- Warten auf die Kapitulation der Märkte - Popeye, 14.10.2002, 06:00
Warten auf die Kapitulation der Märkte
-->Eine negative Grundstimmung hat
die Kapitalmärkte fest im Griff
Nur gute Zahlen aus den Unternehmen könnten eine
Aufheiterung bringen / Der Bericht vom internationalen
Finanzmarkt / Von Christian Schubert
LONDON, 13. Oktober. Keine Frage, die meisten
europäischen Aktien sind in diesen Tagen recht billig, auch
nach der zweitägigen Rally seit dem vergangenen Donnerstag.
Fast jede Meßlatte verdeutlicht dies: verglichen mit den zu
erwartenden Dividenden, gemessen an Staatsanleihen, im
Hinblick auf die aktuellen und vorausgesagten
Unternehmensgewinne sowie inzwischen auch im historischen
Zeitvergleich. Was also schreckt die Investoren ab? In solch
ausgeprägten Bärenmärkten ist die Antwort vor allem in der
Psychologie zu suchen. Der blinden Euphorie der
Technologieblase folgt ein tiefsitzender Pessimismus. Vertrauen
aufzubauen ist eben schwerer, als es zu zerschlagen.
Was könnte der Katalysator für die Wende sein? Solange der
Irak-Konflikt nicht gelöst ist, wird sich nicht viel tun, lautet
eine Argumentationsschiene. Eine andere besagt, die rasche
Erholung der Unternehmensgewinne in den Vereinigten Staaten
könnte der Auslöser sein. Weitere Zinssenkungen würden dabei
helfen, dürften alleine aber nicht ausreichen, ist eine weitere
Stimme unter den Marktbeobachtern.
Doch bis auf weiteres herrscht eine Vertrauenskrise, in der
"worst case"-Szenarien zu sich selbst erfüllenden Prophezeiung
werden können. Die politische Unsicherheit dürfte durch die
Bombenanschläge in Indonesien noch steigen. Wirtschaftlich
halten sich die Sorgen vor einem neuen Rückfall in die
Rezession hartnäckig. Amerikanische Investoren repatriieren
ihre Anlagen im großen Stil: In den ersten sieben Monaten 2002
trennten sie sich im Saldo von ausländischen Aktien und
Anleihen im Wert von 28 Milliarden Dollar, nachdem sie im
gleichen Zeitraum 2001 noch 31,5 Milliarden Dollar
hinzukauften. Doch zu Hause sind die Wolken nicht verzogen:
Je weiter die Aktien fallen, desto eher werden sich die
Verbraucher aufs Sparen besinnen.
Die jüngsten Zahlen zeigen bereits Risse im Konsum-Bollwerk
gegen den Abschwung, das jedenfalls in der angelsächsischen
Welt bisher das Schlimmste verhindert hat. Die jüngsten Daten
über die Verbraucherstimmung sowie die Einzelhandelsumsätze
in den Vereinigten Staaten von Amerika waren wieder negativ.
Die Aktienanleger entschieden sich zum Wochenausklang
zwar, diese Meldungen zu ignorieren. Doch dies wird im
Handel weitgehend mit technischen Reaktionen erklärt, die
unter anderem von Deckungskäufen der Hedgefonds ausgelöst
wurden.
Diese Woche wird wieder eine Welle neuer
Unternehmenszahlen bringen, und so überwiegt die negative
Grundstimmung. Nur wenn die Konzerne mit guten Zahlen
überraschten, könnte die Erholung Beine haben. Doch das
Lager der Pessimisten will nicht verstummen:"Der
amerikanische Markt könnte durchaus noch mal 30 bis 40
Prozent fallen", meinen die Ã-konomen John Llewellyn und
Russel Jones von Lehman Brothers, die bisher nicht zu den
ausgeprägten Bären gehörten. Von den 500 Unternehmen des
S&P-Index haben 49 schon über ihr drittes Quartal berichtet.
Immerhin kam dabei ein durchschnittliches Gewinnwachstum
von 5,4 Prozent heraus, was in etwa den Erwartungen für den
gesamten Index entspricht.
An der Wall Street ist in der vergangenen Woche auch die zwei
Monate dauernde Dürreperiode ohne einen einzigen Börsengang
zu Ende gegangen, als sich ein Rückversicherer und ein
Immobilienunternehmen auf den Aktienmarkt wagten,
allerdings mit gemischtem Erfolg. Lediglich im Fernen Osten
scheint man derzeit mehr Mut zu haben: Der Telefonriese
China Telecom gab die Preisspanne für seine neuen Aktien
bekannt, die in Hongkong und in einer Zweitnotierung in New
York gelistet werden. Der Welt drittgrößter Börsengang des
Jahres soll in der ersten Novemberwoche grünes Licht
erhalten, ein Plan, der freilich von den aktuellen
Börsenbedingungen abhängig sein dürfte.
An den deutschen Börsen soll schon die Wette umgehen,
welche Aktie des Dax als erste das Niveau von einem Euro
unterschreitet, heißt es auf dem Parkett. Im Dax-100 käme
dafür derzeit das Papier der WCM Beteiligungs- und
Grundbesitz AG in Frage, das zuletzt bei 1,93 Euro notierte
(verglichen mit dem 52-Wochen-Hoch von 13,65 Euro). Ob
von"Kapitulation" geredet werden kann, die eine Bodenbildung
signalisieren würde, ist weiter unklar, abgesehen davon, daß die
Definition für diesen Begriff äußerst schwammig ist. Viele
Beobachter sehen den Tiefpunkt erst dann erreicht, wenn eine
bedeutende Zahl von Anlegern in der Angst vor weiteren
Kurseinbrüchen ihre gesamten Portfolios verkauft.
In der jüngsten Investorenbefragung der Beratungsgesellschaft
Cognitrend im Auftrag der Deutschen Börse kam heraus, daß
die Zahl der Optimisten für die Entwicklung des Dax zwar
geringer geworden ist, dafür aber das Lager der Pessimisten
nicht gewachsen ist. Vielmehr hätte die Zuversicht nur in eine
neutrale Haltung umgeschlagen. Wer kürzlich noch auf eine
Bodenbildung spekulierte und dabei enttäuscht wurde, glaubt
damit noch lange nicht an weitere Kursverluste."Der
Optimismus baut sich nur sehr langsam ab", lautet die
Schlußfolgerung. Nach Kapitulation riecht das noch nicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.2002, Nr. 238 / Seite 30

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