- Der Größe Mißbrauch ist, wenn von der Macht Sie das Gewissen trennt - Shakspeare - Popeye, 06.09.2002, 11:08
Der Größe Mißbrauch ist, wenn von der Macht Sie das Gewissen trennt - Shakspeare
-->Glaube nur den Statistiken, die
du selbst gefälscht hast
Wie Politiker immer wieder der Versuchung erliegen,
die Arbeitslosenzahlen vor der Wahl zu schönen / Von
Nico Fickinger
BERLIN, 5. September. Lange hatte Bernhard Jagoda
(CDU) sich geziert, die heiß ersehnte Wende auf dem
Arbeitsmarkt zu verkünden. Als Bundeskanzler Kohl schon
vorhersagte, möglicherweise könne im Herbst 1998 die
Marke von vier Millionen Erwerbslosen unterschritten
werden, hielt der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit
(BA) noch tapfer dagegen: Anzeichen dafür seien noch nicht
am Horizont erkennbar, sagte er bei der Bekanntgabe der
Juni-Zahlen. Von einer Trendumkehr wollte Jagoda erst
sprechen, wenn die Arbeitslosigkeit drei Monate
hintereinander niedriger liege als im Jahr zuvor. Das war
weder im Juni noch im Juli der Fall. Erst die August-Zahlen
brachten das von der schwarz-gelben Regierung erhoffte
Signal."Aus unserer Sicht ist die Trendwende in ganz
Deutschland vollzogen", verkündete Jagoda schließlich am 8.
September 1998 in Nürnberg, gerade noch rechtzeitig vor der
Bundestagswahl.
Der Christdemokrat, stets ein treuer und loyaler Diener des
Staates, hat damals im Wissen um die Bedeutung der
Nürnberger Zahlen für den Wahlkampf versucht, die
Unabhängigkeit und Überparteilichkeit seines Amtes zu
bewahren. Es mehrten sich aber auch kritische Stimmen, die
seine Standfestigkeit nur als Taktik angesichts des immer
wahrscheinlicher werdenden Machtwechsels nach der
Bundestagswahl werteten. Jagodas Amtszeit würde am 31.
Januar 2001 enden; für eine Verlängerung mußte er sich das
Wohlwollen der neuen Regierung sichern. Und Jagoda
wußte, wie es ist, wenn man plötzlich ins Nichts fällt: Im
Januar 1987 hatte er knapp die Rückkehr in den Bundestag
verfehlt, erst im Juni machte ihn der damalige Arbeitsminister
Blüm zum beamteten Staatssekretär.
Jagodas Nachfolger Florian Gerster (SPD) braucht sich
zumindest finanziell keine Sorgen zu machen. Dem
Vernehmen nach ist sein Jahresgehalt von 250 000 Euro für
fünf Jahre garantiert. Anders als sein verbeamteter
Vorgänger kann der amtierende Vorstandsvorsitzende aber
"bei gestörtem Vertrauensverhältnis oder aus sonstigem
wichtigen Grund" entlassen werden.
Während Jagoda auf die Überparteilichkeit seines Amtes
pochte, demonstriert Gerster ein ums andere Mal seine
innere Unabhängigkeit. In den vergangenen Wochen hat er
seine Parteifreunde und die Gewerkschaften mehrfach mit
der Forderung nach Leistungskürzungen erzürnt. Und am
Donnerstag bescheinigte er denen, die es hören wollten,
nochmals die Wirkungslosigkeit des Job-Aqtiv-Gesetzes, das
die rot-grüne Koalition zum Herzstück ihrer
Arbeitsmarktpolitik erhoben hat. Beide - Jagoda sicher
weniger als Gerster - haben auf jeweils eigene Weise dem
Drängen ihrer Parteifreunde in der Bundesregierung
widerstanden, sich für den Wahlkampf vereinnahmen zu
lassen.
Die Politiker indessen sind schon eher der Versuchung
erlegen, die Nürnberger Statistik zu schönen. So hat die
Kohl-Regierung im Wahljahr 1998 die aktive
Arbeitsmarktpolitik kräftig ausgeweitet. Die Zahl der
Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM)
schnellte zwischen Januar und August 1998 von 132 000 auf
262 000 hoch (und kletterte bis November weiter auf 302
000). Auch in Strukturanpassungsmaßnahmen waren im
August 1998 mit 206 000 Teilnehmern doppelt so viele
Personen beschäftigt wie im Januar (104 000). Während
Kohl im August 1998 schon verkündete, der Aufschwung sei
da, gestand der damalige Bundeswirtschaftsminister Rexrodt
(FDP) ein, daß der Rückgang der Arbeitslosigkeit in den
neuen Bundesländern weitgehend auf staatliche
Entlastungsmaßnahmen zurückzuführen sei. Sechs von zehn
Vermittlungen in den neuen Ländern, kritisierte der Deutsche
Gewerkschaftsbund (DGB), seien auf befristete Stellen oder
in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) erfolgt. Zudem
seien die Erwerbslosenzahlen nur deshalb gesunken, weil
viele tausend Betroffene der neuen Pflicht nicht
nachgekommen seien, sich alle drei Monate beim Arbeitsamt
zu melden.
In einer Handreichung, die zur"Versachlichung" der
Diskussion beitragen soll, stellte Bundesarbeitsminister
Riester (SPD) diesen Daten seine eigene Bilanz entgegen:
Die Zahl der Teilnehmer an ABM- und
Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) ging danach
zwischen Januar und August 2002 sogar leicht von 129 000
auf 126 000 sowie von 70 000 auf 65 000 zurück. Diese
Daten scheinen seine Ankündigung zu bestätigen, die
rot-grüne Regierung werde eine"knochenehrliche" Politik
betreiben und auf Wahlkampf-ABM verzichten.
Erste Auflösungstendenzen dieser harten Linie wurden
allerdings schon sichtbar. Die Maßnahmen der aktiven
Arbeitsmarktpolitik würden"nachgesteuert, weil der erste
Arbeitsmarkt nicht so viel hergibt, wie wir gerne hätten",
erläuterte der neue BA-Chef Gerster im Juni."Wir
versuchen, was in diesem Jahr an neuen Maßnahmen noch
sinnvoll begonnen werden kann, auch anzuregen." In der Tat
hat sich der Bestand an ABM-Teilnehmern zwischen Juni
und August erhöht, allerdings nur leicht um 8000 Personen.
Stärkere Entlastung kam auf anderem Wege. So haben -
dem Vernehmen nach auch auf aktives Anraten der Ämter -
immer mehr Arbeitslose die Regelung nach Paragraph 428
des Sozialgesetzbuchs III in Anspruch genommen. Danach
können Achtundfünfzigjährige oder Ältere auf die
Vermittlungsanstrengungen der Ämter verzichten. Sie
erhalten dann zwar weiterhin Arbeitslosengeld, werden aber
nicht mehr in der Nürnberger Statistik geführt. Die Zahl
dieser Fälle ist im August gegenüber dem Vorjahr um 66 000
gestiegen.
Außerdem wurden aus den Reihen der rot-grünen Koalition
mehrfach Überlegungen geäußert, die Nürnberger Statistik
zu ändern. Riester stellte das Vorhaben aber auf die Zeit
nach dem 22. September zurück, um den Vorwurf der
Manipulation zu entkräften. Geplant war, alle diejenigen
gesondert auszuweisen, die sich zwar arbeitslos melden, aber
an einer Vermittlung nicht interessiert seien, weil sie schon
eine neue Stelle in Aussicht haben oder den
Arbeitslosenstatus nur benötigen, um sozialrechtliche
Ansprüche zu sichern.
Ein sehr viel wirkungsvolleres
Statistik-Verschönerungsprogramm - das in seiner Wirkung
der Einführung der Sozialversicherungspflicht für
Geringverdiener gleichkommt - hält der Bericht der
Hartz-Kommission bereit, den die Regierung unmittelbar
nach der Wahl eins zu eins umsetzen will. Dann nämlich
könnten aus vielen hunderttausend Arbeitslosen kurzfristig
Beschäftigte werden: als Leiharbeiter der neuen
Personal-Service-Agenturen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.09.2002, Nr. 207 / Seite 3

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