nicht zu irischen oder spanischen, englischen oder amerikanischen Anlegern. Die haben ein anderes Bild der Welt.
Sie erwarten also nicht eine zehnjährige Baisse wie andere Analysten?
Nein, der Crash auf Raten hat solche Stufen genommen, dass wir nicht so lange warten brauchen, bis wir einen Boden finden.
Sind denn die Wachstumserwartungen von Fed-Chef Alan Greenspan realistisch? Vor zwei Wochen sagte er für 2002 ein Wachstum von 3,5 bis 3,75 Prozent und für 2003 von 3,5 bis 4,0 Prozent für die USA vorher.
Das war nicht mutig, sondern übermütig. Nein, diese Werte sind nicht mehr realistisch. In diesem Jahr dürfte das Wachstum in den USA bei etwa 2,5 Prozent liegen - und das allein wegen des starken ersten Halbjahres. Und wenn die USA im nächsten Jahr 2,5 bis 3,0 Prozent erreichen, wären wir mit einem blauen Auge davon gekommen.
In den vergangenen Jahren war Alan Greespan für die Anleger wie ein Gott. Warum kann er jetzt nicht mehr die Märkte beruhigen?
Die Ikone hat ihren Heiligenschein verloren. Das liegt aber nicht an ihm, sondern am raueren Klima: die Belastungsfaktoren, die er immer thematisiert hat, sind sichtbar geworden: die mangelnde Sparneigung, das Leistungsbilanzdefizit.
Wir haben es heute mit einer Überinvestitionskrise zu tun. Haben deshalb die Zinssenkungen der US-Notenbank so wenig bewirkt?
Ja, die Überinvestition muss durch Nachwachsen der Nachfrageseite bereinigt werden.
Im vergangenen Jahr hat Greenspan noch drastisch die Zinsen gesenkt, jetzt, bei 1,75 Prozent, sind seine Möglichkeiten beschränkt.
Auch diese Zinsen kann man noch senken, aber damit rechne ich nicht - es würde die Märkte auch nicht beruhigen. Vernünftiger wäre es, wenn die anderen großen Player ihre Wirtschaft ähnlich stimulierten wie die Amerikaner.
Sie plädieren für eine international koordinierte Wirtschaftspolitik?
Ja, leider ist in der amerikanischen Administration derzeit niemand, der sich um internationale Makro-Koordination kümmert. Aber die größte Bringschuld haben hier ohnehin die Europäer.
Was sollte Europa tun?
Die EZB sollte die Zinsen senken und die EU über eine sachgerechte Gestaltung ihres Stabilitäts- und Wachstumspaktes nachdenken. Denn die gegenwärtig in Europa praktizierte Fiskalpolitik wirkt angesichts der Krise prozyklisch. Besser wäre es, die konjunkturbedingten Mindereinnahmen herauszurechnen.
Für Deutschland auch die durch die Steuerreform bedingten Mindereinnahmen?
Als Supply-Sider würde ich auch ein temporäres Defizit durch angebotsorientierte Steuersatzänderungen in Kauf nehmen.
Soll denn der Staat den Nachfrageausfall ausgleichen? Für einen Angebotspolitiker argumentieren Sie recht keynesianisch.
Ich habe nichts gegen Keynes, wenn eine keynesianische Situation gegeben ist, und das ist jetzt der Fall. Die Deutschen sollten die Steuersenkungen, die für 2003 und 2005 geplant sind, vorziehen, ebenfalls Infrastrukturprojekte. Auch Frankreich, England und Italien sollten etwas tun. Das funktioniert aber nur, wenn wir gleichzeitig unsere strukturellen Hypotheken etwa bei der Altersvorsorge in Angriff nehmen.
Wenn Sie als Angebotspolitiker für keynesianische Maßnahmen plädieren, dann muss es aber wirklich schlimm um die Konjunktur stehen.
Ja, wir sind in der Tat in einem tieferen Schlammloch, als die derzeit geführte Debatte signalisiert.
Was erwarten Sie denn für Deutschland, wenn ihre Vorschläge nicht aufgegriffen werden?
Dann schreiben wir unser Wachstumspotenzial bei einem Prozent fest. 2002 schaffen wir noch nicht einmal dieses.
Müssen wir, da Märkte zur Übertreibung neigen, mit einer weiteren Abwertung des Dollar rechnen, die unsere Exporte zusätzlich bremst?
Die bisherige Aufwertung des Euro um 15 Prozent hat Wirkungen - auf die Margen in jedem Fall, aber auch auf die Absatzmengen. Und weitere Fälle von Bilanzfälschungen in den USA dürften dem Dollar zusätzlich schaden. Weil der Dollarkurs in erster Linie von Ereignissen aus den USA bestimmt wird, glaube ich, dass seine Schwäche anhält. Das wird nicht am 15. August zu Ende sein, auch nicht im November...
...wenn in den USA gewählt wird.
Ja, dann hätten wir bei noch schwierigeren Mehrheitsverhältnissen im Kongress möglicherweise einen „Lame-Duck-President“ für die nächsten zwei Jahre. Für die Konjunktur wäre das fatal.
Und welche Auswirkungen hätte ein Regierungswechsel in Deutschland?
Für die Weltwirtschaft wäre das nicht übermäßig bedeutend, aber ich könnte mir vorstellen, dass eine Mitte-Rechts-Regierung die Investitions- und Beschäftigungsbereitschaft des Mittelstandes positiv beeinflusst, weil er glaubt, dann besser gestellt zu werden - unabhängig von objektiven Faktoren.
Was würde das für das Wachstum bedeuten?
Ein Zuwachs zwischen einem viertel und einem halben Prozent. In absoluten Zahlen ist das eine ganze Menge und zweifellos Wert, darüber nachzudenken.
Klaus Methfessel
31.07.2002 12:06:01
Quelle: www.wiwo.de (Wirtschaftswoche)
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