- Zum Tagesausklang.: Die Krise nährt die Krise - Koenigin, 07.08.2002, 22:25
Zum Tagesausklang.: Die Krise nährt die Krise
Die Krise nährt die Krise
Politikverdrossenheit und Reformstau des vergangenen Jahrzehnts nährten Zweifel, dass der Gesellschaftsvertrag der fetten Jahre auch für die mageren Jahren noch taugen würde
Leitartikel
Von Michael Stürmer
Die Börse stürzt, die Arbeitslosigkeit steigt, die Umsätze fallen, der Himmel wird grau. In der Sommerschwüle fröstelt es die Menschen, wenn sie an das Morgen denken. Die auf den Displays tanzenden Zahlen treten aus der Abstraktion. Was sie ankündigen, bedroht Gleichmaß und Zuversicht des gewohnten Lebens. Das ist der Punkt, da die Krise die Krise nährt.
Die Prognosen scheuen, so lange es geht, den Blick in den Abgrund. Aber den politischen Schönwettermachern gefriert längst das Lächeln auf den Gesichtern. Wenn Angst und Ohnmacht den Gesellschaftsvertrag ins Wanken bringen, geht der Politik das Vertrauen verloren, der Regierung zuerst und dann auch der Opposition. Die Politiker wissen wohl, dass Führung erwartet wird. Aber die gewohnten Instrumente verweigern den Dienst, die alten Beschwichtigungen sind entweder unbezahlbar oder unglaubwürdig, und meistens beides.
Die Konjunktur verläuft in Wellen. Selbst im amerikanischen Begriff des"double dip", des doppelten Abschwungs, schwingt noch Optimismus mit, daß es irgendwann wieder aufwärts geht, so ähnlich wie der deutschen Metapher von der Talsohle."In the long run" wird das wahrscheinlich auch so sein. Aber, wie Lord Keynes angesichts der weltweiten Depression der dreißiger Jahre bemerkte."Auf lange Sicht sind wir alle tot". Zur Krise gehört, dass sie auf Entscheidung gestellt ist, Heilung oder Katastrophe, und dass ihr Ende offen ist. Eines ist gewiss: Je länger sie dauert, desto mehr zerstört sie."Von hier und heute nimmt eine neue Epoche der Weltgeschichte ihren Ausgang. Und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen". Goethes Wort von 1792, als die Französische Revolution nicht mehr zu bremsen war, birgt schwachen Trost. Niemand, der bei Sinnen ist, wünscht Zeuge zu sein, wenn die Erde sich öffnet. Doch Abstimmungen werden darüber nicht abgehalten.
Kennzeichen der Moderne ist das wiederkehrende Krisenbewusstsein: nicht in Gestalt des kleinen Unwohlseins, sondern als Angst, über Nacht könne alles Gewohnte dahinsein. Wie die Sattelzeit um 1800 die meisten politischen Begriffe ins Leben rief, so auch den der weltgeschichtlichen Krise. Das 19. Jahrhundert wurde von Krisen und Krisenbewusstsein geschüttelt. Den Revolutionen von 1830 und 1848 arbeiteten lange Hunger- und Gewerbekrisen vor. Die erste kapitalistische Weltwirtschaftskrise 1857/58 inspirierte Karl Marx,"Das Kapital" als Kampf- und Krisengemälde und irdische Erlösungslehre zu entwerfen. Der Gründerzeit in den Jahrzehnten Bismarcks folgte in ganz Europa die Große Depression, die 1873 begann und zwanzig Jahre lang in Wellen wiederkam. Sie veränderte das Sozialklima, polarisierte die Politik und rief den Daseinsvorsorgestaat ins Leben.
1929 aber machte die Krise aller Krisen die Nachkriegszeit zur neuen Vorkriegszeit."Es ist nichts, was nicht fragwürdig wäre", diagnostizierte Karl Jaspers im Heidelberger Hörsaal die"Geistesgeschichtliche Lage". Die reale Lage hieß drohender Bürgerkrieg, Angst vor dem Abgrund, Zusammenbruch aller Ordnung, Verzweiflung und Nihilismus. Damit sich solche Katastrophen niemals wiederholten, wurde Deutschland nach 1945 das Land des Konsenses, aber auch der Blockaden und eines korporatistisch verfestigten Strukturkonservatismus. Restauration? Geschichte war den Deutschen, was sich niemals wiederholen durfte."Keine Experimente" traf den Nerv einer krisengeschüttelten Zeit.
Der 11. September des Jahres 2001 hat sich eingebrannt als Eröffnungsschlag eines neuen, unbekannten Zeitalters. Längst aber tritt zum Terror die Angst vor Börsenabsturz, Verlust der Altersrücklage und Wiederkehr der Depression. Die Administration verliert, zusammen mit der Zentralbank, zuerst die Steuerungsfähigkeit und dann das Vertrauen, dass sie noch einmal die goldenen Ernten wachsen lassen kann.
Krise ist, wenn den Menschen der Himmel einstürzt. Eine Ordnung aber, die keine Gewähr der Dauer mehr verspricht, ist schon halb verloren. Und deshalb steht heute mehr auf dem Spiel als das Schicksal einer Regierung. Die Sicherheit der Lebensformen und das Gefühl der Gerechtigkeit werden eingefordert.
Politikverdrossenheit und Reformstau des vergangenen Jahrzehnts nährten Zweifel, dass der Gesellschaftsvertrag der fetten Jahre auch für die mageren Jahren noch taugen würde. Aber der Status quo hat in Deutschland viele Verteidiger. Wahlen in der Demokratie bieten die Chance, verlorene Legitimation zu erneuern. Zuletzt und vor allem indessen entscheiden sich Wohl und Wehe der Staaten in der Gewährleistung von beidem, Sicherheit und Gerechtigkeit.
buenas noches
adios
D.K.
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