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Endlich wissen wir's! DAS ist eine"Rezession" (ex NZZ -Langfassung)
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12. November 2002, 02:19, Neue ZĂĽrcher Zeitung
Was ist eine Rezession?
Es gibt nicht nur eine «richtige» Definition
Von Marlene Amstad*
Ende der neunziger Jahre kam der Begriff Rezession in der
Wirtschaftsberichterstattung kaum vor. Der Konjunkturzyklus
wurde als wenig relevant erklärt. 2001 erfolgte das Umgekehrte. So
wurde in den USA nicht mehr gefragt, ob, sondern nur noch, wann
eine Rezession eingetreten ist und wie lange sie dauern wird. Auch in
der Schweiz kam die Frage auf, welche Phasen als Rezession gelten.
Nicht alle verstehen dasselbe darunter. Das zeigt sich an den beiden
am häufigsten zitierten Definitionen.
NBER- oder technische Definition?
Grosser Beliebtheit erfreut sich die als «technische Definition»
bezeichnete Regel. Danach gilt eine Folge von mindestens zwei
negativen Wachstumsraten des realen Bruttoinlandprodukts (BIP)
gegenĂĽber dem Vorquartal als Rezession. In den USA ist jedoch
offiziell die vom NBER (National Bureau of Economic Research)
Business Cycle Dating Committee veröffentlichte Datierung
massgebend. Sie definiert Rezession umfassender: Nicht das
BIP-Wachstum allein, sondern ein Katalog von
Konjunkturindikatoren (Arbeitslosigkeit, Produktion usw.) bildet die
Grundlage fĂĽr die Einteilung in Rezessions- und Boomphasen.
Darin kommt ein generelles Problem bei der Datierung von
Rezessionsphasen zum Ausdruck: Konjunktur ist nicht direkt
messbar, sondern ein latentes Phänomen. Das BIP stellt zwar die
verbreitetste ökonomische Zeitreihe dar, um die
gesamtwirtschaftliche Aktivität und ihre konjunkturellen
Schwankungen zu beschreiben, doch bestehen international grosse
Unterschiede sowohl bei der Erhebung des BIP als auch bei dessen
Deflationierung. Die OECD stĂĽtzt sich daher zur
Wendepunktdatierung auch auf die einheitlicher definierte
Industrieproduktion. Besonders problematisch fĂĽr die Wahl der
Referenzreihe ist, dass die Daten nicht nur bloss mit Verzögerung
verfügbar sind, sondern auch nachträglich meist zum Teil stark
revidiert werden. Das erschwert das rechtzeitige Datieren von
Wendepunkten. So lagen im September fĂĽr die Schweiz definitive
BIP-Quartalswerte erst bis Ende 1999 und vorläufige Schätzungen
bis zum zweiten Quartal 2002 vor.
Was das bedeutet, sei am Beispiel der USA verdeutlicht. In der
ersten Jahreshälfte 2001 galt dort noch als Pessimist, wer sich in
einer Rezession glaubte. Erst Ende 2001 wurde fĂĽr das zweite
Quartal ein BIP-RĂĽckgang ausgewiesen. Als das NBER dann im
November vergangenen Jahres den Beginn der Rezession auf den
März 2001 datierte, wurde einerseits kritisiert, dies stelle «old
news» dar, und anderseits bemängelt, der Zeitpunkt sei zu früh
angesetzt. Ende August 2002 wurde schliesslich offiziell die
BIP-Veränderung des ersten und des dritten Quartals in den
Negativbereich revidiert. Nicht besser erging es der Schweiz. Die
offizielle BIP-Schätzung zeigte bis vor kurzem bloss ein negatives
Quartal im Jahre 2001 an, bis nun drei weitere Quartale in den
negativen Bereich revidiert wurden. Auch diese Angaben sind aber
nicht definitiv.
Schrumpfung oder Verlangsamung?
Die Datierung konjunktureller Wendepunkte hängt also davon ab,
welche Reihe Konjunktur misst und wie revisionsanfällig sie ist.
Daneben existiert ein Faktor, der noch weit grössere Unterschiede in
der Einschätzung von Rezessionen verursacht: die Wahl des
Zykluskonzepts. Drei solche Konzepte stehen im Vordergrund:
1.Klassische Rezession. Der klassische Konjunktur zyklus ist in
Medien und Politik am beliebtesten. Hier sind Rezessionen nach der
«technischen Regel» definiert. Der Vorteil ist, dass die Rezession
einfach und klar messbar ist. Der Nachteil liegt dagegen dar in, dass
es in langen Wachstumsphasen so scheint, als ob es
Konjunkturzyklen gar nicht mehr gäbe. 2.Wachstumsrezession.
Auch wenn das Produktions niveau nicht abnimmt, unterliegt es
zyklischen Schwankungen. Sie werden im Wachstumszyklus er fasst.
Ist das Wachstum kleiner als das Trendwachs tum, herrscht eine
Wachstumsrezession. Bei diesem Mass fĂĽr Konjunkturzyklen werden
AbschwĂĽnge frĂĽ her erkannt als im klassischen Konjunkturzyklus.
Das Problem ist, dass sich über die Höhe des Trend wachstums
trefflich streiten lässt. Methoden zur Be stimmung dessen, was als
Normalwachstum gilt, gibt es viele; sie unterscheiden sich oft dort
am stärksten, wo es am meisten interessiert: am aktuellen Rand.
3.Wachstumsverlangsamung. Beim dritten Konzept geht es um
Verlangsamung und Beschleunigung des Wachstums. Es signalisiert
zyklische UmschwĂĽnge frĂĽh; zudem ist das Konzept eindeutig.
Konjunktu relle Wendepunkte sind die Maxima und Minima der
Wachstumsraten. Jede Wachstumsverlangsamung gilt als Signal fĂĽr
eine Rezession, lange bevor das Wachstum unter den Trend oder die
Nulllinie fällt. Die Tücke ist die hohe Zahl der Rezessionssignale:
Viele Wachstumsverlangsamungen mĂĽnden ja nicht in eine
klassische oder eine Wachstumsrezession.
Ist die Schweiz in einer Rezession?
Es gilt also, zwei Fragen zu beantworten: «Wie wird Konjunktur
gemessen?» und «Welches Konzept von Konjunkturzyklus wird
unterstellt?». Auf beide Fragen lassen sich mehrere Antworten
finden. Die verschiedenen Konzepte und Referenzreihen sollten aber
nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zueinander gesehen
werden. Jedes Zykluskonzept hat Vor- und Nachteile. Wichtig ist,
dass man sich ihrer bewusst ist. In langen Phasen mit hohen
Wachstumsraten ist beispielsweise das klassische
Konjunkturzyklus-Konzept wenig geeignet, konjunkturelle
Schwankungen zu signalisieren. Hier ist das
Wachstumszyklus-Konzept aussagekräftiger, weswegen auch die
OECD vorzugsweise dieses verwendet. Zudem empfiehlt sich bei
Ländervergleichen eine trendbereinigte Definition von Rezession.
Dies sollte aber nicht dazu verleiten, die kĂĽrzeren und seltener
auftretenden klassischen Rezessionen für tot zu erklären.
Ist die Schweiz in einer Rezession? StĂĽtzt man sich auf die
Quartalswerte der realen BIP-Reihen, liegt gemäss den verfügbaren -
aber noch nicht definitiven - Daten eine milde, einjährige «klassische
Rezession» hinter uns. Sie endete im zweiten Quartal 2002 mit
einem leichten Wachstum. Auch nach dem Zykluskonzept der
Wachstumsbeschleunigung befinden wir uns nicht mehr in einer
Rezession. Im dritten Quartal 2001 wurde das grösste negative
Wachstum erreicht. Allein gemäss dem Konzept des
Wachstumszyklus liegt eine Rezession vor. Die Schweiz wächst seit
dem ersten Halbjahr 2001 unter dem langfristigen Wachstumspfad.
Anders sieht es aus, wenn der BIP-Deflator in Frage gestellt wird
oder nicht das BIP allein zur Festlegung von Rezessionsphasen
verwendet wird. Besonders die Situation auf dem Arbeitsmarkt und
beim Konsum spricht hier gegen eine Rezession im vergangenen
Jahr. Mancher Konjunkturexperte wird das Wort «Rezession»
deshalb tunlichst vermeiden. Im Sinn verantwortungsvoller
Berichterstattung, welche die psychologischen Effekte des Begriffs
Rezession mitberücksichtigt, scheint dies vertretbar. Verständlich
ist aber auch die Haltung, dass schlechte Nachrichten schlecht sind,
egal, wie man sie nennt oder definiert. Angesichts der vielfältigen
Verwendung des Begriffs empfiehlt es sich jedenfalls, jeweils
festzuhalten, was genau unter Rezession verstanden wird.
Dafür spricht auch der Verlauf des vom «Economist» erhobenen
«R-Word»-Indexes. Dieser zählt die nicht genauer definierten
Rezessionsnennungen in Zeitungen und erreicht seinen Höhepunkt
meist, wenn es schon wieder aufwärts geht. In diesem Sinn könnte
dieser Artikel durchaus ein hoffnungsvolles Konjunktursignal sein.
* Dr. Marlene Amstad arbeitet als Senior Economist im Ressort
Forschung der Schweizerischen Nationalbank.
Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:
http://www.nzz.ch/2002/11/12/wi/page-article8FG5M.html
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