- Ursprung des Eigentums? - Rudow, 29.10.2002, 18:31
Ursprung des Eigentums?
-->Rheinischer Merkur (Nr. 41, 10.10.2002)
FRÜHMENSCHEN / Josef Reichholf erklärt, was Aasfressen mit Sport zu tun hat Konkurrenzkampf um Kadaver
Autor: FRANK UFEN
Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans haben mit dem Menschen viel gemeinsam. Aber etwas ist ihnen völlig fremd: sportlicher Ehrgeiz. Es würde ihnen nicht im Traum einfallen, Wettkämpfe zu veranstalten, deren Bedeutung sich darin erschöpft, zu ermitteln, wer am schnellsten laufen oder am weitesten springen kann. Menschen hingegen sind von sportlichen Wettbewerben, bei denen es in erster Linie um Ehre geht, geradezu besessen. Warum sind Menschen so? Hierfür - behauptet der Münchner Evolutionsbiologe Josef Reichholf - gibt es nur eine Erklärung: Der der menschlichen Gattung eigene Trieb, immer Erster werden zu wollen, ist ein einige Millionen Jahre altes Erbe der Evolution. Entstanden ist es, weil der Australopithecus, der älteste aufrecht gehende Vorfahr des Menschen, dazu übergegangen ist, sich von Aas zu ernähren. Vor etwa 2,8 Millionen Jahren kam es in Zentralafrika zu einem dramatischen Temperaturrückgang, der die Vegetation veränderte. Wo vorher Regenwälder gestanden hatten, breitete sich nun die Savanne aus. Hierdurch wurde den Australopithecinen ihre Nahrungsgrundlage entzogen. Der Ausweg, den sie fanden, bestand in zwei Strategien. Der robustere Typus legte sich ein Nussknacker-Gebiss zu und spezialisierte sich auf hartschalige pflanzliche Nahrung. Der grazilere Typus erzeugte systematisch Werkzeuge und wurde zum Aasfresser.
Steinzeitliche Fairness
Aber was hat Aasfresserei mit sportlichem Wettkampf zu tun? Ganz einfach. Für die Australopithecinen war Schnelligkeit das oberste Gebot. Ihr Überleben hing davon ab, dass sie frische Kadaver so früh wie möglich erspähten und sie vor allen anderen Fleischfressern erreichten. Die schnellsten Läufer hatten deshalb die besten Chancen, reiche Beute zu machen. Damit konnten sie ihre Weibchen und den Nachwuchs ohne weiteres ernähren. Die Kadaver von Antilopen, Gnus oder Büffeln liefern jedoch mehr Fleisch als eine Großfamilie verbrauchen kann. Die besten Aasjäger verfügten deshalb häufig über so üppige Fleischvorräte, dass sie es sich leisten konnten, ihre Überschüsse an andere Mitglieder ihrer Gruppe abzutreten. Diese Großzügigkeit zahlte sich langfristig für sie aus. Denn was sie im Austausch dafür erhielten, bestand aus weit mehr als gelegentlichen Gegendiensten, Schutzleistungen und Unterstützung bei der Jagd. Vor allem brachte es ihnen soziale Anerkennung und elementare Rechte ein. Von nun an galt: Wer einen Kadaver als Erster erreichte, durfte ihn als sein Eigentum beanspruchen. So erfanden die Australopithecinen die rudimentären Formen der sportlichen Fairness. An die Stelle des Rechts des Stärkeren trat das Recht des Ersten. Je mehr Fleisch die schnellen Jäger heranschafften, desto mehr wurden sie von den Weibchen begehrt und desto häufiger gerieten die muskelbepackten Typen ins Hintertreffen. Die talentierten Läufer konnten deshalb ihre Gene in einer höheren Zahl von Nachkommen reproduzieren. Die Australopithecinen wurden so von Generation zu Generation schneller und schließlich auch intelligenter, weil das Fleisch die Energie für die Versorgung eines komplexeren Gehirns lieferte. Noch eine weitere zivilisatorische Errungenschaft - vermutet Reichholf - geht direkt auf den Australopithecus zurück: die Mannschaft. Auch diese Erfindung hängt eng mit dem Wettlauf um das Aas zusammen. Die Aasjagd führte nämlich nicht nur zur Entstehung größerer Gruppen und zur Herausbildung von primitiven Formen der Kooperation. Sie führte auch dazu, dass es zwischen den Gruppen, die um die knappe und begehrte Ressource Fleisch konkurrierten, immer wieder zu Auseinandersetzungen kam. Solche Auseinandersetzungen konnten leicht tödlich ausgehen, denn die Aasjäger verfügten über Steinwerkzeuge und damit auch über schlagkräftige Waffen, sie waren gute Werfer, und sie waren intelligent. Um zu verhindern, dass es dauernd blutige Zusammenstöße gab, mussten sich die Australopithecinen also etwas einfallen lassen. Schließlich fanden sie eine Lösung, von der alle Beteiligten profitierten. Anstatt einander den Schädel einzuschlagen, ließen sie Teams rituelle Stellvertreter-Kämpfe gegeneinander austragen. Hierbei dürfte es zwar auch nicht gerade zimperlich zugegangen sein. Aber gerade deswegen war es zwingend erforderlich, ihrer Gewalttätigkeit durch Spielregeln Grenzen zu setzen. Mit der Einführung solcher Spielregeln entstand etwas völlig Neues: rituelle Schaukämpfe, die - ähnlich wie Fußballspiele - darauf angelegt sind, in regelmäßigen Abständen wiederholt zu werden. Von nun an handelte es sich nicht mehr darum, den Gegner ein für alle Mal zu vernichten, sondern sich immer wieder von neuem mit ihm zu messen.
Rennen macht schlau
Wenn man Reichholf glauben darf, dann ist mit dem Wettrennen um das Aas nichts Geringeres als die Fähigkeit zum rationalen Denken entstanden. Insofern nämlich Rationalität darin besteht, kausale Zusammenhänge zu erkennen, setzt sie ein Zeitbewusstsein und damit das Vermögen voraus, gleichzeitige Ereignisse von früheren und späteren zu unterscheiden. Ohne dieses Vermögen ist es kaum möglich, den zu ermitteln, der schneller als alle anderen gerannt ist. Der Sport gehört zu den Phänomenen, mit deren Erforschung sich die Soziobiologie und Evolutionspsychologie bisher erst wenig befasst haben. Inwieweit Reichholfs Thesen plausibel sind, lässt sich deshalb noch nicht entscheiden. Unter den Paläoanthropologen ist umstritten, ob schon die Australopithecinen über das Laufvermögen verfügten. Ebenso strittig ist, ob sie intellektuell in der Lage waren, soziale Regelwerke hervorzubringen. Und schließlich könnte es sein, dass Reichholfs Szenario dem weiblichen Anteil an der Menschwerdung des Affen nicht gerecht wird. Aber dass der Sport eine Vorgeschichte hat, die bis zu den Hominiden zurückreicht, kann nach den Pionierarbeiten Reichholfs kaum noch bezweifelt werden.
http://www.merkur.de/aktuell/mp/buch_024102.html
Grüße
von Rudow

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