- In der Flut versinken auch die Arbeitsplätze - Seher, 17.08.2002, 20:18
In der Flut versinken auch die Arbeitsplätze
-->Hochwasserschicksale
In der Flut versinken auch die Arbeitsplätze
Von Rüdiger Strauch, Bitterfeld
"Geflohen sind wir schon vor zwei Tagen", sagt ein Bitterfelder, der nur noch mal schnell in sein Haus watet, um ein paar Spielsachen für die Kinder zu holen. Etwas weiter haben Menschen andere Sorgen: Ihnen haben die Fluten ihre Arbeitsplätze geraubt.
Bitterfeld - Den Männern fehlen die Worte. Wie unter Schock starren die vier auf den Boden und schweigen. Dann durchbricht einer nuschelnd die Stille:"Über Nacht sind 56 Mitarbeiter zu Tauchern geworden", sagt er und schmeißt seine Zigarette zu Boden. So viele Leute nämlich waren im Autohaus Vetter beschäftigt.
Jetzt ist ihr Arbeitsplatz über Nacht ein Raub der Fluten geworden. Die berufliche Zukunft sieht düster aus. Meterhoch plätschert das Wasser in den Verkaufsräumen in der Wittenberger Straße. Eine Hebebühne ragt gerade noch heraus, Ã-lreste schwimmen an der Oberfläche. Den annähernd gleichen Anblick bietet nebenan"Mitsubishi Pottel" - auch hier konnten Feuerwehr und Technisches Hilfswerk (THW) die herannahenden Wassermassen nicht mehr aufhalten.
Und dazu scheint die Sonne vom Himmel, als gelte es, einen neuen Jahrhundert-Sommer auszurufen. Dabei ist das, was die Bewohner gerade erleben, die"Jahrtausend-Flut". Christian Prochaska meint, eine solche Wortwahl sei nicht übertrieben."Sehen Sie mich doch an", sagt der rothaarige Mann mit Sonnenhut und streckt die Arme von sich, als wolle er damit ausdrücken: Mir hat die Flut fast alles genommen.
Prochaska ist Unternehmer in der IT-Branche und wohnt eigentlich mit Frau und zwei Kindern in der Bitterfelder Friedensstraße. Dort treiben jetzt Topfpflanzen auf dem Wasser, in größerer Entfernung der Feuerwehr-Einsatzwagen ragt ein Auto aus den Wogen. In dem gesamten Viertel, erklärt Prochaska, sei niemand mehr in seinen Wohnungen. Er selbst wate nur noch einmal in sein Haus, um ein paar Spielsachen für seine Kinder und zwei zusätzliche Koffer zu holen."Geflohen sind wir schon vor zwei Tagen", sagt der 38-Jährige.
Weil seit heute Nacht das Wasser im Keller steht und das darüberliegende Erdgeschoss wohl auch noch volläuft, ist er etwa sechs Kilometer von Bitterfeld entfernt bei Bekannten in Muldenstein untergekommen. Luftlinie wären das nur sechs Kilometer. Weil in der Gegend um Bitterfeld aber mittlerweile rund 100 Quadratkilometer Land unter Wasser stehen, muss Prochaska 50 Kilometer Umwege fahren.
Polizei und Feuerwehren kämpfen derweil an immer neuen Fronten. Am Greppiner Damm nordwestlich des Zentrums versuchen die Helfer, ein Eindringen der Fluten in den Bitterfelder Chemiepark zu verhindern. Bedroht ist vor allem das dortige Bayer-Werk. Das Kreiskrankenhaus in der Auen-Siedlung musste längst aufgegeben und evakuiert werden. Bis ins zweite Obergeschoss soll das Wasser der Leine, einem Zufluss der Mulde, stehen.
Die Bewohner Greppins, einem ebenfalls bedrohten Stadtteil, sind unterdessen wütend auf die Verantwortlichen bei den Behörden. Die Pflege der Wälle an dem neuen Krisenherd nördlich des Zentrum sei dort seit dem letzten großen Hochwasser 1954 schamlos vernachlässigt worden."150.000 Mark habe ich in mein Haus gesteckt - und jetzt droht alles abzusaufen, nur weil schlampig gearbeitet wurde", erregt sich ein Bürger. Er hat währenddessen noch ein zweites Problem: Im allgemeinen Bitterfelder Chaos wurde dem Mann sein Fahrrad geklaut. Anstatt an der Rettung seines eigenen Hauses mitzuwirken, sitzt er deswegen auf den Fluren der örtlichen Polizeidienststelle. Dort kann er allerdings lange warten, um seine Anzeige aufzugeben. Der einzige, der die Stellung in dem ebenfalls vom Hochwasser bedrohten Polizeigebäude hält, ist zurzeit der Pförtner.
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