- Langfristig sind wir alle tot - Philipp Steinhauer, 26.10.2002, 11:56
Langfristig sind wir alle tot
-->Die Zeit:
Langfristig sind wir alle tot
Der Börsenkrach entlarvt die Parole von der Überlegenheit der Aktie - wenn
man sie nur lang genug halte, schlage sie jede Anlageform. Jetzt zeigt sich:
Selbst 40 Jahre reichen nicht
Von Robert von Heusinger
Aktien steigen immer, zumindest auf lange Sicht. Das hört sich in diesen
Tagen an wie blanker Hohn, stimmt aber. Beweise? Allein in den vergangenen
zehn Jahren hat sich der Dax verdoppelt; der Dow Jones, der älteste
Aktienindex der Welt, notiert heute fast 3000-mal höher als bei seiner
erstmaligen Berechnung im Jahr 1896. Und selbst das Sorgenkind, der
japanische Nikkei, bringt es im Vergleich zu Oktober 1972 noch auf ein
Kursplus von 100 Prozent.
Allerdings kann man mit Statistiken bekanntlich alles beweisen. Wer im März
2000 Geld in den Dax steckte, muss heute fast 70 Prozent Kursverlust
verkraften. Wer 1989 in den Nikkei investierte, besitzt nur noch ein Fünftel
der damaligen Summe, vom Wertverlust durch Inflation ganz zu schweigen. Und
wer den Nikkei vor 20 Jahren kaufte, hat nichts verloren, aber auch nichts
gewonnen. Rendite: null Komma null.
Nun mag man einwenden, diese Zeiträume seien noch zu kurz, auf wirklich
lange Sicht schneide am Ende doch die Aktie am besten ab. Doch die
einschlägigen Vergleiche, mit denen die Überlegenheit der Aktie bewiesen
werden soll, sind perfide: Heute gibt es im Dow Jones nur noch ein
Unternehmen, General Electric, das bereits vor 106 Jahren zu den damals
größten Firmen Amerikas zählte, die den Index bildeten. Die anderen sind
Pleite gegangen, wurden aufgekauft oder sind einfach zu unbedeutend
geworden, als dass sie noch die erste Aktiengarde bildeten. Hat je jemand
berechnet, wie der Renditevergleich ausgegangen wäre, hätte man noch die
zwölf Dow-Gründungsmitglieder im Depot? Vielleicht. Nur hat das nie jemanden
interessiert. Schon gar nicht die Apologeten der Aktie: die Banken und
Fondsgesellschaften. Sie haben es mit ihrem Trommelfeuer der
Renditevergleiche geschafft, die Deutschen mitzureißen.
12,9 Millionen Aktionäre und Fondsbesitzer zählte das Deutsche
Aktieninstitut Ende 2001 - eine Verdopplung binnen vier Jahren. Und, noch
schlimmer, die Marketingexperten haben es geschafft, dass die Deutschen ihre
gesetzliche Rentenversicherung verfluchten.
Die Verheißung zweistelliger Aktienrenditen, wie sie am Ende der neunziger
Jahre gang und gäbe war, hat"den kritischen Keil zwischen die Altersgruppen
getrieben, die Solidarität der Jungen mit den Alten geschwächt". So
formulierte es der heutige Bundesbankvorstand Hans-Helmut Kotz auf dem
Höhepunkt der Hausse, im Frühjahr 2000. Die Jungen, Dynamischen und
Erfolgreichen sahen sich im Alter auf der Verliererstraße. Jeden Monat bis
zu 20 Prozent ihres Einkommens in die Rentenversicherung einzahlen, in der
Gewissheit damit nicht annähernd eine zweistellige Rendite erzielen zu
können und später auf Hunderttausende Euro verzichten zu müssen.
Doch selbst jetzt, im Aktien-Crash, scheint der Glaube an die
Unschlagbarkeit der privaten Altersvorsorge mit Aktien noch ungebrochen.
Noch. Aber es gibt Hoffnung, dass bald wieder Vernunft einkehrt. Und das
nicht nur, weil immer mehr der einst Jungen und Erfolgreichen inzwischen zu
dynamischen Arbeitslosen geworden sind, die in einem privaten Vorsorgesystem
gar nichts mehr hätten, was sie einzahlen könnten, von den Traumrenditen
ganz zu schweigen.
Inzwischen ist auch die letzte Bastion der Aktienwerber gefallen. Mit
Fondssparplänen, so versprachen die Anlagegesellschaften, könne man gar
nicht schief liegen. Denn dabei zahlt man jeden Monat die gleiche Summe ein,
ganz gleich ob sich die Börse im Höhenrausch befindet oder auf Tauchstation.
So erwirbt man bei tiefen Kursen viele Anteile und bei hohen Kursen wenige.
Klassisches antizyklisches Verhalten. Doch jetzt hat die
Interessenvertretung der Fondsgesellschaften, der Bundesverband der
Investmentgesellschaften (BVI), errechnet: Selbst die Fondssparpläne haben
zu viel versprochen. Wer in den vergangenen zehn Jahren jeden Monat 100 Euro
in deutsche Aktienfonds investierte, hätte das Geld gleich in den
Sparstrumpf stecken können. Das klügste Produkt der Aktienanlage, der
Fondssparplan, ist desavouiert. Wer Monat für Monat mit 100 Euro ein
Stückchen Dax kaufte, hatte Ende September die traurige Summe von 10 736,50
Euro in der Hand, eingezahlt aber hat man über die Jahre 12 000 Euro. Und
das, obwohl sich der Dax in den zehn Jahren immerhin noch verdoppelt hat.
Da wird es wenig helfen, 10 Jahre als die kurze Frist zu deklarieren und auf
Sparpläne zu verweisen, die 35 Jahre gelaufen sind. Denn hier beträgt die
Rendite nur knapp über fünf Prozent. Ein kümmerliches Ergebnis für all jene,
die an zweistellige Zuwächse geglaubt haben. Willkommen in der Realität.
Es ist richtig, dass der BVI in die Offensive geht und die Schmach
thematisiert. Nur mit der ungeschminkten Wahrheit lernt das Volk der
Neuaktionäre, was Langfristigkeit wirklich bedeutet: In the long run, we are
all dead, meinte schon der britische Ã-konom John Maynard Keynes, langfristig
sind wir alle tot.
Keynes zielte während der großen Weltwirtschaftskrise in den dreißiger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts zwar nicht auf die Marketingmaschinen
der Fondsindustrie, er hatte die Anhänger unregulierter Märkte im Sinn.
Ihnen hielt er vor, dass es Unternehmen und Arbeitslosen nichts bringt, wenn
sie warten, bis die unsichtbare Hand des Marktes irgendwann Angebot und
Nachfrage ins Gleichgewicht schaukelt. Weder Unternehmen noch Arbeitnehmer
hätten die Zeit, auf den erhofften Idealzustand der Wirtschaft zu warten.
Wie lange können Menschen hungern? Einen Monat, vielleicht. Und wenn sie bis
dahin keinen neuen Job gefunden haben? Analog stellt sich die Frage: Was
bringt es dem Anleger, dass Aktien langfristig immer die beste Geldanlage
sind? Er braucht sein Geld in 20 oder 30 Jahren, aber die Statistik versteht
unter langfristig vielleicht 40 oder gar 70 Jahre.
Ein Arbeitsleben ist zu kurz
Wie lange ist langfristig? Verlässliche Daten über die Entwicklung von
Aktienkursen gibt es seit knapp 150 Jahren. Das ist zu kurz, um eine
ehrliche Antwort auf die Frage zu finden, ab wann Aktien immer besser als
alle anderen Anlagekategorien sind. Nur eines steht fest: 40 Jahre sind
nicht lange genug. Viel länger arbeitet aber kaum ein Mensch in den
westlichen Industrieländern.
Einer, der es genau wissen wollte, ist der amerikanische Wirtschaftsforscher
Gary Burtless. Er glaubte nicht an die pannensichere Gewinnmaschine
Aktienmarkt. Burtless hat für 90 Zeiträume nachgerechnet, welche Rente ein
US-Bürger im Ruhestand bezogen hätte, wenn dieser 40 Jahre lang jeweils
sechs Prozent seines Einkommens Monat für Monat in amerikanische
Standardaktien investiert hätte. Im ersten Zeitraum hätte dieser Sparer 1871
zu arbeiten begonnen und wäre 1911 in Rente gegangen. Die am Aktienmarkt
angesparte Summe hätte er beim Eintritt in den Ruhestand verrentet, also in
Anleihen umgeschichtet, und dann als monatliche Summe bis zum 80. Lebensjahr
aufgebraucht.
Burtless hat seine Untersuchung so realitätsnah wie möglich angelegt. Er hat
Stundenlöhne, Zinssätze von Staatsanleihen, Inflation, Dividenden und
Kursschwankungen berücksichtigt. Sein Ergebnis spricht sogar für die
Aktienanlage, allerdings nur im Durchschnitt. Mit keiner anderen Anlage
wurde über alle Jahrgänge hinweg eine höhere Rente erwirtschaftet. 7 Prozent
pro Jahr brachten amerikanische Aktien im vergangenen Jahrhundert, Anleihen
dagegen nur 1,6 Prozent. Im Durchschnitt der 90 berechneten Zeiträume konnte
man mit 52 Prozent des letzten Lohnes den Ruhestand genießen. Das lässt sich
sehen. Am besten hatte es der Jahrgang, der Ende 1999 aus dem Berufsleben
ausschied. Diese Aktiensparer hätten 110 Prozent des letzten Gehaltes als
monatliche Rente bekommen.
Wer dagegen 1921 das letzte Mal arbeiten gegangen wäre, hätte nur 20 Prozent
des letzten Einkommens ausbezahlt bekommen. Ruheständler des Jahres 1969
hätten so viel Rente bezogen, wie sie zuletzt verdienten, sechs Jahrgänge
später wäre es weniger als die Hälfte gewesen. Ist es sinnvoll oder gerecht,
dass die Altersversorgung derart von den Launen des Aktienmarktes abhängig
ist? Und was passiert, wenn Burtless' hypothetische Menschen älter als 80
Jahre werden? Dann haben sie ihr Vermögen aufgebraucht.
Auf all diese Fragen hat die gesetzliche Rente eine einfache Antwort: Die
Jungen zahlen für die Alten. Zwar steht auch hier nicht fest, wie viel sie
zahlen, und kein Rentner besitzt eine Garantie, dass er das herausbekommt,
was er eingezahlt hat. Dafür weiß jeder Sozialversicherte, dass er genug zum
Leben haben wird; dass seine Frau und die Kinder unterstützt werden, wenn er
noch im Arbeitsleben stirbt; dass er 100 Jahre und älter werden kann und
trotzdem noch Rente bezieht. Die Kritiker wenden ein, dass die staatliche
Rente spätestens in 25 Jahren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Pension
gehen, nicht mehr finanzierbar ist. Das ist aber noch kein Argument für eine
ausschließlich private Vorsorge.
Vernünftiger und realistischer sind Kompromisse: Die Alten müssen länger
arbeiten, die Jungen mehr zahlen, und der Staat verschuldet sich für eine
gewisse Periode stärker. Das spricht nicht gegen den behutsamen Einstieg in
die private Altersversorgung, nicht gegen ein Mischsystem mit einem starken
gesetzlichen Anteil und einem kleinen privaten. Immerhin gibt es die
berechtigte Vermutung, dass die demografische Schieflage in Deutschland
extremer ist als in anderen Industrieländern.
Genauso kann niemand raten, von Aktien ganz die Finger zu lassen. Schon zur
Risikostreuung gehören sie in jedes Portfolio. Aktien schützen vor den
Folgen einer Hyperinflation, die, rein statistisch betrachtet, eineinhalb
Mal in 100 Jahren Sparvermögen wie Festgeld oder Anleihen vernichtet. Und
Aktien sind das einzige Vehikel, um an der Gewinnentwicklung einer
Volkswirtschaft zu partizipieren. Alles gute Gründe für die
schwankungsanfällige und daher risikoreiche Anlageform. Aber kein Freibrief,
alles auf diese Anlageform zu setzen - schon gar nicht das Geld, das den
Lebensabend absichern soll.
(c) DIE ZEIT 44/2002

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