- Über Diebstahl, Steuerstreik und das Ende des Wohlfahrtsstaates - Popeye, 14.11.2002, 07:38
Über Diebstahl, Steuerstreik und das Ende des Wohlfahrtsstaates
-->Am Ende des Wohlfahrtsstaats
Wie die Regierung uns bestiehlt
In Deutschland gibt es mehr Arbeitnehmer als Rentner.
Noch. Auch in Hessen, auch in Niedersachsen, wo
demnächst gewählt wird. Handelt es sich mithin um einen
Akt politischen Selbstmords, wenn die rot-grüne
Regierungsfraktion am Freitag entgegen allen Versprechen
und Absprachen den Rentenbeitragssatz auf 19,5 Prozent
des Bruttolohnes erhöht? Oder glaubt sie, der Begriff
"Beitragsbemessungsgrenze" ist für Absolventen hessischer
oder niedersächsischer Schulen viel zu lang, als daß ihnen
auffallen würde, wenn diese Grenze nach oben verschoben
wird?
Zählt man zu den Arbeitnehmern die Arbeitslosen hinzu,
dann steht den Rentnern, deren Sonderinteressen so zu
Staatsinteressen gemacht werden, eine noch größere Gruppe
gegenüber, die unter der Verteuerung von Arbeit - im
Abschwung! - leiden wird. Zusätzlich zu den Abgaben
werden die Steuern angehoben, allerorten die Gebühren für
staatliche Leistungen erhöht, die Neuverschuldung wird
ausgeweitet, was einer Steuererhöhung von morgen
entspricht. Der Glaube jener geschröpften Alterskohorten an
zukünftige Gegenleistungen entsprechenden Umfanges ist
längst verdampft."Generationenvertrag" bedeutet inzwischen
ungefähr dasselbe wie"Lüge". Nichts von dem, was jetzt
eingezahlt wird, um den Rentnern ja nichts zuzumuten, wird
den Einzahlern jemals vergolten werden. Um 1980 Geborene
werden für einen Euro im besten Fall achtzig Cent Rente
erhalten; wer Jahrgang 1930 ist und regelmäßig eingezahlt
hat, erhält für einen Euro zwei. Zum entsprechenden Verlust
an Vertrauen ganzer Generationen in den Sozialstaat kommt
schließlich das ebenso berechtigte Mißtrauen in die
Finanzmärkte, die soeben noch als"zweite Säule" der
Alterssicherung empfohlen worden waren. Bilanzfälschung,
Konkursverschleppung, betrügerischer Bankrott - die
gesamte Terminologie des Wirtschaftsstrafrechts empfiehlt
sich als Vokabular für staatswissenschaftliche Seminare und
Übungen in vergleichender Regierungslehre.
Beispiellos ist diese Situation, weil in ihr Aufblähung und Ruin
des Wohlfahrtsstaats zusammenfallen. Wie alle Staatsformen
begründet sich auch seine Existenz nicht nur auf
Zahlungsströmen und Machtverteilungen, sondern auf der
Plausibilität der Programme, die sie steuern. Sie ist gerade
dabei, zerstört zu werden. Denn wenn nur 1,4 Prozent aller
mehr als Fünfundsechzigjährigen Sozialhilfe beanspruchen,
wenn weder Beamte noch Selbständige in die Rentenkasse
einzuzahlen haben, wenn für die jetzt Geschröpften ein
Rentenzugangsalter von siebzig in den Blick genommen wird
- dann ist das mit der Mär von der Altersarmut dekorierte
Argument, es gehe hier um Gerechtigkeits- und
Solidaritätsfragen, um die Abwehr sozialer Kälte und um
einen Sozialstaat für die Schwachen, dann ist dies alles nur
ein riesiger Intelligenztest, den die Regierung mit ihrem Volk
veranstaltet.
Und doch gibt es in diesem Land kein Anzeichen für
Steuerunruhen, wie sie im Mittelalter und der frühen Neuzeit
bei ähnlichen Zumutungen aufflammten. Aller möglichen
Themen haben sich soziale Bewegungen angenommen, aber
Steuerverweigerungsaktivisten, die sich auf den Dächern von
Finanzämtern oder an den Pforten von
Bundesversicherungsanstalten anketten, sind bislang nicht
gemeldet worden. Wir haben streng beobachtete Maßzahlen
für den zulässigen Lärm an Fließbändern, Höchstmengen für
den Anteil von Farbstoff in unseren Marmeladen, und wenn
irgendwo ein Geigerzähler ausschlägt, setzen sich Leute auf
Eisenbahnschienen. Aber wenn der Rentenbeitragssatz von
19,1 auf 19,3 und 19,5 Prozent ansteigt und es gar keinen
Grund zur Annahme gibt, damit sei schon Schluß, dann
kommt das soziale Grenzwertbewußtsein selber an eine
Grenze.
Nach politökonomischer Lehre ist es am schwierigsten, den
Widerstand gegen das zu organisieren, was alle schädigt.
Kleine Gruppen bilden ihren Willen leichter, einigen sich auf
die notwendigen Beiträge zu seiner Durchsetzung schneller
als große. Darum sind die Belange der Konsumenten
politisch so schwach vertreten und die der Bauern so gut,
haben die Stromhersteller und die Zahnärzte eine so starke
Lobby, die Steuerzahler aber eine so ohnmächtige. Doch im
vorliegenden Fall erklärt diese Lehre zuwenig. Denn die
Rentner obsiegen über die Arbeitnehmer wohl kaum
aufgrund von Organisationsvorteilen älterer Bürger bei der
Lobbyarbeit für ihre Sache. Auch die Rentner sind eine
heterogene Großgruppe. Selbst der Hinweis, es seien ihre
Sprachrohre in den Wohlfahrtsverwaltungen und den
angeschlossenen Beratungs- und Betreuungsindustrien, die
für den nötigen Druck sorgen, macht nicht einsichtig,
weshalb Sozialdemokraten und die inzwischen vollends
sozialdemokratisierten Grünen offenbar gewillt sind, den
Leuten nur noch eine zynische Haltung zum Sozialstaat
übrigzulassen.
Vielleicht muß neben politökonomische Erklärungen eine
sozialpsychologische treten. Der programmatische
Erschöpfungszustand der deutschen Parteien ist offenkundig.
Das Wort"Zukunft" ist seit langem schon nur mehr eine
Phrase zur Durchsetzung von ganz gegenwärtigen
Aneignungsinteressen. Ferne Ziele, die den bürgerlichen
Charakter einst entsagungsbereit sein ließen, werden für
unwählbar gehalten. Das politische Vorstellungsvermögen ist
auf den Augenblick geschrumpft. Kann es sein, daß die
Politik sich in dieser Lage am besten in Personenkreise
einfühlen kann, für die objektiv mehr endet als neu beginnt?
Die mehr Vergangenheit als Zukunft haben? In Abwandlung
einer berühmten finalen Geste, die einst den"Verfall einer
Familie" besiegelte kann man über die Sozialpolitik der
Regierungsparteien sagen: Sie denken, es komme nichts
mehr.
JÜRGEN KAUBE
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2002, Nr. 265 / Seite 39

gesamter Thread: