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- Feierabendlektüre: Peter Scholl-Latour - Lügen im heiligen Land - HB, 06.09.2002, 19:48
- Noch ein Kapitel gefällig? Mutter der Schlachten - Mutter der Lügen - HB, 06.09.2002, 19:55
- Feierabendlektüre: Peter Scholl-Latour - Lügen im heiligen Land - HB, 06.09.2002, 19:48
Noch ein Kapitel gefällig? Mutter der Schlachten - Mutter der Lügen
-->Mutter der Schlachten -Mutter der Lügen
Bagdad, im August 1997
Wer in Bagdad nach Spuren des Golfkrieges und des sechswöchigen amerikanischen Bombardements
sucht, kommt nicht auf seine Kosten. Die US Air-Force hatte es nicht darauf angelegt, die irakische
Hauptstadt in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Ich wußte es zu schätzen, daß die
Informationsbehörden mich nicht drängten, zu der nationalen Trauerstätte von El Amiriya zu wallfahrten,
wo am 13. Februar 1991 ein amerikanisches Präzisions-Missile Hunderte von Zivilisten in einem angeblich
zerstörungssicheren Bunker getötet hatte.
War dort tatsächlich eine Kommando-Zentrale der irakischen Streitkräfte oder gar ein Hauptquartier
Saddam Husseins untergebracht, wie das Pentagon hartnäckig behauptet, oder hat der
Bundesnachrichtendienst mit seiner kühnen These recht, es sei der amerikanischen Luftwaffe bei diesem
Massaker darum gegangen, dem Diktator vor Augen zu führen, daß keine noch so dicke Betonmauer ihn
schützen könne? Die Frage bleibt offen. »Allahu wahduhu ya'rif - Allah allein weiß es«, sagen die Iraker
dazu.
Unbestritten ist die Zerstörung von zwei großen Krankenhäusern, darunter die größte
Entbindungsanstalt Mesopotamiens, durch alliierte Bomben. Hier handelte es sich jedoch nicht um einen
gezielten Akt von Mordlust, sondern um mangelnde Zielgenauigkeit. Die US-Flieger hatten das nahe
gelegene Gefängnis, eine berüchtigte Folteranstalt des Mukhabara, treffen wollen. Nachträglich hat das
»General Accounting Office« des amerikanischen Congress errechnet, daß Air-Force und Navy, darunter
auch die legendären Stealth-Maschinen, mit recht mäßigem Erfolg operiert, daß die viel gerühmten
Wunderwaffen und Smart-Bombs statt achtzig Prozent - wie offiziell verkündet wurde - nur vierzig
Prozent der Ziele erreicht hätten. Noch unbefriedigender waren die Resultate der »unfehlbaren«
Marschflugkörper.
Jedenfalls sind heute am Tigris keine Ruinen mehr zu entdecken. Nach Einstellung der
Kampfhandlungen lief die Behebung der Schäden auf Hochtouren. Wenn das Land sich so mühselig und
langsam vom Krieg erholt, dann liegt das vor allem am Embargo der Vereinten Nationen, das nunmehr
sieben Jahre andauert. Das Sanktionskomitee der UNO hat unter amerikanischem Druck eine schikanöse
»Rote Liste« von verbotenen Gebrauchsartikeln aufgestellt, der man beim besten Willen keine strategische
Bedeutung beimessen kann. Darunter befinden sich - wie eine Studie von »Foreign Affairs« feststellt -Glühbirnen,
Socken, Armbanduhren, Ã-fen, Autobatterien und Autoreifen, Nähmaschinen, Nadeln,
Spiegel, Nägel, Textilien, Eisschränke und vieles andere. Die Hauptleidtragenden dieser Willkür sind die
Schulen und die Hospitäler. Papier und Kugelschreiber stehen nämlich ebenfalls auf der »Red List«, und -um
nur ein Beispiel des sanitären Boykotts zu erwähnen - es fehlt den Krankenhäusern an
Betäubungsmitteln für Operationen, weil sämtliche Nitrate militärisch genutzt werden könnten. Laut
Aussage der »Washington Post«, die übertrieben sein mag, fordern die UN-Maßnahmen jährlich eine
Million Todesopfer, darunter sechzig Prozent Kinder.
Ich will hier nicht alle Absurditäten dieses Rachefeldzuges aufzählen, der natürlich die armen
Schichten der Bevölkerung am härtesten trifft. Die Bessergestellten, die Privilegierten des Regimes zumal,
können sich in Spezial-Läden, im Baladiya Shopping-Center zum Beispiel, mit Schmuggelware eindecken.
Dort ist auch Alkohol, der ansonsten streng verboten ist, in beliebiger Menge, aber gegen harte Devisen zu
haben. Beim Minister für Ã-l-Industrie, Amer Raschid, habe ich mich nach dem Stand der industriellen
Rekonstruktion erkundigt. Die Elektrizitätserzeugung wurde zu 90 Prozent, die Raffinerien zu 80 Prozentzerstört. Die petrochemischen Komplexe und Telekommunikationseinrichtungen waren total vernichtet.
Amer Raschid, der in seiner grünen Uniform recht schneidig auftritt und vor Energie strotzt, kann eine
beachtliche Aufbauleistung vorweisen. Bei meinen Fahrten über Land - vom südlichen Zweistromland bis
nach Kurdistan - sollte ich mich selbst überzeugen, daß die meisten Industrieanlagen neu erstanden sind.
Die amerikanischen Experten hatten die irakische Selbsthilfe-Kapazität ebenso sträflich unterschätzt wie
seinerzeit Engländer und Franzosen die ägyptische Fähigkeit, ohne fremde Anleitung die Schiffahrt im
Suez-Kanal zu regulieren. »Wir hatten zwei Elemente des Erfolgs auf unserer Seite«, brüstet sich der
Minister; »zunächst besaßen wir nicht die geringste Hoffnung, daß man uns auch nur mit einem einzigen
Cent oder einem winzigen Ersatzteil beistehen würde.
Wir wußten von Anfang an, daß wir es aus eigener Kraft schaffen müßten. Und dann gab es den
Präsidenten, der für eine straffe, einheitliche Koordinierung sorgte, der keine Schlamperei aufkommen
ließ.«
Saddam Hussein hatte im März 1991 die Petroleumexperten seines Landes um sich versammelt.
»Wie lange braucht Ihr, bis sämtliche Raffinerien wieder arbeiten?« hatte er gefragt. Die vorsichtige
Antwort lautete: Ungefähr sechs Monate in Anbetracht der Tatsache, daß wir es in den meisten Fällen nur
noch mit verbogenen Blechstangen und mit Schrott zu tun haben. Der Befehl des Diktators war
kategorisch: »Ich verlange, daß binnen drei Monaten wieder eine normale Produktion aufgenommen
wird.« Im Rückblick reibt Amer Raschid sich die Hände: »Wir haben es tatsächlich geschafft; wir haben
Tag und Nacht geschuftet mit erbärmlichen Mitteln und Improvisationen, aber wir haben die gesetzte Frist
eingehaltene Am Tag der kompletten Aufhebung des Export-Boykotts wird die irakische Ã-lindustrie
jedenfalls gewappnet sein, gewaltige Förderungsreserven auf den Weltmarkt zu schleusen. Unterdessen
wird an den zahlreichen Tankstellen der Liter Benzin zum Preis von umgerechnet einem Pfennig
abgezapft.
Amer Raschid kann noch einen anderen Ruhmestitel für sich verbuchen. Er gilt als Vater des
irakischen Raketen-Krieges. Unter seiner technischen Leitung wurde der Radius der sowjetischen Scud-B
auf eine Reichweite von achthundert Kilometer erweitert. Damit war Saddam Hussein in der Lage, im
ersten Golfkrieg gegen den Iran des Ayatollah Khomeini die Städte Teheran und Isfahan unter Beschuß zu
nehmen. Im zweiten Golfkrieg richteten sich diese Trägerwaffen gegen Tel Aviv in Israel und Riad in
Saudi-Arabien. Die zahllosen Untersuchungstrupps der Vereinten Nationen, die unter der Abkürzung
UNSCOM seit sechs Jahren pausenlos nach versteckten Waffen, Rüstungsanlagen, chemischen Fabriken
oder bakteriologischen Laboratorien suchen und sich für keine Schnüffelei zu gut sind, dürften die
meisten Schlupfwinkel, die Saddam Hussein anlegte, inzwischen aufgestöbert haben. Sollte ihnen das
nicht gelungen sein, müßte man ihnen ein erbärmliches Zeugnis ausstellen. An den rastlosen Recherchen
von UNSCOM gemessen, waren die alliierten Kontrollkommissionen des Versailler Vertrages, die
Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg heimsuchten, relativ harmlose Institutionen. Da der irakischen
Regierung - bis zum immer wieder hinausgezögerten Abkommen »Oil for food« - alle Exportgeschäfte
untersagt und sämtliche Auslandsguthaben eingefroren waren, erwies sich das offizielle Zugeständnis der
UNO, Bagdad könne Nahrungsmittel und Medikamente nach Belieben einführen, als inhaltsloser ja
heuchlerische Geste. Für die Steigerung der eigenen Ernten fehlten dem fruchtbaren Zweistromland die
unentbehrlichen chemischen Düngemittel und Pestizide, die man in die Kategorie von »dual use«-Importen
einreihte.
Daß es diesem tyrannischen Regime dennoch gelang, mit Hilfe von kostenlosen Lebensmittel-Coupons
eine Hungersnot zu verhindern und jedem Iraker ein schmales Minimum an Nahrung zu
verschaffen, ist eine beachtliche Leistung, die nur unter Androhung drakonischer Strafe im Fall von
Veruntreuung erzielt werden konnte. Der Ã-lminister versucht, aus der Not eine Tugend zu machen.
»Unsere Bevölkerung, die durch den mühelosen Reichtum des Erdöls verwöhnt war, stand im Begriff, die
Landwirtschaft zu verlernen. Jetzt ist fast jeder Iraker darauf angewiesen, sein Gemüse selbst zu pflanzen,
kleine Felder zu bestellen und alle eßbaren Früchte zu ernten.« Wie lange auch die UNSCOM ihreSchnitzeljagd fortsetzen mag, dem resoluten Raketen-Konstrukteur Amer Raschid und seinesgleichen
traut man zu, daß sie die Rüstungsindustrie des Irak schleunigst wieder auf Touren bringen, sobald der
Eifer der ausländischen Kontrolleure nachläßt oder Washington - aus welchem Grunde auch immer - in
seinem Vergeltungsaffekt erlahmt.
*
In diesem Buch ist von Lug und Trug die Rede. Dazu gehört eine besonders abscheuliche Irreführung,
deren sich die gesamte Staatengemeinschaft - inklusive Sowjetunion - im Verlauf der beiden Golfkriege
schuldig gemacht hat. Wer erinnert sich denn heute noch daran, daß der »neue Hitler« Saddam Hussein,
dem die USA seit 1990 in einer Art überdimensionalem Indianerkrieg nachstellen - als hieße er Sitting Bull
oder Geronimo - vorübergehend das Hätschelkind des Westens war. Im Sommer 1980 wurde der starke
Mann am Tigris als ehrenwerter, willkommener Partner von Amerika und den meisten arabischen Staaten
ermutigt, die verhaßte Mullahkratie von Teheran zu stürzen und die schiitische Revolution des Ayatollah
Khomeini auszumerzen. Der irakische Eroberungsfeldzug in der persischen Erdöl-Provinz Khusistan war
von Washington abgesegnet. Ich beabsichtige nicht, an dieser Stelle das Auf und Ab des achtjährigen
Vernichtungskrieges zu schildern, der mit der irakischen Aggression gegen die Islamische Republik Iran
begann. Erst im August 1988 kam endlich ein Waffenstillstand zustande, von dem Khomeini sagte, er
hätte lieber einen Becher mit Gift geleert.
In den Jahren 1980 bis 1988 wurde Saddam Hussein von den Präsidenten Ronald Reagan und
George Bush als Schwertträger der amerikanischen Golf-Politik hoch geschätzt. Von Premierminister
Jacques Chirac, der ihm modernste Waffen verkaufte, wurde der irakische Rais als »ami de la France«
gepriesen. Niemand nahm damals Anstoß daran, daß der »neue Nebukadnezar« weit und breit bekannt
und berüchtigt war für seine Brutalität, seine Menschenverachtung, für die fürchterlichen Methoden, mit
denen er die Macht über Mesopotamien errungen und dann konsolidiert hatte. Ursprünglich war Saddam
als Verbündeter der Sowjetunion aufgetreten, die ihn mit Rüstungslieferungen überschüttete und auch
noch im Kampf gegen Khomeini regelmäßig die aufgeriebenen Panzerdivisionen mit neuem Material
auffüllte. Entscheidend war jedoch - nach dem Sturz des Schah - die Gunst der westlichen
Führungsmacht, die ihre arabischen Golf-Vasallen zur Finanzierung der Bagdader Kriegsanstrengung
verpflichtete und in besonders kritischen Phasen der Schlacht mit eigenen Mitteln intervenierte. So
verhängte die US Navy de facto eine Blockade über die iranische Schiffahrt im Golf, und ihre schweren
Granaten schlugen in den persischen Ã-lhäfen ein. Amerikanische und russische Ingenieure wirkten an der
Weiterentwicklung der irakischen Boden-Boden-Raketen mit. Spezialisten aus den USA brachten den
irakischen Offizieren bei, wie sich solche Trägerwaffen gegen iranische Luftangriffe in der Wüste tarnen
ließen. Sie informierten Saddam Hussein mit Hilfe ihrer Satelliten-Beobachtung über persische
Truppenkonzentrationen am Schatt-el-Arab und deren offensive Bereitstellungen.
Dennoch war im August 1982, während ich mich in Bagdad aufhielt, die Befürchtung
aufgekommen, die Streitkräfte Khomeinis, die schiitische Revolutionstruppe der Pasdaran und das
jugendliche Volkssturmaufgebot der »Bassidschi«, die bereits das enorme Panzer-Potential Saddam
Husseins in Dezful und Khorramshahr vernichtet hatten, seien nunmehr in der Lage, die irakischen Linien
am Schatt-el-Arab zu durchbrechen. Ich erinnere mich lebhaft an eine Frontbesichtigung auf der
irakischen Seite im Sektor Qasr Schriin und Mandali.
Auf der Rückfahrt hatte der begleitende Offizier die Nachrichtensendung eingestellt. Der
Staatsrundfunk von Bagdad übertrug heldische Männerchöre, die vom gottgewollten Sieg der arabischen
Seite dröhnten. »Allahu akbar« klang es unentwegt im Programm dieses säkularen Staates. Dazwischen
die beschwörende, aufgeregte Stimme des Sprechers. Sondermeldungen jagten sich, untermalt mit
Marschmusik. Das Gesicht des irakischen Majors war plötzlich erstarrt. Jedes Gespräch verstummte.
Selbst die einfachen Soldaten in unserem Landrover hatten begriffen, daß die Armee Saddam Husseinsbei Khorramshahr am Schatt-el-Arab eine vernichtende Niederlage erlitten hatte, daß der Kriegsausgang
auf des Messers Schneide stand.
Wenige Tage später hatte ich die Feldpostnummer gewechselt.
Über Ankara und Teheran war ich mit Genehmigung des Militärberaters Khomeinis, des General Zaher
Nejad, den ich in Iranisch-Kurdistan kennengelernt hatte, mit einer Sondermaschine nach Ahwas und
dann im Jeep bis in die vordersten Linien der Pasdaran befördert worden. Dort bot sich ein gespenstisches
Bild. Zahllose gefallene Iraker verwesten in der glühenden Sonne. Hunderte ihrer schweren Tanks waren
von den Bassidschi geknackt worden, von todesmutigen Halbwüchsigen, ja Knaben, die sich mit ihren
Panzerfäusten wie Mammutjäger auf diese stählernen Ungetüme gestürzt hatten. Wäre in jenen Tagen der
Rat Zaher Nejads befolgt und der Vormarsch auf Basra, die Metropole des Süd-Irak, ohne Zögern
vorgetragen worden, hätte er vermutlich die Kriegsentscheidung zugunsten Teherans davongetragen. Aber
die hohen Mullahs befahlen ihm, auf der Stelle zu treten, in der irrigen Annahme, die überwiegend
schiitische Bevölkerung Süd-Mesopotamiens werde sich wie ein Mann gegen die sunnitische Herrschaft
Saddam Husseins erheben und weiteres Blutvergießen überflüssig machen. Der Aufstand der »Partei
Alis« fand jedoch nicht statt.
Die iranische Führung war einem verhängnisvollen Irrtum erlegen.
Als nämlich die persischen Pasdaran und Bassidschi nach einer Periode nutzlosen Wartens erneut
zum Angriff antraten, auf Schnellbooten und schwankenden Behelfsstegen versuchten, die morastige
Schilfwüste östlich von Ahwas und im Abschnitt der Madschnun-Inseln zu überwinden, hatte der Gegner
sich wieder gefangen. In selbstmörderischem Ansturm gelang es den Iranern, die irakischen Hafenplätze
El Fao und Umm-eI-Qasr vorübergehend zu besetzen, ja vier Stunden lang behaupteten sie sich auf einem
Abschnitt der Autobahn Bagdad-Basra. Aber Saddam Hussein verfügte über eiserne Nerven.
Die unverhoffte Atempause hatte er genutzt. Aus der Sowjetunion waren Massenlieferungen von Panzern
und Artillerie eingetroffen. Amerika koordinierte die Hilfe der Golfstaaten. Bei den Kriegern der
schiitischen Revolution setzte die Losung des Ayatollah Khomeini »Der Weg nach Jerusalem führt über
Bagdad« zwar unvorstellbare Energien, hemmungslose Bereitschaft zur Selbstaufopferung frei, doch da
brach ein entsetzliches Unheil über die Perser herein. Unter Mißachtung der Haager
Kriegsrechtskonvention befahl Saddam Hussein den massiven Einsatz von toxischen Waffen. Tausende
von Giftgas-Granaten gingen über den »Revolutionswächtern« nieder. In dichten Schwaden breitete sich
der chemische Tod über den Sümpfen aus. Die Gefolgsleute Khomeinis, die weder über Gasmasken noch
Schutzanzüge verfügten, erstickten in diesem mörderischen Nebel, ihre Haut wurde verätzt, sie
erblindeten. Mehrere Jahre lang hat diese barbarische Kriegführung gedauert. Zehntausende wurden auf
grausame Weise verseucht.
Im Westen regte sich keine einzige berufene Stimme des Protests.
Keine Human-Rights-Organisation oder Friedensbewegung meldete sich zu Wort, um diese flagrante
Mißachtung des elementarsten Völkerrechtes anzuprangern. Der Einsatz von Giftgasen unterschiedlicher
Zusammensetzung wurde von der internationalen Staatengemeinschaft geflissentlich ignoriert. Es kam zu
keiner entrüsteten UNO-Debatte, denn es galt ja, das Übergreifen der schiitischen Gottesstaats-Idee auf
Mesopotamien mit allen Mitteln zu verhindern. Die Stabilität am Golf wäre durch einen Waffenerfolg
Khomeinis erschüttert worden. Die reibungslose Petroleum-Produktion der ganzen Region stand auf dem
Spiel. Da drückte man allenthalben die Augen zu vor dem fürchterlichen Spektakel und ignorierte
geflissentlich die Vergasung Tausender iranischer Soldaten. Die Granaten, mit Lost, Sarin, Tabun und
anderen Kampfstoffen gefüllt, stammten ursprünglich aus der Sowjetunion, ehe Saddam seine eigene
Produktion aufnehmen konnte.
Auch deutsche Firmen und amerikanische Chemiker sollen am Bau irakischer C-Waffen-Fabriken
maßgeblich beteiligt gewesen sein. Gegen Ende des ersten Golfkrieges, als die Scud-B-Raketen immer
häufiger in Teheran einschlugen, mußte Ayatollah Khomeini damit rechnen, daß deren Sprengköpfe
demnächst auch toxische Stoffe freisetzen würden. Schon breitete sich Panik unter der Zivilbevölkerungder persischen Hauptstadt aus. Massenflucht setzte ein. Keine westliche oder östliche Staatsführung kann
heute behaupten, von diesen mörderischen Vorbereitungen nichts gewußt zu haben. Für die Islamische
Republik Iran schlug die schmerzliche Stunde des Einlenkens, der demütigenden Feuereinstellung.
Saddam Hussein hatte die Prüfung überlebt. Im ganzen Land ließ er sich in der Pose des
kriegerischen Triumphators akklamieren. Er verglich sich mit dem zweiten Kalifen Omar, dessen Beduinen
im Jahr 636 in der Schlacht von Qadissiya das mächtige Perserreich der Sassaniden zerschlagen und den
Iran zum Islam zwangsbekehrt hatten.
Nach einer Neugruppierung seiner Streitkräfte ging der Iraker mit 60000 Soldaten gegen die
aufständischen Kurden in den eigenen Nordprovinzen vor, und als dieses Unternehmen mehr Verluste
forderte als erwartet, wendete er gegen die einheimischen »Peschmerga« die gleiche ruchlose Strategie an,
die sich bei der Abwehr der persischen Pasdaran so glänzend bewährt hatte. Er beschoß im Frühjahr 1988
die Kurdendörfer und vor allem die Stadt Halabja mit seinen Giftgas-Granaten. Mindestens 5000 Zivilisten
- in der Mehrzahl Frauen und Kinder - kamen dabei unter schrecklichen Qualen ums Leben. Doch dieses
Mal hatte der Diktator von Bagdad die Rechnung ohne die selektive Entrüstung und die doppelte Moral
der amerikanischen und europäischen Ã-ffentlichkeit gemacht. Im Gegensatz zu den Leichenhaufen
vergaster Iraner, die niemand sehen wollte, wurden die Bilder der vergifteten Kurden-Familien in
sensationeller Presse- und Fernsehaufmachung publiziert. Für Saddam Hussein, der das militärische
Potential seiner persischen Todfeinde unter immensen eigenen Opfern auf einen bescheidenen
Restbestand reduziert, der dem fundamentalistischen Drachen die Zähne gezogen hatte, galt nunmehr das
Schiller-Wort: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan... « Die sowjetische Hegemonialmacht, die bisher -im
Zuge eines ausgeklügelten Pendelspiels - ihre schützende Hand über Bagdad gehalten hatte, befand
sich 1989 bereits in einem fortgeschrittenen Stadium interner Zersetzung. Michail Gorbatschow dachte gar
nicht daran, dem Präsidenten George Bush in den Arm zu fallen. Plötzlich wollte niemand mehr etwas zu
tun haben mit dem »Killer von Bagdad«, zumal der Irak aufgrund seiner ungeheuren Rüstungsausgaben
nicht einmal mehr in der Lage war, seine Verschuldungsraten fristgerecht abzutragen.
Am 3. Juni 1989 war Ayatollah Ruhollah Khomeini in tiefem Gram über das Scheitern seines
»Heiligen Experiments« gestorben. Der iranischen Massen bemächtigte sich eine an Hysterie grenzende
Welle der Trauer und Verzweiflung. Niemand stand jetzt mehr in Teheran zur Verfügung, um mit
vergleichbarer Autorität »den Weg nach Jerusalem« zu weisen. Die »Neue Friedensordnung« im Nahen
und Mittleren Osten, die George Bush propagierte und die als Kernstück eine israelisch-arabische
Versöhnung enthielt, konnte von der schwer angeschlagenen persischen Mullahkratie nicht länger in Frage
gestellt werden. Statt dessen erhob sich nunmehr an den Ufern von Euphrat und Tigris das Gorgonen-Haupt
einer unberechenbaren irakischen Herausforderung. Die Raketen und die chemischen Kampfstoffe,
die Saddam Hussein so überaus nützlich zur Eindämmung des schiitischen Fundamentalismus eingesetzt
hatte, wurden zur unerträglichen Bedrohung, falls sie sich eines Tages gegen den mit den USA aufs engste
verknüpften Judenstaat oder gegen den saudischen Vorzugsalliierten richten sollten.
Angeblich war der Irak der Atomschwelle bedenklich nahe gerückt. Im Weißen Haus wurde man
sich bewußt, daß man in der Person Saddam Husseins ein orientalisches »Frankenstein-Ungeheuer«
herangezüchtet hatte. Der Rais von Bagdad mußte seinerseits mit Verblüffung registrieren, wie die
Stimmungsmache der amerikanischen Medien sich schlagartig und mit aller Wucht gegen den Irak und
dessen furchterregendes Kriegspotential richtete. Diese Kehrtwendung wurde vollzogen, als von einem
Konflikt um Kuweit noch überhaupt nicht die Rede war. Meine Gesprächspartner im Irak, mit denen ich
im August 1997 immer wieder die Hintergründe der Operation »Desert Storm« aufzuhellen suche, äußern
ausnahmslos die Überzeugung, daß der Feldzug gegen Saddam Hussein, zumindest seine Reduzierung
auf die Rolle eines gefügigen Satrapen der USA, beschlossene Sache war, lange bevor die irakische
Annexion des Scheikhtums Kuweit der amerikanischen Machtentfaltung am Golf eine weltweit
akzeptierte Rechtfertigung verschaffte.Wenn ich die Schwelle zum Hotel Raschid überschreite und mit meinen Fußsohlen auf das Antlitz des
Präsidenten Bush trete, muß ich gelegentlich an den CNN-Korrespondenten Peter Amett denken, der -obwohl
US-Bürger - mit stoischer Gelassenheit in Bagdad ausgeharrt und sich zu Beginn des Jahres 1991
durch eine ebenso mutige wie ausgewogene Berichterstattung ausgezeichnet hatte. Mir war der gebürtige
Neuseeländer seit dem amerikanischen Vietnam-Krieg als Korrespondent des Nachrichtenbüros der
Associated Press von Saigon in positiver Erinnerung. Daß Peter Amett, weil er sich nicht an der
Irreführung der öffentlichen Meinung beteiligte und in das Triumphgeheul der Anti-Saddam-Koalition
einstimmte, später zur Zielscheibe »patriotischer« Vorwürfe und kollegialen Neides, daß seine CNN-Karriere
sich davon nie erholen würde, konnte damals niemand ahnen.
Ich selbst hatte das spektakuläre Feuerwerk über Bagdad, den Auftakt der »Mutter der
Schlachten«, in Florida, an der Küste des Golfs von Mexiko, erlebt, wo ich ein paar Ferientage verbringen
und nebenbei auch das Ohr an das imperial schlagende Herz Amerikas legen wollte. Dort, in der heilen
Welt eines subtropischen Luxus-Resorts mit Blick auf den schimmernden Golf, auf weißen Strand,
Mangrovendickichte, Palmenhaine und üppige Villen - umgeben von den Repräsentanten einer
demonstrativen Freizeitgesellschaft -, hatte mich die Nachricht vom Ausbruch des Golfkrieges schon in
der Nacht meiner Ankunft erreicht. Die drei nächsten Tage verbrachte ich vor dem Bildschirm. Ich ergab
mich dem CNN-Syndrom, ließ das Computerspiel einer manipulierten Kriegsberichterstattung über mich
ergehen.
In unserem amerikanischen Bekanntenkreis von Naples, der sich abends im Royal Club traf, herrschte in
jenen Januartagen Hochstimmung. Die Amerikaner waren offenbar noch einer nationalen Begeisterung
fähig, die den Kontinentaleuropäern längst abhanden gekommen war. Unsere engsten Gesprächspartner,
mehrheitlich als wohlhabende Geschäftsleute oder Anwälte etabliert, hatten in ihrer Jugend als Offiziere
bei den US Marines gedient. Eine geradezu Victorianische Erfolgszuversicht kam auf. »By Jingo«, so hatte
man wohl unter der großen Queen and Empress of India gesungen, »we have the men, we have the ships,
and we have the money too.« Jetzt hatte George Bush Männer und Schiffe in einem Umfang gegen die
weit überschätzte Armee Saddam Husseins aufgeboten, wie das nach dem Vietnam-Debakel, dessen
Trauma es zu überwinden galt, sich niemand mehr vorgestellt hätte. Das Geld für die Monster-Expedition
am Golf, so sickerte bereits durch, würde er sich aber bei den Erdöl-Potentaten der Arabischen Halbinsel,
bei den Japanern und bei den Deutschen holen. In der zuversichtlichen Anfangsphase der Operation
»Wüstensturm« wäre jeder von einem Ausländer geäußerte Zweifel an der Fähigkeit Amerikas, nach der
Niederschlagung des Paranoikers von Bagdad im ganzen Orient eine »Neue Friedensordnung« zu
schaffen, als Ausdruck von Neid und Häme gewertet worden.
Mich drängte es, an den Ort des Geschehens zu eilen. Zu jenem Zeitpunkt hatte sich bereits
erwiesen, daß Riad, daß Dhahran, daß die ganze Golfregion lausige Korrespondentenplätze waren, daß
eine bleierne Zensur verhängt, wenn nicht gar eine systematische Desinformation gestreut wurde.
Lediglich sorgsam gesiebte »Pools« - unter Bevorzugung der amerikanischen Medien - durften einen
Zipfel der »Frontlinie« im Wüstensand besichtigen. Ich entschloß mich deshalb, nach Amman in
Jordanien zu fliegen, wo König Hussein sich unter dem Druck seiner überwiegend palästinensischen
Untertanen mit der irakischen Sache solidarisiert hatte. Seit im Küstengebiet von Tel Aviv die ersten Scud-B-
Raketen eingeschlagen waren, mußte überdies mit einer radikalen Gegenaktion Zahals, der israelischen
Streitmacht, gerechnet werden. In diesem Fall hätte man sich in Amman in der vordersten Loge befunden.
Vorsorglich beschaffte ich mir auch noch ein Visum für die Arabische Republik Syrien. Vielleicht würde
sich ja in der Stunde des Zusammenpralls die Straße nach Damaskus als einziger Ausweg aus der
jordanischen Mausefalle anbieten.
Das wirkliche Menetekel, das in jenen Tagen über den Höhen von Judäa aufleuchtete, war die
Fähigkeit Saddam Husseins, den Ablauf des Krieges auch mit chemischen Waffen zu beeinflussen unddadurch den jüdischen Staat zu schrecklicher Vergeltung zu zwingen. So wurde die gelassene Stimmung,
mit der ich mich nach Amman auf den Weg machte, am Abend vor meinem Abflug ein wenig getrübt, als
es zu später Stunde an meiner Zimmertür klopfte und der Portier des Münchner »Vier Jahreszeiten« mir
im Auftrag des ZDF ein quadratisches Paket überreichte. Es enthielt, wie ich der Aufschrift entnahm, eine
Gasmaske und einen Schutzanzug gegen chemische Kampfstoffe. Eine neue, besonders heimtückische
Fratze des Krieges wurde hier plötzlich sichtbar.
Bei der Ankunft in Amman stellte sich Ernüchterung ein. Die Normalität der Verhältnisse in der
jordanischen Hauptstadt stand in krassem Gegensatz zu den angespannten Erwartungen und Exzessen
des Sensationsjournalismus. Die Zoll-Abfertigung verlief völlig reibungslos, und in den Außenbezirken
der Stadt war auch zu dieser späten Stunde keinerlei militärisches Aufgebot zu entdecken. Außer der
Hektik der Presseleute, die ohne ein Minimum an Wichtigtuerei offenbar nicht auskommen können,
wirkte die Atmosphäre und die Stimmung der Bedienung im mir vertrauten Hotel »Intercontinental«
freundlich und durchaus normal. Wenn später behauptet wurde, den alliierten Stäben sei es im Golfkrieg
gelungen, sämtliche beruflichen Informanten hinters Licht zu führen und den Nimbus der »war
correspondents« ein für allemal anzuschlagen, so kann ich dem in keiner Weise zustimmen. Für geübte
Beobachter hatte der unabänderliche Wille des US-Präsidenten, den militärischen Schlag auch zu Lande
zu führen, von jenem Tag an festgestanden, da mehr als 500 000 GIs ihre Bereitschaftsstellungen in der
Wüste bezogen. Wer Indochina erlebt hatte, mußte eine Analogie zum Vietnam-Krieg, die von den
europäischen Medien immer wieder aufgetischt wurde, schon aus Gründen der Topographie weit von sich
weisen. Ebenso unseriös wirkten Spekulationen auf einen unmittelbar bevorstehenden Kompromiß der
letzten Minute, den der sowjetische Unterhändler Primakow aus der Tasche ziehen werde. Das
Ausharrungsvermögen Saddam Husseins wurde sträflich unterschätzt. Lange bevor General Schwarzkopf
zu seinem Panzerblitzkrieg ausholte, waren sich alle Experten einig, daß das Ziel einer grundlegenden
Veränderung verfehlt würde, falls ein Teil der Präsidenten-Garde überlebte und Bagdad von jeder alliierten
Truppenpräsenz verschont bliebe. Auch in Amman wurden die Bilder des Krieges über den CNN-Nachrichtenkanal
übertragen und mit extremer Spannung verfolgt. Die Aufnahmen kamen meist in der
seltsam abstrakten Form elektronischer »war games« zu uns. Sie entbehrten jeder Realität. Wir verfügten
jedoch über die Augenzeugenberichte jener Journalisten, die auf der Wüstenstraße von Rafat nach
Bagdad gefahren waren und sich im benachbarten Irak relativ ungestört umgesehen hatten. Auf diese
Weise waren wir über den Stand und die Wirkung des Luftkrieges ziemlich wahrheitsgetreu informiert.
Vergeblich starrten wir im Februar 1991 zum Nachthimmel hoch, um eine Scud-B bei ihrem
Anflug auf Tel Aviv zu beobachten. Der Raketenkrieg, den Saddam Hussein mit kläglicher militärischer
Wirkung, doch gewaltigem Propagandaeffekt gegen Israeli und Amerikaner führte, elektrisierte die
jordanische Bevölkerung. Mittelpunkt einer jeden Kundgebung, die von der PLO, der »Organisation zur
Befreiung Palästinas«, gegen die »US-Aggressoren« veranstaltet wurde, Waren silberbepinselte Blech-oder
Papp-Attrappen, die die Raketen Saddams darstellen sollten. In den jordanischen Palästinenser-Lagern
wurden vor einer begeisterten Menge Wrackteile abgeschossener amerikanischer Flugzeuge
versteigert.
Sogar in den Villenvierteln kamen die Schulkinder der ortsansässigen Bourgeoisie im kalten
Winterregen zusammen, um sich unter Anleitung ihrer Lehrer politisch zu engagieren. Gewiß, einige
Schüler trugen Abbildungen von Friedenstauben oder Transparente mit der aus Vietnam vertrauten
Inschrift: »give peace a chance«. Aber weitaus zahlreicher waren kindliche Zeichnungen mit
explodierenden Raketen, die den Judenstaat zerstören sollten. »Ya Saddam, ya habib«, kreischten die
»little darlings«, wie Mariam, unsere palästinensischchristliche Aufnahmeleiterin, sie spöttisch nannte,
»Ya Saddam, ya habib, udrub, udrub Tel Abib - 0 Saddam, unser Liebling, hau doch drauf, hau auf Tel
Aviv!« Es bedeute allerhand, kommentierte Mariam, daß die reichen Leute ihre kleinen Lieblinge in das
garstige Wetter hinausgelassen hatten. Meine tiefe Abneigung gegen Eltern, die ihre Kinder zu politischenKundgebungen mitnehmen, und seien deren Zielsetzungen noch so edel, wurde hier bestärkt. Ob die
wehrlosen Minderjährigen den Völkerfrieden oder den Völkerhaß akklamieren.
wird ihnen schließlich immer von den Erwachsenen suggeriert.
Bei allen Massenversammlungen, die wir in jenen Tagen erlebten, ist uns nie wirkliche
Feindseligkeit entgegengeschlagen. Uns störte es wenig, wenn ein Chor alter Männer unter dem rot-weißen
Keffiyeh, dem landesüblichen Kopftuch, den amerikanischen Präsidenten »Bosch«, wie sie ihn
aussprachen, als ein »Stück Scheiße« bezeichneten. In Mafraq, der nördlichen Grenzstadt zu Syrien,
waren gleich zwei säuberlich getrennte Demonstrationszüge angetreten. Beide führten
Raketennachbildungen mit sich, doch während die einen unter roten Fahnen marschierten - das waren die
Kommunisten -, führten die anderen die grüne Fahne des Propheten mit und gaben sich als Moslem-Brüder
zu erkennen. Die jordanischen Sicherheitsbehörden verloren zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle
über diese Kundgebungen. In Mafraq war der zuständige Polizeimajor, sehr britisch auftretend, um unsere
Sicherheit besorgt. Er werde uns diskret schützen lassen, sagte er.
Die Extremisten des »Heiligen Krieges«, in der militanten Palästinenser-Organisation »Dschihad«
zusammengeschlossen, scharten sich um eine malerische Patriarchengestalt, Scheikh Assad el-Tamimi.
Dieser zornige Eiferer, mit Prophetenbart und dröhnender Stimme, rühmte Saddam Hussein als Hoffnung
der Araber und des Islam. Er sah in dem irakischen Diktator einen neuen »Saladin«, der Jerusalem, »die
Heilige«, den Ungläubigen entreißen würde. Doch der kämpferische Greis wirkte zu theatralisch, um
wirklich ernst genommen zu werden. Beunruhigender waren seine Leibwächter, junge bleiche Leute mit
starrem Blick, spärlichem Bartwuchs und pubertären Pickeln, die mit ihren Kalaschnikows hantierten.
Offenbar sah der ehrwürdige Scheikh in jedem Deutschen einen potentiellen Judenvernichter. Er selbst
gab sich »nuancierter«. Natürlich müsse der Staat Israel zerstört werden. Die Zionisten müßten »Filistin«
verlassen, sonst würden sie umgebracht. Im Lande bleiben dürften nur jene Söhne Israels, »Banu Israil«,
deren Familien dort bereits vor 1918 ansässig gewesen seien.
Zuletzt schreckte Tamimi nicht davor zurück, Saddam Hussein - trotz dessen Zugehörigkeit zur wenig
islamischen Baath-Partei - als künftigen Kalifen für die gesamte Umma anzupreisen.
*
Warum hat George Bush die Bodenoffensive der amerikanischen Streitkräfte und ihrer zahlreichen
Verbündeten am Morgen des 28. Februar 1991 nach hundert Stunden abgebrochen? Die Iraker leisteten
keinerlei Widerstand mehr, sondern flüchteten in aufgelösten Scharen nach Norden. Der militärische Sieg
konnte nicht kompletter sein. Die spärlich bewaffnete französische Golfkriegs-Division »Daguet«, die am
nördlichsten Sektor durch die Wüste in Richtung Bagdad vorstieß, hatte nur einen Soldaten durch Land-Minen
verloren und stand kurz vor dem Euphrat. Der Sturz Saddam Husseins schien besiegelt. Dennoch
wurde das Unternehmen »Wüstensturm« überstürzt abgeblasen, wohl sehr zur Verärgerung des
amerikanischen Oberbefehlshabers Norman Schwarzkopf Wie oft bin ich nach Vorträgen über die Lage
im Orient nach den Gründen dieses verfrühten Waffenstillstands gefragt worden. Die Erklärungen sind
vielfältig und oft widersprüchlich. Der damalige Stabschef der US-Streitkräfte, General Colin Powell,
wollte bei einer Besetzung Mesopotamiens offenbar nicht in einen »protracted warfare«, in einen
»quagmire«, so hieß es in Vietnam, verwickelt werden. Häuserkämpfe in Bagdad hätten verlustreich
werden können, nachdem bisher nur 126 Soldaten gefallen waren, darunter 79 Amerikaner. Diese Verluste
waren zudem noch überwiegend durch sogenanntes »friendly fire« oder Unfälle verursacht worden. Die
Scud-B-Raketen Saddam Husseins wurden erst dann wirklich gefährlich, wenn sie von dem völlig
unzureichenden Abfangsystem »Patriot« zufällig getroffen wurden und mit erhöhter Splitterkraft
einschlugen.
Die offiziellen Sprecher des Weißen Hauses haben behauptet, der Krieg und vor allem die
Luftangriffe gegen die flüchtenden Iraker seien eingestellt worden, um kein namenloses Gemetzel beimGegner anzurichten. Diese Darstellung, die von manchen deutschen Kolumnisten nachgebetet wurde,
kann niemanden überzeugen, der Augenzeuge der amerikanischen Bombardements am 17. Breitengrad in
Vietnam oder im Mekong-Delta war. Die Schätzungen über die im Krieg getöteten Iraker schwanken
erheblich, variieren zwischen 85 000 und 150000 Opfern. Aber sie bezogen sich fast ausschließlich auf das
gewöhnliche Fußvolk, auf die Masse der schlecht ausgerüsteten Divisionen, die im südlichsten Abschnitt
von Kuweit und Umgebung massiert waren. Die Elite-Einheiten des Regimes, die »Republikanische
Garde«, etwa 80000 Mann mit ihren modernen T-72-Panzern, waren auf Anordnung Saddam Husseins in
rückwärtigen Stellungen disloziert worden und wurden von der US Air-Force aus mysteriösen Gründen
verschont.
Eine andere offizielle Erklärung besagt, George Bush habe vom Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen lediglich den Auftrag zur Befreiung Kuweits und nicht zum Vormarsch auf irakisches
Territorium erhalten. Doch wer wäre schon dem US-Kommando in den Arm gefallen, als es um die
Eliminierung des »Kriegsverbrechers« Saddam ging, und seit wann schert Washington sich so skrupulös
um UN-Resolutionen? Im Gegenteil, es kam weltweite Enttäuschung auf, als sich herausstellte, daß der
Diktator von Bagdad sich an der Macht behaupten würde. Schon bekamen die amerikanischen Strategen
den Vorwurf zu hören, den einst ein karthagischer Unterführer an den siegreichen Feldherrn Hannibal
gerichtet hatte, als dieser sich nach einer Serie beispielloser Siege weigerte, ohne Verzug zur Eroberung
Roms auszuholen: »Vincere scis, Hannibal, victoria uti nescis - Zu siegen verstehst du, Hannibal, den Sieg
zu nutzen verstehst du nicht.«
Die wirklichen Überlegungen, die dem plötzlichen Stillhalten der US-Streitkräfte zugrunde lagen,
hatte ich bereits in meinen Fernsehkommentaren angekündigt, die ich Mitte Februar 1991, also zwei
Wochen vor Beginn des Blitzfeldzuges zur Befreiung Kuweits, vom Dach des Hotel Intercontinental in
Amman per Satellit nach Deutschland übermittelte. Weder die USA noch deren saudi-arabische
Verbündete besaßen irgendein Interesse an der staatlichen Auflösung der irakischen Republik. Ein Sturz
Saddam Husseins, eine entscheidende Schwächung der tyrannischen Zentralgewalt in Bagdad hätte
diversen separatistischen Tendenzen freien Lauf gelassen. Die Bevölkerung des Zweistromlandes setzt
sich zu sechzig Prozent aus Schiiten zusammen, die vor allem südlich der Hauptstadt und im Umkreis von
Basra eine erdrückende Mehrheit bilden. Die Gründung eines schiitischen Gottesstaates im Süd-Irak nach
dem Vorbild der Khomeini-Revolution wäre in Teheran zwar mit Begeisterung aufgenommen worden,
hätte jedoch beim saudischen Königshaus die Befürchtung genährt, nun werde diese religiöse
Hochstimmung auch auf jene Schiiten übergreifen, die ausgerechnet in der saudischen Erdöl-Provinz El
Ahsa stark vertreten sind.
Im Norden wiederum wäre die Auflösung des Bagdader Staatsapparates von den Kurden genutzt
worden, um im Raum von Mossul, Kirkuk, Suleimaniyeh und Halabja eine souveräne Republik zu
proklamieren. Was wiederum die türkische Regierung in Ankara und die dortige Armeeführung, die in
Ost-Anatolien in einen endlosen Partisanenkrieg gegen die Stalinisten der PKK verstrickt sind, zur
militärischen Intervention, ja vielleicht zur dauerhaften Okkupation der irakischen Nordprovinzen
bewogen hätte. Kurzum, die Erhaltung des territorialen Status quo erschien den geopolitischen Planern in
Washington als das geringere Übel. Der Geheimdienst CIA ging im übrigen von der Gewißheit aus, daß
Saddam Hussein nach seiner schmählichen Niederlage vom eigenen Offizierskorps gestürzt würde und
daß man sehr bald in Bagdad mit einem neuen Machthaber verhandeln könne. Am Tigris ist mir versichert
worden, der irakische Staatschef habe höchstpersönlich das Gerücht dieses unmittelbar bevorstehenden
Militärputsches den amerikanischen Agenten zuspielen lassen, um George Bush in Sicherheit zu wiegen
und sein eigenes Überleben zu ermöglichen.
Der babylonische Präzedenzfall des Frevlers Belsazar, den die Bibel schildert und den Heinrich Heine in
seiner Ballade popularisierte, hat sich nicht wiederholt: »... Belsazar ward aber in selbiger Nacht von
seinen Knechten umgebrachte Aus dem Blitzsieg von »Desert Storm« war ein Pyrrhus-Sieg geworden.Daran konnte auch der römisch anmutende Triumphzug des General Schwarzkopf an der Spitze seiner
Soldaten auf der Fifth Avenue von New York nichts ändern.
*
Nichts liegt mir ferner, als das Lied des »ugly American«, des häßlichen Amerikaners, anzustimmen. Aber
mit allen Registern ist im Golfkrieg gegen Irak »foul« gespielt worden. Die Irreführung der Medien und
der Weltöffentlichkeit hat vor, während und nach dem Unternehmen »Wüstensturm« groteske Ausmaße
angenommen. Wer konnte während des US-Bombardements noch unterscheiden zwischen realen
Luftaufnahmen und Computer-Simulierungen? Die Zahl der rund um Kuweit massierten irakischen
Truppen wurde extrem aufgebauscht. Nach ihrem Einmarsch in Kuweit haben sich die Soldaten Saddam
Husseins ganz bestimmt nicht wie Gentlemen aufgeführt. Aber sie waren auch nicht die Bestien in
Menschengestalt, als die sie von der amerikanischen Greuelpropaganda dargestellt wurden. Plünderungen
in großem Ausmaß fanden statt, und das Beutegut ist teilweise heute noch - vom Kühlschrank bis zum
Kronleuchter aus Kristall - in gewissen Valuta-Kaufhäusern Bagdads zu erstehen. Oft waren jedoch
ortsansässige Kuweiti an diesen Seriendiebstählen beteiligt. Ich habe mich von libanesischen Kaufleuten,
die den ganzen Krieg im okkupierten Scheikhtum miterlebt haben, ausführlich informieren lassen. Die
Iraker sollen sich nicht wesentlich schlimmer aufgeführt haben, als das andere arabische Eroberer in
vergleichbarer Situation getan hätten. Die Verschleppung und die Hinrichtung potentieller politischer
Gegner, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, sind leider geläufige Praxis im ganzen Orient.
Es gibt Situationen, in denen die Europäer ihrem übermächtigen Bündnispartner jenseits des
Atlantiks nicht jeden Streich durchgehen lassen sollten. Eine Portion Gaullismus stünde den
verantwortlichen Politikern unseres alten Kontinents gut zu Gesicht, was eine tief verankerte Solidarität
mit Amerika keineswegs ausschließt. Auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise, als die Welt sich am Rande
des Atomkrieges befand, hatte Charles de Gaulle - bei all seinen Vorbehalten gegen den westlichen
Hegemonen - dem Emissär John E Kennedys, Dean Acheson, auf englisch, was für ihn äußerst
ungewöhnlich war, deklariert: »If there is a war, we shall be with you - Wenn es zum Krieg kommt, stehen
wir auf Eurer Seite.« Aber gewisse »dirty tricks« können einfach nicht hingenommen werden. Ein
Paradebeispiel dieser geheimdienstlichen Abgefeimtheit war wohl die Horror-Erfindung von den
Brutkästen für Säuglinge in einem Kuweiter Krankenhaus, die von den Irakern angeblich zertrümmert
wurden. Die Babys seien dann von diesen Sadisten an den Wänden zerschmettert worden. Um diesen
Behauptungen Glaubwürdigkeit zu verleihen, war eine englische TV-Produktionsfirma speziell beauftragt
und bezahlt worden, das Gruselspiel absichtlich verwackelt und leicht verzerrt mit Schauspielern zu
inszenieren und den Säuglingsmord anhand von Puppen zu simulieren. Dazu gesellte sich die Tochter des
Botschafters von Kuweit in den USA, um über sämtliche Fernsehkanäle mit tränenerstickter Stimme
Greuelmärchen zu verbreiten, die sie im fernen New York frei erfunden hatte.
Nach Ende der Bodenoffensive kam die Sensationsnachricht von irakischen Giftgas-Anschlägen
gegen die vorrückenden Amerikaner auf. In Wirklichkeit hatte die US Army - von ihrem voll informierten
Nachrichtendienst unzureichend gewarnt - Bunkerstellungen des Gegners gesprengt, in denen
Gasgranaten und Sarin-Kampfstoff lagerten. Seitdem ist in den USA der Streit im Gang um die
Entschädigung der durch eigenes Verschulden verseuchten amerikanischen Soldaten, deren Zahl von
gewieften Anwälten beliebig in die Höhe getrieben wird. Nur ein geringer Teil der Lügen und
Fehlleistungen, die den strahlenden Sieg George Bushs ins Zwielicht rücken, sind bekannt geworden.
Man erinnere sich zum Beispiel an die Tatarenmeldung von der totalen Ã-lverschmutzung des Persischen
Golfs durch auslaufendes Petroleum. Als dazu eine drastische Illustration fehlte, wurde die Fernseh-Aufnahme
eines im Ã-l ertrinkenden Kormorans aus der französischen Bretagne zu Hilfe genommen. um
die Entrüstung der Umweltschützer anzufachen.In einem mit Hilfe des deutschen Nachrichtendienstes entstandenen Sachbuch des FAZ-Redakteurs
Udo Ulfkotte, dessen Lektüre für naive Gemüter überaus heilsam wäre, sind die von mir
summarisch aufgezählten Pannen mit detaillierter Sachkenntnis aufgelistet. Verblüffend an dieser
Veröffentlichung sind nicht so sehr die Fakten selbst, die in der amerikanischen Presse längst ausführlich
behandelt wurden, sondern die Tatsache, daß ausgerechnet der BND zu einer so schonungslosen
Kampagne gegen seine Kollegen der CIA ausholte. In Pullach - das wäre das wahre Hintergrundthema
besagten Buches - scheint eine gewisse Schizophrenie vorzuherrschen. Einerseits stellt man die US-Agenten
als Stümper und Killer dar, andererseits wird jedoch von Ulfkotte versichert, daß über den BND
seit geraumer Zeit sämtliche deutschen Botschaftsberichte an den israelischen Nachrichtendienst
»Mossad« weitergeleitet werden. Nun ist aber die Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und
israelischen »Spooks« aufs engste verzahnt, so daß die Enthüllungen Pullachs, die streng vertraulichen
Lagebeurteilungen des Auswärtigen Amtes, zweifellos über Jerusalem ihren Weg nach Langley finden.
Das erträgliche Maß an Skrupellosigkeit und »intoxication« wurde vollends überschritten, als das
US-Kommando die Regimegegner Saddam Husseins - insbesondere die Schiiten im Süden und die
Kurden im Norden - zum offenen Aufstand gegen den Diktator aufrief und sie dann ihrem tragischen
Schicksal überließ. Die Kurden, die im Westen über eine beachtliche Anzahl von Sympathisanten bei
linken Alternativen und »Friedenskämpfern« verfügen, kamen noch relativ glimpflich davon. Sie
profitierten von den amerikanischen Schutzmaßnahmen, die im Stil der üblichen Schönfärberei mit dem
Namen »Northern Shield« und »provide comfort« bezeichnet wurden. Eine schreckliche Untat wurde
hingegen an den schiitischen Gegnern Saddam Husseins begangen. Es war nämlich zur Volkserhebung in
den meisten Provinzen südlich von Bagdad gekommen. Die Anführer der bislang streng geheimen
Untergrund-Organisationen, insbesondere der militanten Gruppe »El Dawa«, tauchten aus ihren
Schlupflöchern und ihrer Anonymität auf. Die Geheimpolizei Bagdads hatte schon in den siebziger und
Achtziger Jahren zur erbarmungslosen Repression gegen die Mullahs und jene schiitischen Intellektuellen
ausgeholt, die man als Feinde des säkularen Baath-Regimes, als heimliche Befürworter eines Gottesstaates
à la Khomeini verdächtigte. Der oberste Würdenträger der »Partei Alis«, Ayatollah Uzma Mohammed
Baqr Sadr, war 1980 hingerichtet worden. Der nächste hohe schiitische Geistliche des Irak, Mohammed
Baqr-el-Hakim, entkam nach Teheran, wo er eine »Armee der islamischen Mobilisierung« unter den
schiitischen Kriegsgefangenen aus Mesopotamien zu rekrutieren suchte. Viel effektive Hilfe haben die
Aufständischen des Süd-Irak von ihren persischen Glaubensbrüdern dennoch nicht erhalten, als die
Revolte sich im März 1991 in Windeseile ausbreitete. Teheran hatte sich noch längst nicht von den
horrenden Verlusten des ersten Golfkrieges erholt.
Auch ohne nennenswerten äußeren Beistand hatten sich die schiitischen »Gotteskrieger« der
südlichen Hälfte des Zweistromlandes bemächtigt. Nach heftigen Gefechten hatten sie die Großstadt Basra
von den Schergen Saddam Husseins befreit, die heiligen Pilgerstätten Nedschef und Kerbela für die
»Schiat Ali« zurückgewonnen. Ihre Anführer vertrauten darauf, daß Präsident Bush die irakische Armee
zumindest daran hindern würde, eine Gegenoffensive in Gang zu setzen und blutige Vergeltung zu üben.
Doch in diesem Punkt hatten sich die Schiiten geirrt. Sie waren auf abscheuliche Weise getäuscht worden.
Die Kein- und Verfügungstruppe des Saddam-Regimes, die Divisionen der »Republikanischen Garde«,
waren ja von amerikanischen Luftangriffen verschont geblieben. Sie standen fast unversehrt bereit, um mit
schwerem Material gegen die Aufrührer vorzugehen. Amerika hatte die Volkserhebung gegen den »Hitler
von Bagdad« mit allen Mitteln der Propaganda ermutigt. Als aber die Perspektive einer schiitischen
Loslösung von der irakischen Zentralmacht sich abzeichnete und die Konturen eines islamischen
Gottesstaates in Süd-Mesopotamien Gestalt annahmen, rührten die Streitkräfte des General Schwarzkopf
keinen Finger, um diesen Irregeleiteten zu Hilfe zu kommen. Sie sahen taten- und wortlos zu, wie die
Revolutionsgardisten unter Befehl des als Schlächter berüchtigten General Ali Hassan el-Madschid die
Straßen von Basra in Schutthalden verwandelten, die heilige Stadt Nedschef verwüsteten und das höchste
schiitische Sanktuarium von Kerbela, das Grab des Imam Hussein, in Brand schossen.Washington hat die rebellischen Schiiten ihrem Todfeind Saddam Hussein bewußt ans Messer
geliefert. Zwar war von der US Air-Force über breite Streifen im Norden und im Süden des Landes ein
Flugverbot für irakische Kampfflugzeuge verhängt worden. Aber über eine nennenswerte Luftwaffe
verfügte Bagdad seit Kriegsbeginn ohnehin nicht mehr - die Maschinen waren nach Iran ausgeflogen
worden -, und das Startverbot galt nicht für die Hubschrauber, die der Diktator durch geschickte Tarnung
gerettet hatte. Die gepanzerten Helikopter stießen nunmehr wie mörderische Raubvögel auf die schlecht
bewaffneten Schiiten nieder. Es fand ein entsetzliches Gemetzel statt. Letzte Zuflucht fanden die
Aufständischen in jener malerischen Sumpflandschaft, wo sich das Leben der »Marsh«-Araber seit
prähistorischen Zeiten nicht geändert hatte. Umgehend ordnete Saddam Hussein an, die potentiellen
Widerstandsnester, dieses einzigartige Naturreservat durch Kanalbau und Drainage auszutrocknen und der
Versteppung auszuliefern.
Die amerikanische Orient-Politik hatte einen doppelten, zutiefst dubiosen Erfolg verbucht:
Saddam Hussein war - mehr noch als bei der Besetzung Kuweits - als grausamer Unhold diskreditiert, und
die Schiiten des Irak wurden als potentielle Verbündete des iranischen Gottesstaates ausgeschaltet. Die
Vasallen der USA am Persischen Golf - Kuweiti und Saudi zumal - konnten aufatmen. Kein
amerikanischer oder europäischer Medien-Kommentator wagte die Feststellung zu treffen, daß das US-Kommando
sich gegenüber den Schiiten des Irak ähnlich verhalten hatte wie die Rote Armee Josef
Stalins, als deren Divisionen im Warschauer Stadtteil Praga östlich der Weichsel wie gelähmt, ohne auch
nur eine Granate abzufeuern, zusahen, wie Wehrmacht und Waffen-SS den patriotisch und katholisch
motivierten Aufstand des Oberst Bór-Komorowski zusammenkartätschten, die polnische Widerstands-Elite
füsilierten und Warschau in eine Mondlandschaft verwandelten. Ob ein solcher Zynismus sich am
Ende auszahlt? Die »glorreiche Sowjetmacht« ist - trotz oder wegen des stalinistischen Verbrechens an
der Weichsel - zumindest partiell an der ungebrochenen Beharrungskraft Polens gescheitert. Heute deutet
einiges darauf hin, daß das skrupellose Doppelspiel zwischen Euphrat und Tigris, dessen sich die USA
schuldig machten, ihnen keinen dauerhaften Vorteil bei der angestrebten »Neuen Friedensordnung«
verschaffen wird.

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