- ein eigentlich reiches land - orwell, 12.10.2002, 17:30
- Reiches Argentinien, armes Deutschland, notleidender Mittelstand - Aldibroker, 12.10.2002, 18:15
ein eigentlich reiches land
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Von Hero Buss
... In Buenos Aires servieren die Restaurants auch heute noch die größten und
saftigsten Steaks der Welt. Doch an Hinterausgängen formen sich kurz nach Auszug des
letzten Gastes immer längere Schlangen von Menschen, die sozial abgestürzt sind. Sie
warten auf den Abfall. Für viele von ihnen sind die Essensreste die einzige Mahlzeit des
Tages. Die meisten Chefs der Cafés und Restaurants lassen ihre Angestellten"essbaren"
Müll vorsortieren und kennzeichnen. Die Hungrigen in der Warteschlange sind dafür
dankbar.
Szenen aus einem Land, dessen Einwohner bis zum Zusammenbruch vor neun Monaten
noch vor Selbstbewusstsein strotzten. Denn dass Gott sie gesegnet und ein Füllhorn
ausgeschüttet habe über ihre Heimat, gehörte zum unumstößlichen Credo des
Argentiniers. Zwar stolpert das Land schon seit mehr als einem halben Jahrhundert von
einer Krise in die andere, aber man glaubte weiter fest an den Mythos, den
Generationen nicht ohne Stolz verkündeten: So immens reich sei Argentinien, dass
selbst der unfähigste oder korrupteste Politiker es nicht zu Grunde richten könne. Sie
irrten.
Neun Mal so groß wie Deutschland, ein Land mit allen Klimazonen von Gletschern im
Süden bis zu subtropischen Regionen im Nordosten. Erdöl, Erdgas und hydroelektrisches
Potenzial gibt es im Überfluss. Seine Gebirge sind gefüllt mit bereits entdeckten, aber
noch nicht gehobenen Bodenschätzen. Im Halbzirkel um Buenos Aires erstreckt sich 800
Kilometer tief die Pampa, deren Böden als die fruchtbarsten der Welt gelten. Nach einer
Studie der Welternährungsorganisation FAO reicht das argentinische
Landwirtschaftspotenzial aus, um 800 Millionen Menschen zu ernähren. Von den nur 35
Millionen Einwohnern aber leben nach einer im August veröffentlichten Statistik 53
Prozent in Armut, 8,5 Millionen sogar an oder unter der Hungergrenze. Und vieles deutet
darauf hin, dass die Talsohle noch nicht erreicht ist.
... So sehr hat in den Augen der Bevölkerung die politische Führungsschicht
abgewirtschaftet, dass sich kaum noch ein Politiker auf die Straße traut. Cafés und
Restaurants rund um die Parlamentsgebäude in Buenos Aires sind verwaist, weil die
Stammkunden ausbleiben. Wiederholt waren Politiker von aufgebrachten Gästen
vertrieben worden."Abgeordnete mit Bart haben sich rasiert, bislang glatt Rasierte
lassen sich einen Bart stehen", erzählt ein Parlamentsjournalist."Wenn sie ausgehen,
drücken sie sich Hüte oder Mützen ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden. Die meisten
von ihnen sind dennoch entschlossen, zur Wiederwahl anzutreten."
Doch woher nehmen sie den Mut? Selbst Übergangspräsident Duhalde glaubt
offensichtlich nicht mehr an eine Wende zum Besseren. Ein"Schiff mit vielen Lecks und
verklemmtem Ruder" nannte er kürzlich seine Regierung. Optimistisch klingt damit
verglichen, wie Wirtschaftsminister Lavagna die Lage der Nation beschreibt:
Argentiniens Wirtschaft habe sich im fünften Kellergeschoss befunden, mit absteigender
Tendenz. Nunmehr sei sie ins vierte Untergeschoss aufgestiegen,"Tendenz steigend".
(Welt, 12.10.02) Kommentar: in Argentinien herrscht momentan Wirtschaftskrise - dabei
ist das Land sowohl von der Fläche, als auch von den Bodenschätzen und dem Klima ein
sehr reiches Land. Nur weil es dem Zinskapitalismus verschworen ist, muß es jetzt
überhaupt eine Krise durchmachen. Was die meisten jedoch übersehen: Auch die
reichen Industrieländer werden bald in einer ähnlichen Lage stecken, da deren Schulden
genausowenig bezahlbar sind, wie die von Argentinien. Dann gibt es nur einen kleinen
unterschied: Während in Argentinien die Leute autark leben können und zudem die
Bevölkerungsdichte klein ist - sich also gewissermaßen die Probleme auf die Fläche
verteilen - sieht es bei uns ganz anders aus: Wir leben in einem Land, welches von
ständigen Zufuhren vom Ausland abhängt. Autarke Lebensweise ist fast unmöglich und
die Versorgung hängt stark vom Transportsektor ab. Eine gesunde Landwirtschaft wurde
zugunsten weniger Agrarindustrie-Betriebe zerstört. Zudem ist die Bevölkerungsdichte
extrem - Deutschland ist weltweit eines der übervölkertsten Länder. Eine Krise hier legt
also sofort die Transporte, die Auslandszufuhr und die Landwirtschaft lahm. Die Folgen:
Bürgerkriege, Aufstände, Zusammenbruch. letztlich also ist bspw. Argentinien das
wesentlich stabilere Land.
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