- Mommsen zum 100-J. Nobelpreis: Herrliche Polemik gegen die Briten - El Sheik, 13.11.2002, 09:03
Mommsen zum 100-J. Nobelpreis: Herrliche Polemik gegen die Briten
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Gruß vom Scheich
Vor 100 Jahren wurde Theodor Mommsen zum ersten deutschen Literaturnobelpreisträger gewählt
Von Matthias Heine
Schuld ist wahrscheinlich Hegel. Nicht zuletzt seinetwegen waren deutsche Historiker im 19. Jahrhundert führend in der Kunst, ihren Stoff mit der größten Spannung und Zielstrebigkeit zu erzählen. Schließlich hatte Hegel hierzulande den Gedanken popularisiert, Geschichte sei der stetige"Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit". Und wer Geschichte als große Erzählung begreifen will, muss hinter ihrer Fabel wohl auch irgendeinen Sinn oder zumindest eine Moral entdecken können.
Der größte all dieser professoralen Geschichtserzähler war Theodor Mommsen, der 1902 für seine"Römische Geschichte" als erster Deutscher und als zweiter Autor überhaupt mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das Nobelpreiskomitee unter Vorsitz von Carl David af Wirsén, dem ständigen Sekretär der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, tagte am 13. November 1902 und entschied sich rasch für Mommsen, der von einer ganzen Reihe prominenter deutscher Wissenschaftler, darunter Adolf Harnack und Mommsens Schwiegersohn Ulrich Wilamowitz-Möllendorff, vorgeschlagen worden war. Der Althistoriker Heinrich Schlange-Schöningen dokumentiert in einem Artikel für die Zeitschrift"Antike Welt" den Brief, den Wirsen sofort nach der Sitzung an den Preisträger sandte. Das Original befindet sich in Mommsens Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek. Darin heißt es:"Da jedoch die öffentliche Bekanntmachung des Beschlusses erst am 10. December stattfinden wird, bitte ich Sie ergebenst bis dahin diese Mitteilung streng geheim zu halten." Der chronisch klamme Mommsen freute sich zwar über die Preissumme von 141.846 Kronen oder 158.000 Mark, bat aber, mit Rücksicht auf sein Alter, ihm die Reise nach Stockholm zur Verleihungszeremonie zu ersparen.
Das Nobelpreiskomitee ließ damals schon jene Ruhe, Bedächtigkeit und Abgehobenheit von der Eile des Zeitgeistes walten, für die es heute noch verehrt wird: Mommsen bekam den Preis sage und schreibe 48 Jahre nachdem er 1854 den ersten Band der"Römischen Geschichte" publiziert hatte. Er ist, mit 84 Jahren, bis heute der älteste Nobelpreisträger geblieben.
Geschichtsschreibung - und sei es über die entlegensten Epochen - ist immer versteckte Zeitgeschichtsdebatte. Das gilt besonders für die deutschen Professoren, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihren Werken alle mehr oder weniger Partei im Kampf um die Reichseinigung ergriffen. Die Historiografie wurde ihnen zum Vehikel, Versäumtes zu betrauern und Künftiges anzumahnen. Mehr als bei jedem anderen war das so bei Mommsen.
Der enttäuschte Liberale, so schreibt Stefan Rebenich, Autor der gültigen neuen Mommsen-Biografie (C. H. Beck, München, 26,90 Euro),"ließ die persönlichen Frustrationen, die aus der gescheiterten 48-er Revolution resultierten, in die aktualisierende Darstellung des historischen Gegenstandes einfließen. Rom wurde zum Ort, wo die Kämpfe des Frankfurter Nationalparlaments ausgetragen wurden und wo man um die liberalen Forderungen des deutschen Bürgertums rang". Bewusst griff er dabei zu zahlreichen sprachlichen Anachronismen: Consuln heißen gelegentlich"Bürgermeister", die senatorischen Landbesitzer"Junker" und der Streit im Senat wird mit dem Parteienkampf im englischen Parlament gleichgesetzt.
Das hat ihm von Zeitgenossen den Vorwurf eingetragen, sich zum"schlechtesten Zeitungsstil" und einem"Mangel an Ruhe und Würde der Darstellung" verstiegen zu haben. Richtig daran ist, dass der Pastorensohn und studierte Jurist ("Römische Geschichte" wurde durch ihn erst universitätswürdig) das Formulieren als Rezensent und als Redakteur eines liberalen Blattes in Rendsburg gelernt hatte.
Sein Stil war jedoch kein Schreibdefekt, sondern Trick. Es gehe darum"die Alten herabsteigen zu machen, sie von dem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, sie in die reale Welt, wo gehasst und geliebt, gesägt und gehämmert, phantasiert und geschwindelt wird, den Lesern zu versetzen", heißt es in einem Brief Mommsens an Wilhelm Henzen, den Freund und Mitarbeiter am Corpus Inscriptionum Latinarum.
Dabei verstieg sich der temperamentvolle Polemiker auch zu Mehrdeutigkeiten, wie sie dem Wissenschaftler ein Gräuel sein sollten, dem Literaten aber erwünscht sind. Es störte ihn zunächst gar nicht so sehr, dass sein glühend liebendes Caesar-Porträt, diese"weltliche Heiligenlegende" (so der Mommsen-Biograf Alfred Heuß) nach einer Apotheose Napoleons III. klang. Erst in der zweiten Auflage des dritten Bandes distanzierte er sich vom Neo-Caesarismus der Gegenwart.
Mit seiner"Römischen Geschichte" ist Mommsen weit über sein Fach literarisch wirksam geworden, und deshalb hat er völlig zurecht den Nobelpreis bekommen. Zwar war es unter Dichtern und Künstlern seit langem üblich, Zeitgenossen ins antike Kostüm zu stecken und Debatten der Gegenwart aufs Forum zu verlegen. Doch das blieb steifes Römerkasperle-Theater verglichen mit Mommsens wirkmächtigen Aktualisierungen. In den Adern der Römer bei Shaw, Brecht, Wilder, Arno Schmidt oder Heiner Müller, aber auch in denen von"Asterix" und vom"Gladiator", fließt Mommsen-Blut.
Nur ans kaiserliche Rom, das unserer Zeit doch am allernächsten zu stehen scheint, traute sich Mommsen nicht heran. Zwar wurde seine Provinzialgeschichte werbestrategisch als"fünfter Band" der Römischen Geschichte verkauft, doch der vierte Band über die Epoche der Caesaren blieb bis auf ein paar Bruchstücke ungeschrieben. Die 1992 durch Barbara und Alexander Demandt veröffentlichten Mitschriften von Mommsens Vorlesungen zur Kaiserzeit aus den Jahren 1882-86 belegen eigentlich nur sein Desinteresse gegenüber diesem Gegenstand.
Der Dramatiker Heiner Müller verglich Mommsens Unlust, die Kaiserzeit zu beschreiben, obwohl diese doch"eine glückliche Zeit war für das Volk von Rom", mit seinem eigenen Widerwillen, ein Nachwende-Stück über den Sieg der trivialen kapitalistischen Behaglichkeit zu verfassen. In seinem Gedicht"Mommsens Block" protokolliert er ein Gespräch zwischen zwei Maklern am Nebentisch und resümiert dann:"Tierlaute Wer Wollte das aufschreiben / Mit Leidenschaft Haß lohnt nicht Verachtung läuft leer / Verstand ich zum erstenmal Ihre Schreibhemmung / Genosse Professor vor der römischen Kaiserzeit / Der bekanntlich glücklichen unter Nero."
In Wirklichkeit war Mommsen zu sehr von neueren wissenschaftlichen Aufgaben in Anspruch genommen. Die ersten drei Bände der Römischen Geschichte waren der Brotjob eines jungen Gelehrten, der damals noch relativ viel Zeit hatte. Der Biograf Stefan Rebenich hat noch eine Erklärung für die Schreibblockade: Sogar, Mommsen, der in der Wissenschaft und in der Politik keine Furcht zu kennen schien, habe den Vergleich mit Edward Gibbons überragendem"Verfall und Untergang des Römischen Reiches" gescheut.
Wenn nach 1945 unter Mommsens deutschen Erben die Kunst des historischen Erzählens einen besonderen Tiefstand erreichte, dann hat das damit zu tun, dass hierzulande der Hegelsche und alle sonstigen Geschichtsoptimismen besonders gründlich ausgerottet wurden. Wahrscheinlich war das Adorno-Diktum, nach Auschwitz könnten keine Gedichte mehr geschrieben werden, nur ein Druckfehler: es sollte Geschichte heißen.
Deshalb blüht die Fähigkeit, History als Story zu erzählen, bei Amerikanern und bei Briten (die ja längst nichts anderes mehr sind als Amerikaner mit schlechten Zähnen). Es gibt zwar - vor allem in Asien - noch andere unzurechnungsfähige Kulturkreise, die sich für den Mittelpunkt der Welt halten. Aber nur Bürger der USA können mit Recht glauben, ihr Land sei das Ziel der Geschichte.
Ausführliches über die Nobelpreis-Verleihung in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift"Antike Welt".
<ul> ~ http://www.welt.de</ul>

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