- Paul Kirchhof Aufsatz: Zum handwerklichen Talent der Rechtsgeber - Popeye, 04.09.2002, 19:20
- Besten Dank Popeye - also tatsächlich nur Unfähige und Gangster am Werk. (owT) - Zardoz, 04.09.2002, 19:31
- Re: Wie kannst Du so etwas sagen? Das sind ehrbare Leute;-) (owT) - Euklid, 04.09.2002, 20:48
- Ehrbar = Bar jeder Ehre? Yessir... (owT) - Zardoz, 04.09.2002, 22:11
- Re: Wie kannst Du so etwas sagen? Das sind ehrbare Leute;-) (owT) - Euklid, 04.09.2002, 20:48
- Re: Es war doch hoffentlich niemand so dumm, den Niedergang der Wirtschaft... - dottore, 04.09.2002, 21:08
- Was heißt modernes Regieren? Prof.Dr.Karl-Rudolf Korte - H. Thieme, 04.09.2002, 22:46
- Re: Es war doch hoffentlich niemand so dumm, den Niedergang der Wirtschaft... - ---- ELLI ----, 04.09.2002, 23:05
- Re: Es war doch hoffentlich niemand so dumm, den Niedergang der Wirtschaft... - dr.seidel, 05.09.2002, 00:51
- Re: Es war doch hoffentlich niemand so dumm, den Niedergang der Wirtschaft... - --- ELLI ---, 05.09.2002, 08:26
- Re: Es war doch hoffentlich niemand so dumm, den Niedergang der Wirtschaft... - dr.seidel, 05.09.2002, 00:51
- Besten Dank Popeye - also tatsächlich nur Unfähige und Gangster am Werk. (owT) - Zardoz, 04.09.2002, 19:31
Paul Kirchhof Aufsatz: Zum handwerklichen Talent der Rechtsgeber
-->Paul Kirchhof (Verfassungsrichter a.D.) einer der prominentesten und klarsten Vordenker im Steuerrecht (dem wir u.a. den sog. Halbteilungsgrundsatz verdanken) hat heute folgenden Aufsatz in der FAZ veröffentlicht:
Gesetzgebung braucht Form und Stil
Von Professor Dr. Paul Kirchhof
Der Verfassungsstaat zeichnet sich durch drei Grundsatzanforderungen an den Staat und seine Organe aus: Zunächst begründet die Verfassung hinreichende Staatsgewalt, die alle Staatsorgane befähigt, einen allgemeinen Frieden zu gewährleisten, die verfassungsrechtlichen Garantien durchzusetzen und die Interessengegensätze innerhalb der Rechtsgemeinschaft rechtlich und sozial auszugleichen.
Sodann garantiert die Verfassung unveräußerliche und unverletzliche Menschenrechte. Sie geben der Rechtsgemeinschaft ein Fundament von Werten, aus denen Rechte und Pflichten abgeleitet werden. Nach deren Vorgaben wird die Rechtsordnung immer wieder - mit den Erneuerungsinstrumenten der staatlichen Gesetzgebung und der individuellen Freiheit - zukunftsgerecht fortgebildet.
Schließlich unterwirft sich der Verfassungsstaat einer Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formenordnung, die Handlungsverantwortungen sichtbar und kontrollierbar macht, staatliches Handeln der stetigen Beobachtung und Kritik durch Betroffene und Wähler erschließt, demokratische Legitimation und Entwicklung ermöglicht, Entscheidungsabläufe in Sachkompetenz, Vorabkontrolle, Interessenausgleich und Gewaltenmäßigung möglichst auf den Weg der sachlichen Richtigkeit verweist.
Demokratie und Rechtsstaat gewinnen also in Stil, Form und Verfahren staatlichen Handelns Entscheidungssicherheit, gestärkte Verantwortlichkeit, wirksame Kontrolle, demokratische Legitimation und Erneuerungskraft. Drohen Stil, Form und Verfahren zu verkümmern, ist der Verfassungsstaat in seiner Substanz bedroht.
Der entmündigte Bürger.
Im März dieses Jahres hat der Gesetzgeber das Seemannsgesetz geändert, dabei aber auch das Bürgerliche Gesetzbuch in einem wichtigen Teil des Dienstvertragsrechts ergänzt. Das"Gesetz zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze" enthält, ohne daß der Gesetzesadressat dieses in der Benennung des Gesetzes vermuten könnte, Änderungen der allgemeinen zivilrechtlichen Regeln des Betriebsübergangs, die den Arbeitgeber vor der Ausgliederung eines Betriebsteils verpflichten, die betroffenen Arbeitnehmer aufzuklären, und diesen ein Widerspruchsrecht gibt. Diese wichtige Erschwerung der Ausgliederung wird verfahrensrechtlich mit dem Seemannsrecht verbunden. Das Gesetz ist nicht von der Bundesministerin für Justiz gegengezeichnet, die jüngst eine wesentliche Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches initiiert hatte, sondern von dem Bundesminister für Verkehr und dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Die systemwidrige Verknüpfung einer Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches mit anderen Gesetzen hat auch zur Folge, daß das gesamte Artikelgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedurfte, obwohl die Änderung einzelner Teile ohne eine solche Zustimmung hätte zustande kommen können.
Diese Gesetzgebungstechnik der zufälligen Bündelung oder auch des Versteckens ist inzwischen zu einer häufigen Praxis geworden. Das Steuerrecht ist in mehr als 100 Bundesgesetzen geregelt und wird vielfach außerhalb von Steuergesetzen geändert. Das Einkommensteuergesetz ist in einem Jahr im Zusammenhang mit Änderungen des Sozialgesetzbuches, der Rentenfinanzierung, der Finanzmarktförderung, des Stückaktiengesetzes, der Seeschiffahrt, des Insolvenzrechts, der Regelung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, der Familienförderung, des Seuchenrechts, des Anti-D-Hilfegesetzes, des Versicherungsaufsichtsgesetzes, des Altersvermögensgesetzes, des Gesetzes zur Eindämmung illegaler Beschäftigung im Baugewerbe und des Wohnungsbaurechts geändert worden. Hier fehlt jeder Sachzusammenhang, die Ressortverantwortlichkeit wird unterlaufen, das vom Sachgegenstand abhängige Verfahren durchbrochen, die Auffindbarkeit und Verständlichkeit der Neuregelung verschleiert. Der Bürger versteht den Gesetzgeber nicht mehr, der Gesetzgeber behandelt ihn nicht als verständigen, nicht als"mündigen" Bürger.
Die neuesten Änderungen des Steuerrechts sind in einer Rechtsquelle versteckt, um die sich der Bürger offensichtlich nicht zu kümmern braucht: im Steuerbeamtenausbildungsgesetz. Diese Gedankenlosigkeit mag aber in der Einsicht einen Sinn gewinnen, daß diese Gesetze auch für den Finanzbeamten erst nach einer Zusatzausbildung verständlich werden. Aus dem allgemeinen Gesetz wird ein Gesetz unter Spezialisten und Schulungsvorbehalt.
Blicken wir auf die Entwicklung des Seemannsgesetzes zurück, so entdecken wir, daß dieses Gesetz zuvor durch eine Verordnung geändert worden war. Auch hier stutzt der Leser. Wie kann die Bundesregierung, die im Rahmen einer gesetzlichen Ermächtigung niederrangiges Verordnungsrecht regeln darf, durch Verordnung das höherrangige Gesetzesrecht ändern? Schlägt der gesetzestreue Bürger in der Verordnung nach, beobachtet er zwar erleichtert, daß dort nur die Benennung eines Ministeriums verändert worden ist, verharrt aber in einem Unbehagen, weil nunmehr nicht nur das Gesetzgebungsverfahren, die Gesetzgebungsverantwortlichkeit und das Gesetzgebungssystem durcheinandergeraten sind, sondern der Wirrwarr auch auf die Rechtsquellenlehre - die strikte Unterscheidung von Gesetz und Rechtsverordnung in ihren Wirkungen - übergreift.
Dieses Unbehagen steigert sich zur Ratlosigkeit, wenn unser Bürger in seinem rechtsstaatlichen Verfassungsvertrauen erfährt, daß das Einkommensteuergesetz die Exekutive seit Jahren zum Erlaß einer Rechtsverordnung ermächtigt, diese Rechtsverordnung dann aber sogleich vom Gesetzgeber miterlassen wird. Gilt diese Verordnung nach ihrer Benennung als Verordnung oder wegen ihrer Entstehung als Gesetz? Darf sie der Verordnunggeber oder der Gesetzgeber ändern? Darf bei Verfassungswidrigkeit dieser Regelung die Fachgerichtsbarkeit die Norm - als Verordnung - verwerfen oder nur - als Gesetz - das Bundesverfassungsgericht? Soll der Exeget die Verordnung strikt mit Blick auf das höherrangige Gesetz deuten oder als Teil dieses Gesetzes im Kontext gleichrangiger Normen systematisch auslegen?
Die Neugierde unseres Rechtsgenossen für die Aufgabenteilung zwischen Regierung und Gesetzgebung ist geweckt. Wenn er nunmehr auf den Befund trifft, daß die Bundesregierung mit dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller eine Vereinbarung geschlossen hat, in der sich der Verband bereiterklärt, der gesetzlichen Krankenversicherung 400 Millionen Mark zur Konsolidierung ihrer Finanzen zur Verfügung zu stellen, die Bundesregierung ihrerseits erklärt, für zwei Jahre auf gesetzliche Preisregulierungen für bestimmte verschreibungspflichtige Arzneimittel verzichten zu wollen, so fragt sich der nachdenkliche Bürger, ob die Bundesregierung oder das Parlament gesetzliche Regulierungen trifft, ob die finanzielle Belastung von Grundrechtsberechtigten zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben dem Abgabengesetzgeber oder der Regierung zusteht, ob diese Zahlungspflichten in einem geschlossenen System von Abgaben verfassungsrechtlich gebunden sind und ob ein zahlungskräftiger Verband dank seiner Zahlungsfähigkeit besonderen Einfluß auf die Gesetzgebung gewinnen darf - und das in eigener Sache.
Liest der Bürger in dem klaren und schlichten Text unseres Grundgesetzes, so wird er dort erkennen, daß eine entgeltliche Vereinbarung über zukünftige Gesetzgebung verfassungsrechtlich nicht vorgesehen und auch eine Verständigung mit einem nicht zur Gesetzgebung befugten Staatsorgan ausgeschlossen ist. Die parlamentarische Demokratie behält dem Parlament - dem Repräsentanten der Abgabenzahler - die Entscheidung über Art und Intensität der Abgabenlast vor. Zudem weist die Verfassung eine Verständigung über Zahlungspflichten zur Abwehr von Gesetzesvorhaben entschieden zurück: Über die Gesetzgebung verfügen nur die von der Verfassung ermächtigten Organe in dem für die Gesetzgebung vorgesehenen öffentlichen Verfahren. Der Bürger nimmt auf die Gesetzgebung nur mittelbar durch Wahlen, auch durch Meinungsäußerungen und Petitionen, nicht aber durch Einsatz seiner Finanzkraft Einfluß. Das demokratische Ideal der Gleichheit aller Bürger mündet in einem gleichen Wahlrecht und wäre verfehlt, wollten Staatsorgane Gesetzesinhalte von Zahlungen der Gesetzesbetroffenen abhängig machen.
Unser auf die Verfassung hoffender Demokrat wird weiter beunruhigt durch Stimmen der Verfassungspolitik, die derart"informale" Regelungen durch Verständigung über staatliches Verhalten als"elegantere", gelegentlich auch als"marktwirtschaftliche" Handlungsformen rühmen. Hinweise auf Absprachen zwischen Staat und Gesetzesbetroffenen über zukünftige Gesetzgebung häufen sich. Es werden sogar öffentlich bekundete Forderungen nach Einhaltung von"Zusagen" oder"Absprachen" mit der Bundesregierung über das Handeln des Gesetzgebers laut. Diese Entwicklung gefährdet den Verfassungsstaat in seinen Strukturelementen einer parlamentarischen Demokratie, eines gewaltenteilenden Rechtsstaates und einer dem Allgemeinwohl verpflichteten Republik.
Das Entscheidungsverfahren bestimmt weitgehend über das Entscheidungsziel und letztlich über den Inhalt der Entscheidung. Im Wirtschaftsleben sichert die vertragliche Verständigung, daß Anbieter und Nachfrager einvernehmlich einen Leistungstausch regeln. Der Vertrag ist das Instrument des Erwerbsstrebens und der ökonomischen Bedarfsbefriedigung. Ganz anders ist das staatliche Entscheidungsverfahren verfaßt, das nicht auf größtmöglichen finanziellen Gewinn angelegt, sondern auf die sachgerechte Erfüllung der staatlichen Aufgaben ausgerichtet wird. Würde ein Beamter einen Führerschein oder eine Baugenehmigung gegen Höchstgebot verkaufen, wäre dieses ein grober Verstoß gegen die Prinzipien von Rechtsstaat und Republik. Würde der Gesetzgeber Berechtigungen nach Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit zuteilen, wären die Errungenschaften der parlamentarischen Demokratie, von Rechtsstaat und Sozialstaat verlorengegangen.
Deshalb wird der Verfassungsstaat sorgfältig zu würdigen haben, daß das Telekommunikationsgesetz die Vergabe von UMTS-Lizenzen in einem Versteigerungsverfahren vorsieht und der Bundeshaushalt in dieser Versteigerung 100 Milliarden Mark erlöst hat. Wenn das Gesetz behauptet, mit dem Versteigerungsverfahren solle festgestellt werden, welche Bieter am besten geeignet seien, die ersteigerten Funkfrequenzen effizient für Telekommunikationsdienstleistungen zu nutzen, so stellt sich die Frage, ob das finanzielle Höchstgebot hinreichend Ausdruck kommunikationstechnischer Eignung und Befähigung ist. Ein Höchstgebot beweist allenfalls Finanzkraft.
Form, Verfahren und klare Verantwortlichkeiten bilden die beste Gewähr für sachgerechte Entscheidungen auch innerhalb der obersten Bundesorgane. Fehlende Stil- und Verfahrenssicherheit gefährdet das Vertrauen in die Staatsorgane. Das lehrt die Abstimmung über das (zustimmungsbedürftige) Zuwanderungsgesetz im Bundesrat. Dort ist es seit der Verfassung von 1871 gute Tradition, daß die Stimmen eines Landes nur einheitlich durch die anwesenden Mitglieder abgegeben werden können, weil in diesem Bundesstaatsorgan der Wille des jeweiligen Landes ausgedrückt werden soll, die individuelle Mitgliedschaft deshalb kein freies Mandat vermittelt. Soweit in der ebenfalls historisch gewachsenen Verfassungspraxis ein Stimmführer allein für sein Land die Hand hebt und damit alle Stimmen des betreffenden Bundeslandes abgibt, ist diese Abstimmung durch Stimmführer nur zulässig, wenn der Stimmführer in der Abstimmung ein bereits vorher festgelegtes Votum erklärt, seine Erklärung also vom Willen aller stimmberechtigten Mitglieder getragen wird. Dabei hat jedes Bundesratsmitglied als Mitglied dieses Bundesorgans dieselbe Rechtsstellung. Unterschiedliche Aufgaben und Befugnisse im Lande - etwa die Richtlinienkompetenz und Außenvertretung des Ministerpräsidenten oder die jeweils einschlägige Fachkompetenz des Fachministers - sind insoweit unerheblich.
Auch hier müssen verfassungsrechtliches Verfahren und verfassungspolitischer Stil so zusammenwirken, daß im Entscheidungsorgan klare Ergebnisse auf verläßlicher Verfahrensgrundlage erzielt werden. Der Vorsitzende eines Entscheidungsorgans wird dieser seiner Verantwortlichkeit nicht gerecht, wenn er ein Gesetzgebungsverfahren nicht in einem erprobten und bewährten Verfahren zu einem klaren Abschluß führt, sondern die Gesetzesbetroffenen über Geltung und Verbindlichkeit des Gesetzes im unklaren läßt und damit auch anderen Staatsorganen - dem Bundespräsidenten und möglicherweise auch dem Bundesverfassungsgericht - Verantwortlichkeiten zuschiebt, die innerhalb des entscheidungsbefugten Organs hätten wahrgenommen werden müssen.
Jedes Staatsorgan hat in seinem Verantwortungsbereich Form und Stil zu pflegen, dem Verfassungsstaat damit insgesamt ein formgebundenes und stilvolles Gepräge zu geben, im übrigen aber auch andere Staatsorgane zu entlasten. Der Akteur steht für die Verfassungsmäßigkeit seines Handelns, der Kontrolleur prüft die Verfassungsfestigkeit. Jeder bewährt sich in seiner Aufgabe und Handlungsform. Das ist Bedingung der Gewaltenteilung unter Bundesorganen und im föderalen Verhältnis von Bund und Ländern.
Werden zwischen Bundestag und Bundesrat gegenläufige Auffassungen bekundet, so führt das Verfahren in einen Vermittlungsausschuß, der zwischen den bisher im Bundestag diskutierten und vertretenen Auffassungen und denen des Bundesrates zu vermitteln hat. Der Ausschuß, der in einem abgekürzten und nichtöffentlichen Verfahren des kleinen Kreises entscheidet, ist in dieser Vermittlungsfunktion - dem Ausgleich unter den im Bundestag und Bundesrat förmlich erörterten Alternativen - gebunden. Deshalb steht es ihm nicht zu, bisher nicht erwogene Regelungen vorzuschlagen oder das bisher debattierte Gesetzgebungskonzept durch ein anderes zu ersetzen. Vermitteln heißt, unter vorgegebenen Alternativen auszugleichen, nicht das politische Entscheidungsspektrum über die bisherige Debatte hinaus zu erweitern. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung zur einkommensteuerlichen Berücksichtigung des Aufwandes für ein häusliches Arbeitszimmer Anlaß, diesen Verfahrensablauf in seinen Maßstäben und Formen klarzustellen.
Wie ein Vagabund.
Eine Kompetenzverschiebung droht gegenwärtig nicht nur innerhalb des parlamentarischen Verfahrens, sondern auch durch Mitentscheid außerparlamentarischer Gruppierungen. Die Wirklichkeit unseres Parteienund Verbändewesens verdrängt die Entscheidung oft aus dem Parlament in Parteizirkel, in Arbeitskreise, die nur für bestimmte Kreise arbeiten, in"Bündnisse" oder an"runde Tische", die in der Verfassung keine Legitimation haben, oft aber politisch wirkmächtig gestalten. Auch hier werden eine Nachlässigkeit gegenüber dem Stil und eine Gleichgültigkeit in der Form staatlichen Handelns sichtbar, die wesentliche Errungenschaften des modernen Verfassungsstaates preisgeben und damit Bedingungen von Recht, Freiheit und Demokratie zerstören.
Schließlich ist das Ergebnis der Gesetzgebung, der Gesetzestext, in klarer, verständlicher Aussage zu fassen, die bei allen Adressaten die gleiche Vorstellung vom Regelungsinhalt hervorbringt. Ist ein Rechtssatz unklar formuliert, fehlt auch dem Rechtsgedanken die Klarheit. Geltung und Vollziehbarkeit des Gesetzes sind gefährdet. Das Einkommensteuergesetz überbringt die Mindestbesteuerung in einer sprachlichen Form, deren Rechtsgedanke sich auch dem Experten anhand des Textes nicht erschließt. Der Leser erkennt zwar, daß im Gesetz Wörter durch einen korrekten Satzbau zusammengefügt sind; der darüber hinausgreifende Erkenntniswert tendiert jedoch gegen Null. Die Steuerpraxis hilft sich deshalb mit Berechnungsbeispielen und Computerprogrammen, vermag aber den Rechtsgedanken nicht in Sprache, also nicht in rationaler Nachvollziehbarkeit und Kontrollierbarkeit auszudrücken. Die Besteuerung steht jedoch nicht unter Computervorbehalt, sondern unter Gesetzesvorbehalt, das meint auch den Vorbehalt sprachlicher Vermittlung. Die Mindestbesteuerung ist deshalb nicht verfassungsgemäß im Bundesgesetzblatt veröffentlicht, kann insoweit diesen Geltungsgrund nicht beanspruchen.
Die Gesetzgebung ist vom Beginn der Gesetzesinitiative bis zur Vollendung im Gesetzestext in Form und Stil gebunden. Die Gesetzesform wahrt die Verfassungsbindung, der Gesetzesstil bekundet Verfassungsverständnis. Eine form- und stillose Gesetzgebung wirkt wie ein Vagabund, der die Kultur respektvoller Begegnung und gepflegter Sprache nicht beherrscht. Er wird Autorität nicht gewinnen und Beachtung nicht beanspruchen dürfen.
* Der Verfasser, Bundesverfassungsrichter a. D., lehrt Steuerrecht an der Universität Heidelberg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.2002, Nr. 205 / Seite 8

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