- Über Kinderbetten, Not(stands)gesetze, Radio Eriwan und nationale Räte - Popeye, 15.11.2002, 06:46
Über Kinderbetten, Not(stands)gesetze, Radio Eriwan und nationale Räte
-->Rürups Rezeptebuch
Wie die Regierung uns belügt und wie wir uns alles
gefallen lassen
Die sogenannten Notgesetze, die am Freitag der
Bundestag beschließen soll, folgen nur einer Not: der
Überforderung der rot-grünen Koalition. Die morgendliche
Fernsehübertragung der Debatte, in der die versammelten
Koalitionäre ihre gebrochenen Wahlversprechen in
Gesetzesform gießen, sollte man Kindern vorenthalten, denn
auf empfindsame Gemüter muß derart geballte Lügerei
charakterschädigend wirken. Wenn Kinder sich an Gerhard
Schröder, Hans Eichel und Joschka Fischer ein Vorbild
nähmen, wie sollen sie dann je lernen, die Wahrheit zu
sagen?
Zur Reformunfähigkeit der Regierung kommt die
antiparlamentarische Attitüde des Kanzlers: Gesetze werden
neuerdings nicht mehr im Parlament oder den von ihm
kontrollierbaren Ministerien entworfen, sondern in
Kommissionen, so wie auch die Bioethik im"Nationalen Rat"
von Kanzlers Gnaden betrieben wird. Mit Partizipation hat
das Kommissionengehabe aber nichts zu tun. Denn sobald
gesellschaftliche Gruppen ernsthaft ihre Interessen vertreten,
handelt es sich um das"Geschrei von Lobbygruppen"
(Gesundheitsministerin Schmidt). Nur wenn sie funktional
sind, also das Parlament zu umgehen helfen, von wichtigeren
Fragen ablenken oder dazu taugen, beim Nichtstun Zeit zu
gewinnen, dürfen Interessenvertreter mit dem Lob des
Kanzlers rechnen. So verhielt es sich mit dem wirkungslosen
"Bündnis für Arbeit", mit der Blendgranate Hartz, die von
den eigentlichen Problemen des Arbeitsmarktes ablenkt, und
nun mit der Reformkommission Rürup, die sich den Renten-
und Gesundheitssystemen zuwenden soll.
Erstaunlich, daß das Parlament all dies mit sich machen läßt.
Noch erstaunlicher erscheint es, weil erst in diesem Jahr aus
seiner Mitte heraus unter Mitwirkung aller Parteien und unter
fachkundiger Anleitung des Sachverständigen Bert Rürup
eine einwandfreie Blaupause für die nun so dringend nötigen
Reformen der Sozialsysteme entstanden ist. Am 14.
Dezember 1999 wurde die Enquête-Kommission
"Demographischer Wandel" eingesetzt, mit einem fast
identischen Arbeitsauftrag, wie ihn die neue
Reformkommission der Regierung nun bekommen soll.
Schröder und Fischer bräuchten diese neue
Rürup-Kommission nicht, wenn es ihnen wirklich um die
Erfüllung ihres Amtsschwures ginge und nicht um
Zeitschinden vor den Landtagswahlen, sie bräuchten sich nur
an den von Bert Rürup mitformulierten
Handlungsempfehlungen der Enquête-Kommission des
Bundestags zu orientieren. Denn die Damen und Herren
waren fleißig. Zum Nachblättern: Bundestags-Drucksache
14/8800, 304 Seiten, vorgelegt am 28. März 2002. Wenn die
Regierung handeln will, muß sie nur lesen können.
Skurril an der gegenwärtigen Finanzkrise des
Wohlfahrtsstaates ist, daß nicht nur Rürup, sondern jeder
halbwegs politisch Interessierte auf der Straße herunterbeten
kann, was zu tun wäre. Das Phänomen, daß die
Bevölkerungsmehrheit reformfreudiger ist als die von ihr
gewählte Regierung, stammt nur von der Metamorphose der
letzteren her: Als viele sich freuten, daß die PDS die
Fünf-Prozent-Hürde nicht mehr erreichte, tauchte sie
reinkarniert in der Schröderschen Wirtschafts- und
Sozialpolitik wieder auf. Noch weiß niemand genau, was den
Kanzler reitet. Träumt er von einer"strukturellen
sozialdemokratischen Mehrheit" aus Arbeitslosen,
Sozialhilfeempfängern und Rentnern? Daß die Diagnose
eines sich anbahnenden Sozialismus keine Polemik ist, zeigt
der Rat der sogenannten Wirtschaftsweisen, von denen einer
wiederum Herr Rürup ist: Mit einer marktwirtschaftlichen
Ordnung sei die deutsche Staatswirtschaft kaum noch zu
vereinbaren, sagten sie am Mittwoch.
Was tun? Fast langweilt es schon, aus dem
Enquête-Rezeptebuch zu zitieren, denn die Medien laufen
über mit den einschlägigen Forderungen zum Arbeitsmarkt,
zur Rentenpolitik, zum Gesundheitssystem: Der Abstand
zwischen staatlichen Hilfen und Nettolöhnen muß
ausreichend sein, damit sich niemand zu Lasten der
Gemeinschaft im Nichtstun bequem einrichten kann, der
Paragraphendschungel muß verschwinden, damit
Arbeitgeber nicht aus Angst vor Gesetzesverstößen auf die
Schaffung neuer Arbeitsplätze verzichten, die
Frühverrentung muß ein Ende haben, damit nicht zur Norm
wird, nach zwanzig Jahren Ausbildung dreißig Jahre zu
arbeiten und dann ebenso lange Rente zu beziehen. Das
Tarifrecht muß flexibler gestaltet werden, damit Löhne und
Arbeitszeiten im Betrieb selbst ausgehandelt werden können.
Das Rentenalter muß steigen, die Rentenformel neu
konzipiert werden, die Beamtenpensionen gehören
reformiert.
Die Koalition indes folgt einem Prinzip des Radio Eriwan:
Die Regierung hebt die Lohnnebenkosten und setzt eine
Kommission zur Senkung der Lohnnebenkosten ein. Nur in
einem Satz haben die Frischgewählten bisher Ehrlichkeit
erkennen lassen, in dem von der"Lufthoheit über den
Kinderbetten". Rot-Grün, das wird heute im Bundestag zu
besichtigen sein, wird zum Kampfeinsatz gegen die junge
Generation. So haben es Schröder und Fischer auch gewollt.
Kurz nach der Wahl haben sie entschieden, daß in den
Apparaten allein ihre Generation das Sagen haben soll. So
machen sie Generationenpolitik pur, auf Kosten des
Gemeinsinns.
CHRISTIAN SCHWÄGERL
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2002, Nr. 266 / Seite 41

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