- Erkenntnisse aus dem Wahlergebnis - Popeye, 27.09.2002, 07:51
Erkenntnisse aus dem Wahlergebnis
-->Angst vor liberaler Politik
Von Rainer Hank
Angenommen, die FDP hätte im Wahlkampf weder mit
den Eskapaden des Jürgen W. Möllemann noch mit den
Spaßigkeiten des Guido Westerwelle kämpfen müssen.
Angenommen, der Vorsitzende der FDP wäre ein
jugendlicher Otto Graf Lambsdorff, nur der Sache und nicht
persönlicher Eitelkeit oder machtpolitischen Ränkespielen
verpflichtet. Hätte die FDP dann ihr Wahlziel erreicht? Wäre
sie dann auf ein zweistelliges Ergebnis gekommen?
Nein. Woran ist die FDP dann gescheitert? Die Antwort
klingt bitter: an ihrem Programm. Die Botschaft des
vergangenen Sonntags heißt auch: Eine liberale Wirtschafts-
und Sozialpolitik, die Wettbewerb wichtiger nimmt als
Korporatismus und die Marktlösungen allemal gegenüber
Staatshandeln bevorzugt, hat in Deutschland keinen Platz,
Pardon, hat in Deutschland Platz für rund acht Prozent der
Wählerstimmen. Noch drastischer gesprochen: Deutschland
ist zweifelsohne ein liberales Land. Als politisches Programm
wird der Liberalismus aber kaum gewählt. Die Bürger ziehen
hierzulande lieber solche politischen Angebote vor, die ihnen
mehr Verteilungsgleichheit und Veränderungszurückhaltung
versprechen.
Union und Sozialdemokraten haben es im Wahlkampf mit
fast identischen Argumenten gut verstanden, den Bürger vor
dem liberalen Wirtschaftsmodell zu warnen. Das Verdikt
lautet unisono: Wir wollen keine amerikanischen
Verhältnisse. Es ist kein Zufall, daß Kanzler Schröders Wort
vom"deutschen Weg" zweifach verstanden werden kann.
Nicht nur in der Außen- und Sicherheitspolitik, auch in der
Sozial- und Wirtschaftspolitik will Deutschland einen eigenen
Weg gehen. Manche übersehen, daß dem Isolationismus, den
Schröder gegen Amerika spielt, auch ein
wirtschaftspolitischer Isolationismus korrespondiert. Auch
das ist Antiamerikanismus. Dessen Merksätze sind oft
wiederholt worden: Es geht gegen Shareholder-Kapitalismus
und Globalismus, gegen Feuern (und Heuern), es geht gegen
Privatisierung, Flexibilisierung und Deregulierung. Der Kern
der Haltung ist klar genug: Es geht gegen das Prinzip des
Wettbewerbs, weil die Menschen in Deutschland nicht ganz
zu Unrecht fürchten, sein Preis wäre größere Ungleichheit.
In dieser Grundhaltung unterscheidet sich die Union allenfalls
in Nuancen von der SPD. Auch die Union beteuert ein ums
andere Mal, daß sie keine amerikanischen Verhältnisse dulde
und in keinem Fall die Besonderheiten des deutschen Modells
ändern wolle: Zunftordnung im Handwerk und Ladenschluß
im Handel, Tarifkartell bei der Lohnfindung oder öffentliche
Banken für den Mittelstand - mit Wettbewerb hat das alles
wenig zu tun. Doch weder Union noch Sozialdemokraten
lassen daran rütteln. Das Ergebnis der Wahl vom Sonntag
gibt den großen Parteien recht. Zweimal 38,5 Prozent der
Menschen haben wirtschaftspolitisch die große Koalition
gewählt. Die einen wollten Gerhard Schröder, die anderen
Edmund Stoiber als Kanzler haben. Beide Gruppen wollen
aber, daß sich grundsätzlich hierzulande nicht viel ändert.
Deshalb gilt es auch ganz genau hinzusehen, wenn es heißt,
die hohe Arbeitslosigkeit sei neben Flut und Irak
wahlentscheidend gewesen. Gewiß, alle Parteien geben vor,
sich um die schlechte Beschäftigungssituation zu sorgen.
Doch umfassende Reformen des Arbeitsmarktes, welche
nachhaltig mehr Menschen in Lohn und Brot brächten, hat
allein die FDP versprochen. Sie hat freilich auch nicht
verschwiegen, daß dies mit der Entmachtung großer
Lobby-Gruppen einhergehen müsse. Die Quittung für diese
Ankündigung steckt fraglos in den 7,4 Prozent des
FDP-Ergebnisses. Die Mehrzahl der Menschen (und der
Politiker) will Arbeitsmarktreformen, die keinem weh tun.
Weder Höhe noch zeitliche Begrenzung der
Arbeitslosenunterstützung darf in Frage gestellt werden.
Schon gar nicht soll die Lohnfindung dem Markt
überantwortet werden.
"It's the Economy, Dummkopf", schreibt das Magazin
"Newsweek" - Bill Clinton eindeutschend - in einer großen
Geschichte dieser Woche, die den Titel"The German
Problem" trägt. Schonungslos seziert der amerikanische
Blick, wohin der deutsche Weg geführt hat: Aus einem
Erfolgsmodell wurde das Modell des Niedergangs. Weil die
umverteilenden Aufgaben des Sozialstaates zu- statt
abnahmen, weil Haushaltsdisziplin sich in neuen Schlendrian
wandelt und die Fiskalverfassung zentralisiert und nicht
föderalisiert wurde. Die Alternative zum deutschen Weg
findet sich im FDP-Programm. Originell ist sie nur aus
deutscher Perspektive; für Angelsachsen gehört sie zum
gesunden ökonomischen Menschenverstand.
Doch anders als die ausländischen Beobachter sind nur
wenige Deutsche tatsächlich der Meinung, ihre Wirtschaft
sei krank. Deshalb sehen sie auch nicht ein, warum das Land
eine solche Radikalkur nötig hat, wie sie von den Liberalen
vorgeschlagen wird. Es ist ja noch immer gutgegangen, lautet
der Wahlspruch des rheinischen Kapitalismus. Das soll auch
in der Berliner Republik der zweiten rot-grünen
Legislaturperiode gelten.
Doch das Zutrauen zum deutschen Weg könnte trügen.
Andere Länder haben bessere Wachstumszahlen, weniger
Arbeitslose, und ihre Aktienmärkte sind selbst in diesen
Krisenzeiten nicht so stark eingebrochen wie hierzulande.
Man darf sich nicht täuschen: Erfolgreiche Modelle können
Glanz verlieren. Japan kann ein Lied davon singen. Von
vielen in den achtziger Jahren bewundert, stagniert das Land
seit mehr als einer Dekade.
Deutschland stemmt sich gegen liberale
Wirtschaftsreformen. Das ist in Ordnung. Ob es freilich
Reformalternativen jenseits des liberalen Modells gibt, ist
nicht ausgemacht. Rot-Grün hat die Katze bislang nicht aus
dem Sack gelassen. Hartz allein kann es nicht sein.
Erschwerend kommt hinzu: Reformen glücken meist nur am
Beginn einer Legislaturperiode. Würde der Zeitpunkt
verpaßt, wären rasch abermals vier Jahre verloren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.09.2002, Nr. 225 / Seite 11

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