- Wenn schon die Kapitalisten das System nicht verteidigen.... - Jochen, 07.10.2002, 20:05
- Erinnert mich wieder mal an Goethe's Zauberlehrling... - silvereagle, 07.10.2002, 21:14
- Re: wo bleibt der volkseigene Betrieb (VEB)? - Ghandi, 07.10.2002, 23:19
- Rausholen was geht... - Reikianer, 08.10.2002, 10:47
Wenn schon die Kapitalisten das System nicht verteidigen....
-->...wer dann? Das ist halt typisch (menschlich?): Wenn es gut lÀuft, dann schimpft man auf den Staat, er möge sich doch raushalten; wenn es schlecht lÀuft, möge sich der Staat doch bitte"helfend" einmischen.
Watt denn nu?
Schönen Abend
Jochen
Aus der WELT:
Börse ruft nach dem Rettungsring der Politik
Forderungskatalog reicht von höheren Staatsausgaben ĂŒber niedrigere Zinsen bis zu Ănderungen im Wettbewerbsrecht
Von Holger ZschÀpitz
Berlin - Die Situation erinnert ein wenig an den Atheisten, der das Ende nahen sieht, auf seine letzten Tage noch fromm wird und nach dem heiligen Geist ruft. Auch die eingefleischtesten Vertreter eines freien Marktes unter den Börsianern fordern jetzt ein rettendes Eingreifen des Staates. Angesichts tĂ€glich neuer TiefstĂ€nde haben sie ihren Glauben an die Selbststeuerung der Börse verloren. âMan muss sich schon ĂŒberlegen, ob wir es noch mit einem funktionierenden Markt zu tun habenâ, sagt Joachim Paech, ChefhĂ€ndler von Julius BĂ€r. âJetzt kann nur noch Hilfe von auĂen die Vertrauenskrise beenden.â
Am Montag stĂŒrzte der Dax in der Spitze weitere 3,4 Prozent in die Tiefe. Vom Jahreshoch im MĂ€rz hat sich der Dax mittlerweile halbiert, vom Allzeithoch hat das deutsche Kursbarometer sogar fast 70 Prozent verloren. Das ist der gröĂte Wertverlust seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930-er Jahren. Zwischen April 1927 und Mai 1932 war der deutsche Markt 73 Prozent eingeknickt. Nur noch im gröĂten deutschen BĂ€renmarkt aller Zeiten von Mai 1918 bis Februar 1920 wurde mit 92 Prozent noch mehr an Börsenkapital vernichtet. âDer Kurseinbruch hat jetzt schon historische AusmaĂe angenommen, wird aber von der Regierung fast vollstĂ€ndig ignoriertâ, beklagt Paech. âHier geht es nicht darum, dass einige Leute verkaufen. Wir haben eine ausgewachsene Risikoscheu, die ihresgleichen sucht. Die Politik muss endlich aufwachen und dem Pessimismus der Anleger den Krieg erklĂ€ren.â Fast beschwörend ergĂ€nzen die Experten von Merrill Lynch. âDie Börse ist das Herz des kapitalistischen Systems. Wenn das Kapital nicht mehr in die richtigen Bahnen des ökonomischen Körpers gelangt, kollabiert die Wirtschaftâ, schreibt Michael Hartnett, Merrill-Chefstratege in Europa.
Die Börsianer halten fĂŒr die Regierung bereits einen umfangreichen Forderungskatalog parat. So solle die Wirtschaft mit einer koordinierten Fiskal- und Geldpolitik wiederbelebt werden. Nur eine Kombination aus höheren Staatsausgaben und niedrigeren Zinsen könne die AbwĂ€rtsspirale an den MĂ€rkten stoppen. Die realen Zinsen mĂŒssten auf Null gesenkt werden. Bei einer erwarteten Inflation in Deutschland von 1,2 Prozent hieĂe das weitere Senkungen um 200 Basispunkte. Gleichzeitig sollten die sieben fĂŒhrenden Industriestaaten am Devisenmarkt gegebenenfalls intervenieren, um einen Sturz des Dollar aufzuhalten. Auch bei den Staatsausgaben gilt es nach Ansicht der Börsianer Tabus zu brechen. So dĂŒrften die EU-StabilitĂ€tskriterien nicht mehr sakrosankt sein. Vielmehr sollten die Regierungen die Ausgaben erhöhen, um eine Rezession zu vermeiden. âLockert den StabilitĂ€tspaktâ, schreibt Anthony Thomas, Ă-konom bei Dresdner Kleinwort Wasserstein, den Politikern ins Stammbuch. âMan muss anders denken, wenn man mit den Folgen einer geplatzten Spekulationsblase konfrontiert wirdâ, ergĂ€nzt Dieter Wermuth, Chefvolkswirt der japanischen UFJ-Bank. Die Regierungen mĂŒssten jetzt vor allem schnell handeln. âWenn die fiskalischen Impulse zu spĂ€t kommen, könnten sie wirkungslos sein. Man mĂŒsse in den Krisenzeiten wie heute, höhere Defizite hinnehmen.
Doch mit einer lockereren Ausgabepolitik ist es nach Meinung von Börsianern noch lĂ€ngst nicht getan. Vielmehr seien die Regierungen auch in der Pflicht, an Unternehmen Kredite auszugeben, um eine Kreditklemme (Credit Crunch) und damit Massenpleiten zu verhindern. Denn der Börsencrash habe die privaten Kreditinstitute in eine Krise gestĂŒrzt. Die meisten GeschĂ€ftsbanken hielten sich mit Ausleihungen zurĂŒck. âHier muss der Staat in die Bresche springenâ, sagt Wermuth. Paech fordert gar Hilfen fĂŒr die notleidende Institute. âBei jeder Stahlkrise ist die Politik zur Stelle. Wenn es bei den Banken brennt, fehlt die Feuerwehr.â
Doch die Wunschliste der Börsianer ist noch lĂ€nger. So können sich einige Experten temporĂ€re Ănderungen im Wettbewerbsrecht vorstellen. âIn vielen Sektoren wie bei Halbleitern oder der Telekommunikation gibt es ĂberkapazitĂ€ten. Hier sollte man âStrukturkrisenkartelleâ zulassen, damit konkurrierende Unternehmen sich bezĂŒglich KapazitĂ€tsabbau absprechen könnenâ, sagt ein Experte.
An den Börsen scheint Alarmstufe Rot zu herrschen. Denn wenn schon die neoliberalen Börsianer nach dem Staat rufen, muss das Kind schon fast in den Brunnen gefallen sein. Ob den Atheisten die spÀte Besinnung noch rettet, ist ungewiss.

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