- Tschetschenien schon vergessen und von der Tagesordnung verdrÀngt? - stocksorcerer, 07.11.2002, 11:48
Tschetschenien schon vergessen und von der Tagesordnung verdrÀngt?
-->Artikel 22: Zeit-Fragen Nr. 45 vom 4. 11. 2002
In welcher Welt leben wir eigentlich?
von Dr. med. H. Hoffmann, Kinderarzt, Kiel
Da senden der BundesprĂ€sident und auch Duzfreund Kanzler Schröder SolidaritĂ€tsbotschaften an PrĂ€sident Putin. Aber obwohl noch Menschen bewusstlos auf Intensivstationen mit dem Tode ringen, spricht keiner die jetzt naheliegende Forderung aus, nĂ€mlich das Geheimnis um das bei der Geiselbefreiung eingesetzte Gas zu lĂŒften, um so durch gezielte Hilfe noch Menschenleben retten zu können. Die freigekommenen Geiseln wurden zum Schweigen verpflichtet. Experten, AnĂ€sthesisten und Toxikologen, in Russland, in Deutschland und Israel rĂ€tseln in aller Ă-ffentlichkeit und stellen Hypothesen auf, ob Kampfgas oder Narkotikum, ob geĂ€chteter oder «erlaubter» Einsatz. Dann, nach fast 5 Tagen, lĂŒftet der russische Gesundheitsminister das Geheimnis, fĂŒr einige Betroffene wohl zu spĂ€t. Zudem bezweifeln Experten, dass die aufgetretenen Vergiftungssymptome durch das genannte Fentanyl alleine verursacht sein können. Wir hatten diese Informationspolitik schon beim Untergang der Kursk erlebt. Die machtpolitischen Interessen einer Grossmacht liessen der Menschlichkeit keinen Raum.
FĂŒr das offizielle Russland sind die tschetschenischen KĂ€mpfer Kriminelle, mit denen man kurzen Prozess machen muss. Auch westliche Regierungen neigen aus realpolitischem KalkĂŒl zunehmend dazu, diese Sichtweise zu ĂŒbernehmen, unbekĂŒmmert darĂŒber, dass sie damit die Dinge auf den Kopf stellen. Denn: Kann ein Volk von kaum 800000 Menschen fĂŒr die mĂ€chtige Sowjetunion und fĂŒr das Russland von heute ein so gefĂ€hrlicher Gegner sein, dass sich dieses grosse Russland im vermeintlichen Abwehrkampf aller Mittel bedienen darf, auch der unmenschlichsten? Sind die Jahrhunderte wĂ€hrenden blutigen Kriege nicht im wesentlichen durch die geostrategisch wichtige Lage dieser Region bedingt, die zu kontrollieren fĂŒr eine benachbarte Grossmacht zu verlockend ist, als dass sie diese aus ihrer Herrschaft entlassen könnte? Heute geht es zusĂ€tzlich in der RivalitĂ€t der GrossmĂ€chte um den Zugang zum kaspischen Ă-l und um die Kontrolle der Transportwege. Was zĂ€hlt da schon ein 1991 von 80 Prozent der Bevölkerung gewĂ€hlter PrĂ€sident Dudajew und das verbriefte Recht auf Selbstbestimmung der Tschetschenen. Stellt man die Ereignisse der letzten Jahre, den irakisch-iranischen Krieg, den Golfkrieg, den ersten und zweiten Afghanistan-Krieg in eine Reihe, so bekommen die Motive fĂŒr das politische Geschehen in dieser Region die Konturen, die fĂŒr das VerstĂ€ndnis der tatsĂ€chlichen HintergrĂŒnde massgeblich sind.
Als die Ăberlebenden der unter dem Stalinismus in sibirische Arbeitslager deportierten Tschetschenen unter Chruschtschow allmĂ€hlich wieder in ihre Heimat zurĂŒckkehren durften, war deren Neigung, mit ihren UnterdrĂŒckern weiterhin in einer staatlichen Einheit zu leben, verstĂ€ndlicherweise gering. Wieviel Unversöhnlichkeit ist hier in Generationen gewachsen? Wieviel Radikalisierung und Brutalisierung muss dieser lange, erbarmungslose Krieg auf beiden Seiten erzeugt haben? Dass dieses kleine Volk der Tschetschenen in der Annahme fremder Hilfe von vermeintlichen Freunden in seinem Befreiungskampf nicht wĂ€hlerisch sein konnte, ist verstĂ€ndlich. Es liegt auf der Hand, dass es dabei immer Gefahr lief, sich durch fremdes Streben um Einflussnahme instrumentalisieren zu lassen. Zu gross ist die Konzentration von Interessen fremder MĂ€chte in dieser Region, allen voran jetzt unsere «einzig verbliebene Weltmacht», die USA. So gesehen erscheint der Vorwurf der militanten Islamisierung, der Kollaboration mit subversiven Elementen, die gegen den russischen Staat gerichtet sind, zu kurz gegriffen.
Es ist notwendig, diese HintergrĂŒnde und Ausgangspositionen der am Konflikt Beteiligten zu betrachten, um in den Vernebelungen der psychologischen KriegsfĂŒhrung, der Auflösung der Konturen von Recht und Unrecht bis zur Unkenntlichkeit, Stellung beziehen zu können. Man sollte sich dabei mehr an den RealitĂ€ten orientieren, wie sie die dort betroffenen Menschen erleben.
Die Begriffe sind austauschbar geworden. Die angreifende Grossmacht wird zum MĂ€rtyrer, der sich mit allen, auch den unmenschlichsten Mitteln «wehren» darf. Die UnterdrĂŒckten sind per se Kriminelle, die nur eine einzige Alternative zuerkannt bekommen, sich einem verhassten Joch zu unterwefen oder zu sterben.
Und wo stehen bei dieser Inflation von Begriffen, der Beliebigkeit von Positionen, unsere Regierungen, die freiheitlich-demokratisch legitimierten Regierungen des Westens?
Wir nehmen wie selbstverstĂ€ndlich in doppelter Moral Menschenrechte, die Selbstbestimmung des Menschen als Teil unserer Werteordnung, nur fĂŒr uns in Anspruch und ahnen dabei nicht, dass uns dieser Umgang mit essentiellen menschlichen Lebensbedingungen auf unserer kleingewordenen Welt mit ihren immer enger werdenden Beziehungsgeflechten beinahe gesetzmĂ€ssig selber einholen wird. Menschenrechte mĂŒssen fĂŒr alle eingefordert und permanent ĂŒberall und fĂŒr jeden verteidigt werden, wenn sie auch fĂŒr solche Staaten, die meinen, dafĂŒr ein festes Abonnement zu haben, morgen noch GĂŒltigkeit haben sollen.
Es ist diese Komplizenschaft des Schweigens, auch noch dort, wo die Ereignisse essentielle Grundwerte unseres SelbstverstĂ€ndnisses berĂŒhren, die am meisten alarmieren und entrĂŒsten. Dass dieses gequĂ€lte Volk der Tschetschenen nun schon seit Generationen durch einen verbrecherischen Staatsterrorismus dezimiert wird, das Land in einen Friedhof verwandelt wurde, nehmen wir erst wahr, wenn die so GequĂ€lten ihrerseits terroristische Verbrechen begehen, wie jetzt in Moskau geschehen. Die Schuldzuweisungen gehen entsprechend dem machtpolitischen GefĂ€lle vorwiegend nur in eine Richtung und werden mĂŒhelos in die Achse des Bösen eingereiht. PrĂ€sident Putin gelobt nun Vergeltung und einen hĂ€rteren Einsatz. Noch hĂ€rter? Kennen wir diesen Teufelskreis nicht schon von anderswo? Er entschuldigt sich jetzt bei seinem Volk ob der vielen unschuldigen Opfer der Geiselbefreiung. Entschuldigt er sich auch beim tschetschenischen Volk? Wann fangen die MĂ€chtigen an, sich mit den Ursachen von Konflikten zu beschĂ€ftigen? Es wĂ€re doch der einzig mögliche Weg, den Sumpf des Terrorismus weltweit und dauerhaft trockenzulegen, und ĂŒberdies der einzig vertretbare.
Dessen ungeachtet erhielt der Mann, der die Greuel des zweiten tschetschenischen Krieges zu verantworten hat, nach seiner Rede im Deutschen Bundestag standing ovations. Wieder realpolitischer Opportunismus? Die Konturen zwischen Recht und Unrecht verwischen sich immer mehr, vor allem auf öffentlichen höchsten Ebenen, die doch eigentlich eine Vorbildfunktion fĂŒr die Menschen haben sollten. Wen wundert da noch die zunehmende Orientierungslosigkeit, die schwindende Hemmschwelle zur Gewalt in unserem Zusammenleben, auch schon bei Kindern? Wie sagte noch Arundhati Roy, diese mutige Menschenrechtlerin aus Indien? «Jetzt wissen wir Bescheid: Schweine sind Pferde, MĂ€dchen sind Jungen, Krieg ist Frieden.»
winkÀÀÀÀ
stocksorcerer

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