- OT: Ein populärer Mythos - silvereagle, 21.10.2002, 12:55
- Re: OT: Ein populärer Mythos - Charade, 21.10.2002, 16:08
OT: Ein populärer Mythos
-->Wer kennt ihn nicht, diesen einfühlsamen, eindringlichen Text...
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Richtigstellung: Das globale Dorf
Eine libertäre Kritik an einem sozialistischen Märchen
von Stephan Pfaffenzeller
Seit einiger Zeit ist im Internet eine Email im Umlauf, die ihren Lesern verkündet, wie die Welt aussähe, wenn sie ein Dorf mit 100 Einwohnern wäre. Es gibt einige Varianten dieses Textes, der in etwa wie folgt lautet:
Wenn wir die ganze Menschheit auf ein Dorf von 100 Einwohnern reduzieren würden, aber auf die Proportionen aller bestehenden Völker achten würden, wäre dieses Dorf so zusammengestellt:
57 Asiaten
21 Europäer
14 Amerikaner (Nord u. Süd)
8 Afrikaner
52 wären Frauen
48 wären Männer
70 Nicht-Weiße
30 Weiße
70 Nichtchristen
30 Christen
89 heterosexuelle
11 homosexuelle
6 Personen würden 59% des gesamten Weltreichtums besitzen und alle 6 Personen kämen aus den USA.
80 hätten keine ausreichenden Wohnverhältnisse
70 wären Analphabeten
50 wären unterernährt
1 würde sterben
2 würden geboren
1 hätte einen PC
1 hätte einen akademischen Abschluss.
Falls Du heute Morgen gesund und nicht krank aufgewacht bist, bist Du glücklicher als 1 Million Menschen, welche die nächste Woche nicht erleben werden.
Falls Du nie einen Krieg erlebt hast, nie die Einsamkeit durch Gefangenschaft, die Agonie des Gequälten, oder Hunger gespürt hast, dann bist Du glücklicher als 500 Millionen Menschen der Welt. Falls Du in die Kirche gehen kannst, ohne die Angst, dass Dir gedroht wird, dass man Dich verhaftet oder Dich umbringt, bist Du glücklicher als 3 Milliarden Menschen der Welt. Falls sich in Deinem Kühlschrank Essen befindet, Du angezogen bist, ein Dach über dem Kopf hast und ein Bett zum Hinlegen, bist Du reicher als 75% der Einwohner dieser Welt.
Falls Du ein Konto bei der Bank hast, etwas Geld im Portemonnaie und etwas Kleingeld in einer kleinen Schachtel, gehörst Du zu den 8% wohlhabenden Menschen auf dieser Welt.
Beim Lesen dieses Textes bist Du doppelt gesegnet worden, denn Du gehörst nicht zu den 2 Milliarden Menschen, die nicht lesen können. Und Du bist von 100 der Eine, der einen PC hat!
Wenn man die Welt aus dieser Sicht betrachtet, wird jedem klar, dass das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit, Verständnis, Akzeptanz, Bildung u.ä. notwendig ist.
Einer hat irgendwann mal gesagt:
Arbeitet, als würdet ihr kein Geld brauchen,
Liebt, als hätte euch noch nie jemand verletzt,
Tanzt, als würde keiner hinschauen,
Singt, als würde keiner zuhören,
Lebt, als wäre das Paradies auf der Erde.
Ein populärer Mythos
Die Verbreitung dieses Textes ist allerdings seit langem nicht mehr auf die Zirkulation als Email beschränkt. Er taucht nicht nur auf zahlreichen persönlichen Webseiten auf, meist mit einem mahnenden Hinweis, dass die erschütternde Situation des Weltdorfes den Leser nachdenklich stimmen solle, sondern findet sich auch auf zahlreichen Netzorten kirchlicher und globalisierungskritischer Gruppen, darunter auch auf einer Attac-Webpage. Der britische Journalist David Taub berichtet außerdem, dass die englische Boulevardzeitung „Daily Mail“ der nachdenklich machenden Warnung einen Artikel widmete. All dies sind Anzeichen dafür, wie diese unscheinbare Kurzbotschaft sich dauerhaft und weit verbreitet. Bei einigen Lesern scheint sie einen starken Eindruck zu hinterlassen.
Die Darstellung des Dorfes wäre allerdings selbst dann problematisch, wenn sich die Prozentangaben bestätigen ließen. Da die Welt hier als Dorf beschrieben wird, werden nicht nur Dimensionen verkleinert, es entsteht auch der Eindruck, dass man es mit einer vollständig integrierten Volkswirtschaft zu tun hat, deren Probleme sich direkt aus dem bestehenden Wirtschaftssystem ergeben. Der Schluss liegt nahe, dass es sich bei der Not der großen Mehrheit und dem Überfluss einer kleinen Minderheit um nicht mehr als die ungerechte Verteilung eines an sich ausreichenden „Dorfguthabens“ handelt.
Die Grenzen des Wachstums
Dabei ist die Beschreibung des Weltdorfes zumindest unvollständig, denn wenn die Welt so wie sie ist ein Dorf mit 100 Einwohnern wäre, wäre dieses Dorf in eine Unzahl kleiner Bezirke unterteilt. Jeder Dorfbezirk wäre durch einen Zaun vom Nachbarbezirk getrennt und würde von einem Bezirkshäuptling regiert. In den Bezirken, in denen sich der größte Teil des Dorfreichtums konzentriert, würde sich der Bezirkshäuptling relativ wenig in das Leben der Bürger einmischen. In den Bezirken, in denen viele der 50 unterernährten Dorfbewohner leben, wäre das Gegenteil der Fall. Den Unternehmern eines Bezirkes wäre es verboten, Arbeiter aus anderen Bezirken einzustellen. Wenn die Unternehmer eines ärmeren Bezirkes in der Lage wären, billiger zu produzieren als die der reichen Dorfbezirke, müssten sie an der Bezirksgrenze hohe Handelssteuern zahlen, die es ihnen unmöglich machen, im Wettbewerb zu bestehen. Auf diese Weise würde sichergestellt, dass die Einwohner ärmerer Dorfbezirke ihre Situation nicht verbessern können.
Wenn die Situation allerdings so einfach wäre, sollte man sich fragen, warum die Dorfbewohner sich das gefallen lassen. Würden sie nicht einfach die Zäune niederreißen und die Bezirkshäuptlinge aus dem Dorf vertreiben? Würden sie ihre Angelegenheiten nicht einfach untereinander auf Vertragsbasis regeln, und sich in Streitfragen an einen neutralen Richter wenden? Wenn die Welt ein Dorf mit 100 Einwohnern wäre, dann wäre einiges klarer, und es wäre einiges einfacher.
Woher kommen die Daten?
An erster Stelle sollte jedoch eine viel einfachere Frage stehen: Wo kommen diese Daten her? Die zitierten Prozentangaben sollten einem doch wirklich Sorgen machen: Außerhalb der reichsten Länder der Erde scheint kaum jemand lesen zu können, und der größte Teil der Bevölkerung außerhalb Europas und der USA (Australien gibt es in dem Dorf nicht) scheint vom Hungertod bedroht zu sein. Das ist detailliert belegbar: Schließlich gibt es für alles genaue Prozentangaben. Oder?
Offenbar beziehen sich diese Daten auf keinen bestimmten Zeitpunkt und gehen aus keiner Quelle hervor - jedenfalls wird beides nicht genannt. Als David Taub nach dem Ursprung des Artikels suchte, stieß er auf einen ähnlichen Text von Donella Meadows aus dem Jahre 1990, in dem die Situation eines 1000 Einwohner zählenden Dorfes beschrieben wird. Die oben zitierte Email-Version sei eine vereinfachte Fassung dieses Originals - so Taub. Ich glaube auch das nicht. Wenn das Email nur eine Kurzfassung von Donella Meadows Artikel wäre, ließe sich die Quellenlage womöglich erörtern. Tatsache ist jedoch, dass die Prozentangaben in beiden Artikeln nicht übereinstimmen, wo sie sich überhaupt auf die gleichen Variablen beziehen. Es bleibt also nichts anderes, als die vorliegenden Prozentangaben zunächst miteinander, dann mit anderen Quellen zu vergleichen.
Widersprüche
Im katastrophenträchtigen Weltdorf können angeblich 70% der Einwohner nicht lesen und dies, so wird verkündet, entspreche einer Gesamtzahl von 2 Milliarden Menschen. Daraus ergibt sich eine Weltbevölkerung von 2,86 Milliarden. Das ist merkwürdig, schließlich wurde kurz zuvor behauptet, dass 3 Milliarden Menschen, also etwas mehr als die Gesamtbevölkerung der Erde und bedeutend mehr als die Gesamtzahl der Christen, sich vor dem Kirchenbesuch fürchten. Eine Weltbevölkerung von etwa 3 Milliarden Menschen gab es im Jahre 1960 (vgl. World Population Prospects). Wenn es sich also um eine Vereinfachung des Originals von 1990 handelt, dann ist die Bevölkerungszahl nachweislich falsch, oder der Artikel ist wirklich so alt -dann sollte die Anzahl der PCs keine Erwähnung
finden. Wie man es auch wendet und dreht: die heutige Realität reflektiert dieses Weltdorf nicht.
Einige Quellen
Der Vergleich mit anderen Quellen bestätigt diese Zweifel. In vielen Fällen
ist der Vergleich sehr leicht. Ich beziehe mich insgesamt auf nur drei Quellen,
die alle im Internet zugänglich sind:
(1) World Population Prospects: The 2000 Revision:
www.un.org/esa/population/publications/wpp2000
(2) Human Development Report2001:
www.undp.org/hdr2001/
(3) UNESCO - World Education Report 2000:
www.unesco.org/education/information/wer/htmlENG/tablesmenu.htm
Hierbei verstärkt sich zunächst der Eindruck veralteter Daten: Das demographische Profil nach Kontinenten entspricht etwa dem um 1955. Seitdem hat der Anteil der Asiaten und Afrikaner an der Weltbevölkerung etwas zugenommen, der der Europäer hat etwas abgenommen. Die Weltbevölkerung wird natürlich ab 2000 auf über 6 Milliarden geschätzt (World Population Prospects).
Das US-Volk und das US-Volk
Interessant sind vor allem die abenteuerlicheren Prozentangaben. Wenn z.B. behauptet wird, dass 6 US-Amerikaner 59% des „Dorfreichtums“ besäßen, sollte man sich fragen, wie das möglich ist. Der Human Development Report stellt hier umfangreiche Daten für das Jahr 1999 zur Verfügung. Unter Berücksichtigung der
Kaufkraftparität beläuft sich der Anteil der USA am Welteinkommen auf 21,77%. Die USA haben außerdem einen Anteil von 4,78% an der Weltbevölkerung. Demnach reduziert sich die Aussage, dass 6% der Weltbevölkerung 59% des Weltreichtums besäßen und aus den USA kämen, auf die Behauptung, dass ein Teil der Bevölkerung der USA, der größer ist als die Gesamtbevölkerung der USA, reicher ist als die USA insgesamt. Kapiert? Ich auch nicht.
Heer hungernder Analphabeten?
Außerdem sollen 70% der Weltbevölkerung Analphabeten sein. Man sollte sich darüber im Klaren sein, was hier gemessen werden soll. In seriösen Publikationen wird gemeinhin auf den Prozentsatz der Analphabeten in der erwachsenen Bevölkerung verwiesen. Wenn Dreijährige nicht lesen können, gilt das in der Regel nicht als Problem. Nach Angaben des World Education Report 2000 belief sich diese Analphabetenquote im Jahre 1997 weltweit auf 21.9% und auf 51.6% im Falle der ärmsten Entwicklungsländer.
Ähnlich sieht es mit den unterernährten 50% der Weltbevölkerung aus. Es geht aus den World Development Indicators für das Jahr 2001 hervor, dass der Anteil der unterernährten Menschen an der Weltbevölkerung auf insgesamt etwa 14% geschätzt wird. Das ist natürlich immer noch zuviel, aber doch weit von der oben beschriebenen globalen Hungerkatastrophe entfernt.
Eine Glaubensfrage
Dass dieser Text nicht nur weit verbreitet wurde, sondern offenbar viele Menschen und Organisationen sehr beeindruckt hat, dass er unhinterfragt und respektvoll zitiert wird, ist beunruhigend. Es zeigt, wie leicht unbelegte Mythen als Fakten akzeptiert und ohne nachzudenken weitergegeben werden. Selbst wenn, wie im gegebenen Fall, die gemachten Angaben sich bei genauerem Hinsehen als widersprüchlich erweisen, selbst wenn die, die es wissen wollen, wissen können, dass es sich bestenfalls um Halbwahrheiten handelt, sind viele damit zufrieden, einfach zu glauben, was ihnen erzählt wird.
Einer hat irgendwann mal gesagt:
Je mehr ein Mensch glaubt, desto weniger weiß er,
je weniger er weiß, desto dümmer ist er,
je dümmer er ist, desto leichter lässt er sich regieren.
Internet:
David Taubs Artikel:
http://members.aol.com/ UKpoet/global.htm
Websites die diese „interessanten Fakten“ weiterverbreiten:
ATTAC Essen: www.attacnetzwerk.de/essen/und_sonst.htm
Die Grünen, Ortsverband Drensteinfurt: www.gruenedrensteinfurt.de/Bodys/attac.htm
Die Grünen Königsbrunn: www.gruene.de/koenigsbrunn/400/bevoelkerung.htm
SPD Beverungen: www.spdbeverungen.de/body_aktuell.html
PDS Sachsen: www.pdssachsen.de/ag/MF/p1114.htm
BUND Pfalz: www.bundpfalz.de/Welt%20ist%20100%20Seelen.htm
Gemeindezentrum Sankt Thomas: www.sankt-thomas.de/besinnung/besinnung_020127.htm
Christliche Polizeivereinigung: www.cpv-online.de/polizei/leseprobe.html
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