- Deflationsängste (schon wieder): Diesmal China (Langfassung ex NZZ heute) - dottore, 11.11.2002, 11:56
- Dottore, was halten Sie von meiner Schutzzoll-Forderung? (wie Bismarck ab 1879) (owT) - Bob, 11.11.2002, 13:44
- Re: Gar nichts; Geschichte dazu: - dottore, 11.11.2002, 14:57
- Dottore, was halten Sie von meiner Schutzzoll-Forderung? (wie Bismarck ab 1879) (owT) - Bob, 11.11.2002, 13:44
Deflationsängste (schon wieder): Diesmal China (Langfassung ex NZZ heute)
-->11. November 2002, 02:15, Neue Zürcher Zeitung
Nimmt China der Welt die Arbeit weg?
Das Reich der Mitte sorgt für <font color="FF0000">Deflationsängste</font>
Für die einen ist China einer der Wachstumsmotoren der
Weltwirtschaft, für die andern treibt Chinas gigantische
Billigstproduktions-Maschinerie die ganze Welt in die
Deflation. Die alte Furcht vor der «gelben Gefahr» droht
die enormen Chancen zu verdrängen, die ein
prosperierendes China für die Weltwirtschaft bereithält.
us. Peking, im November
Einer Mitteilung des International Iron and Steel Institute (IISI) war
vor kurzem zu entnehmen, dass China im kommenden Jahr mehr als
einen Viertel der gesamten Weltproduktion von Stahl absorbieren
wird. 1995 verbrauchte das Land 13,5 Mio. t, 2003 werden es
215 Mio. t von den weltweit produzierten 841 Mio. t Stahl sein.
Traditionell ist der Stahlverbrauch ein guter Indikator für die
industrielle Entwicklung eines Landes. Der Chefökonom des
Internationalen Währungsfonds (IMF), Kenneth Rogoff, streicht die
Dynamik der chinesischen Wirtschaft heraus und bezeichnet im
jüngsten IMF-Bericht über die Aussichten der Wirtschaft weltweit
Chinas anhaltend starkes Wirtschaftswachstum als «positiv für die
Weltwirtschaft». In den kommenden Jahrzehnten werde sich China
zu einer ähnlichen Lokomotive des Wachstums entwickeln, wie es im
letzten Jahrzehnt die USA gewesen seien.
Durchzogene WTO-Bilanz
Rogoff untermauert seine positive Einschätzung mit der Ã-ffnung von
Chinas Märkten im Gefolge des Beitritts zur Welthandelsorganisation
(WTO). Von anderer Seite klingt es allerdings nicht so euphorisch.
Ein Jahr nach Chinas Aufnahme in die WTO ziehen der United States-
China Business Council und die amerikanische Handelskammer eine
durchzogene Bilanz. Es wird Peking zugute gehalten, dass es sich
ernsthaft um die Implementierung der durch den WTO-Beitritt nötig
gewordenen Reformen bemühe, jedoch eingeräumt, dass es vor
allem auf der regionalen Ebene sowie bei der Staatsbürokratie noch
erhebliche Probleme gebe. Bemängelt wird, dass allzu häufig die
bestehenden Regeln zuungunsten der ausländischen Unternehmen
ausgelegt würden. Grosse Defizite werden vor allem bei der Ã-ffnung
von Chinas Markt für Agrarimporte ausgemacht. Anderseits nutze
Peking mehr und mehr die Regeln der WTO gegen Dumping, um seine
verletzlichen Industrien zu schützen. Dies sei vor allem der Fall im
Chemiesektor. Schliesslich beklagt sich die US-Handelskammer auch
über massive Verletzungen beim Copyright, Marken- und
Patentschutz und über eine allzu langsame Ã-ffnung des
Finanzsektors.
Die Daten des bilateralen Handels zwischen den USA und China
stützen die Skepsis. Die amerikanische Wirtschaft hatte sich stark für
den chinesischen WTO-Beitritt eingesetzt, doch hat dieser bisher
nicht zu der von den US-Unternehmen erhofften Belebung der
Exporte ins Reich der Mitte geführt. Für die ersten acht Monate des
laufenden Jahres weisen chinesische Statistiken zwar beim
bilateralen Handelsvolumen gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme
von 14,6% auf 60,2 Mrd. US-$ aus, doch während die chinesischen
Exporte um massive 22,7% wuchsen, bildeten sich die chinesischen
Einfuhren aus den USA um 1,7% zurück. Es resultierte ein
chinesischer Handelsbilanzüberschuss von 25,8 Mrd. US-$, wobei
amerikanische Angaben noch erheblich höher liegen, da sie auch
chinesische Güter erfassen, die durch Hongkong und andere
Transitstationen in die USA gelangen. Experten erwarten für 2002
bei einem Handelsvolumen von 92 Mrd. US-$ einen chinesischen
Überschuss von rund 38 Mrd. US-$, der einem Rekord gleichkäme.
Billige Arbeitskräfte
Von zahlreichen Unternehmen, die sich mit Produktionsstätten in
China niedergelassen haben, sind Klagen über Rechtsunsicherheit,
behördliche Willkür, mangelnde Transparenz und unfairen
Wettbewerb zu hören. Viele sehen sich wegen einer äusserst
freizügigen Lizenzvergabe plötzlich mit einer erheblich stärkeren
Konkurrenz konfrontiert, als zum Zeitpunkt der
Produktionsaufnahme absehbar war. Auch können die
Absatzchancen durch abrupte Änderungen in der Steuerpolitik
drastisch reduziert werden, wie das in der Vergangenheit die
Autoindustrie erfahren musste. Am schlimmsten ist aber die
geradezu endemische Imitationslust der Chinesen. Kommt ein neues
Produkt bei den chinesischen Käufern gut an, so kann man davon
ausgehen, dass innert kürzester Zeit Nachahmungen auftauchen, die
erheblich günstiger angeboten werden. So stellt sich schliesslich bei
manchem ausländischen Investor in China heraus, dass die Profite
über die Produktion nicht für den chinesischen Markt, sondern für
den Export hereingeholt werden müssen.
Chinas Standortvorteil Nummer eins ist und bleibt die praktisch
unbegrenzte Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte. Dies wiederum
nährt die Befürchtung, dass, da sich in China die meisten Güter
erheblich billiger herstellen lassen als sowohl in den westlichen
Industriestaaten wie auch in den osteuropäischen und asiatischen
Schwellenländern, das Land der Welt die Arbeitsplätze nimmt. Noch
verstärkt wird diese Furcht dadurch, dass sich China nicht mehr mit
dem Export von Spielwaren, Plasticprodukten und anderem
Billigzeug zufriedengibt. Ein Schulbeispiel ist Haier, der Hersteller
von dauerhaften Konsumgütern wie Waschmaschinen und
Eisschränken. Haier ist inzwischen selbst auf dem schwierigen
US-Markt sehr erfolgreich. Darüber hinaus erobern sich chinesische
Hersteller die sehr preisbewussten aufstrebenden Mittelschichten in
Entwicklungsländern.
«Werkstatt der Welt»
China ist also auf dem besten Weg, zur «Werkstatt der Welt» zu
werden. Es ist dies nichts Neues in der Wirtschaftsgeschichte, man
denke nur an den Beginn der Industrialisierung, als Grossbritannien
der «workshop» der Welt war, man denke aber auch an die
Schwierigkeiten, die der Westen im 18. und 19. Jahrhundert hatte,
die rasch wachsenden Defizite im Handel mit China auszugleichen.
Da man nichts produzierte, was die Chinesen unbedingt importieren
mussten, griff man schliesslich zum Opium, das zu einem der
traurigsten Kapitel in der neueren asiatischen Geschichte führen
sollte.
Konjunkturelle und strukturelle Produktionsverlagerungen, die zur
Natur der Weltwirtschaft gehören, sind Wasser auf die Mühlen von
Protektionisten. Stattdessen sollten sie Grund zu neuer
Innovationslust und Risikobereitschaft sein, beides
Voraussetzungen einer gesunden Wirtschaft. Unter diesem
Blickwinkel ist die rasante Entwicklung Chinas eine riesige Chance
für den Freihandel. Ein wohlhabendes China schafft enorme neue
Märkte für Qualitätsprodukte aus den westlichen Industriestaaten.
Wie alle Menschen neigen auch die Chinesen, haben sie einmal einen
gewissen Lebensstandard erreicht, zum Prestigekonsum. Dann will
man eben eine echte Schweizer Uhr oder eine modische Handtasche
«made in Italy». Man macht Ferien im Ausland oder leistet sich gar
für den Sprössling eine Ausbildung in Europa oder den USA. Die
Optionen sind unerschöpflich. Aus dieser Perspektive sind auch die
amerikanischen Klagen über das bilaterale Aussenhandelsdefizit
cum grano salis zu nehmen. Die Exporte der USA ins Reich der Mitte
könnten viel umfangreicher sein, gäbe es nicht äusserst restriktive
Regeln beim Export von Hochtechnologie. Ein Handelspotenzial
lässt sich aber nicht voll ausschöpfen, wo der Partner stets als
potenzieller Feind behandelt wird.
Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:
http://www.nzz.ch/2002/11/11/wi/page-article8HQZV.html
Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG
Anmerkung: Kenner der Ã-konomie fühlen sich an Oppenheims (Lehrer Ludwig Erhards) Lehre vom Grenzkuli erinnert: Ableitung - und damit Abgleiten - des weltweiten Lohnniveaus in Richtung auf die laufenden Reproduktionskosten der Arbeit.
Der weltweite"Ecklohn" ist demnach so hoch, wie das, was der Grenzkuli noch benötigt, um am Leben zu bleiben.
Gruß!

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