- Arbeitsgericht: Was ist die vereinbarte Arbeitszeit? / Beamtengehirn - Wal Buchenberg, 20.11.2002, 14:22
Arbeitsgericht: Was ist die vereinbarte Arbeitszeit? / Beamtengehirn
-->Am Arbeitsgericht (18.11.2002)
Was ist die vereinbarte Arbeitszeit in einer flexiblen Arbeitswelt? Nur Mutti weiß es...
Vor Gericht erschienen ist der Schornsteinfegermeister G. mit Rechtsanwältin als Kläger und der Kleinkapitalist Geschäftsmann K. mit Rechtsanwalt als Beklagter.
Der Schornsteinfegermeister war der erste Lohnarbeiter, den Herr K. in seiner Karriere als hoffnungsfroher Jungkapitalist eingestellt hatte, und sein Arbeitsverhältnis dauerte nur so lange, bis Differenzen darüber auftauchten, was als Regel-Arbeitszeit für den Schornsteinfeger vereinbart worden war.
Der Herr Jungkapitalist hatte durch mehrere Anrufe zu nachtschlafender Zeit, einem persönlichen Kontrollbesuch nach 22 Uhr bei der Wohnung seines Angestellten und weitere Anrufe am folgenden Morgen um 6.30 festgestellt, dass sein Mitarbeiter mehr oder minder regelmäßig statt Freitags auf Kundenbesuchen mit dem Firmenwagen unterwegs zu sein, vielmehr das Wochenende vorverlegt hatte, um in seine ostdeutsche Heimat zu fahren.
Es gab eine Abmahnung mit folgender Kündigung von Seiten des Kleinkapitalisten mit Gegenerklärungen und folgender Klage gegen die Kündigung, plus strafrechtliche Anzeige wegen Betruges gegen den Unternehmer von Seiten des Lohnarbeiters. Diese Kette von Ereignissen lässt sich auf ein einziges Urereignis zurückführen: Das Einstellungsgespräch in der Wohnung des Jungkapitalisten.
Der Kleinkapitalist sagt, es habe keine einschränkenden Abmachungen bezüglich der Arbeitszeit gegeben und verweist auf den damals abgeschlossenen schriftlichen Arbeitsvertrag, der jedoch über die vereinbarte Arbeitszeit keine Angaben macht.
Der Richter weist noch darauf hin, dass der Arbeitsvertrag auch nicht die Klausel enthält: „Weitere Absprachen gelten nicht.“
Der gekündigte Lohnarbeiter führt aus, dass bei dem Einstellungsgespräch vereinbart worden sei, dass er Freitags häufiger frei habe, um über das Wochenende in seine ostdeutsche Heimat zurückkehren zu können, und er führt als Zeugin seine Ehefrau an, die bei dem Einstellungsgespräch zugegen war.
Der Jungkapitalist bezeichnet das alles als Lüge, hat aber das Pech, dass er bei dem Einstellungsgespräch nicht die ganze Zeit anwesend war. Er sei ja ganz neu im Geschäft gewesen und hätte von Personalfragen keine Ahnung gehabt, daher habe nicht er selber die Verhandlungen geführt, sondern seine Mutti.
Mutti ist gelernte Personalfachfrau und hat also Ahnung. Darf man Kapitalist werden, ohne selber eine Ahnung zu haben?
Der Richter rechnet dem Unternehmer vor, was es ihn koste, wenn die Kündigung als Maßregelung interpretiert werde und damit unwirksam sei. Er müsse dann ein Jahr Gehalt nachzahlen. Er schlägt einen Vergleich vor: Die Kündigung war fristgerecht wirksam und es wird eine Abfindung von einem Monatsgehalt (5000.- DM) brutto wie netto gezahlt.
Den Unternehmer lässt das kalt. Er habe sowieso kein Geld, wenigstens nicht mehr, als er an Lohn zahlt und für das Geschäft braucht. Die Rechtsanwältin des Lohnarbeiters wirft boshaft ein: Er mache im Jahr 250.000 DM Umsatz, da solle er hier nicht in zahlungsunfähig machen. Man kann also erfolgreich Kapitalist werden, ohne selber eine Ahnung zu haben.
Der Rechtsanwalt des Unternehmers führt aus, in der ersten Instanz hatte der Arbeitsrichter eine Abfindung von 1000.- DM vorgeschlagen. Das hatten sie damals als zu hoch abgelehnt. Da sollen sie jetzt mit 5000.- einverstanden sein?
Es ist Zeit für eine Beratungspause.
Der Schornsteinfegermeister ist mit einer Abfindung von 5000.- DM für den Verlust seines Arbeitsplatzes sichtlich einverstanden.
Der Kleinkapitalist empört sich dagegen, dass dann Herr G. mit seinen Lügen vor Gericht recht bekomme. Er kämpfe hier für die Wahrheit! Sein Rechtsanwalt drückt diese Wahrheit in Zahlen aus: weniger als 1000.- DM, dann wolle man einem Vergleich zustimmen!
Der Richter gibt noch nicht auf. Er rechnet ihnen vor, dass jetzt Zeugen vernommen werden müssten, das würde weitere Gerichtskosten bringen, ohne dass ein sicheres Ende für eine Partei in Sicht wäre.
Der Richter weiß aber, mit wem er es zu tun hat. Er vermindert die Abfindung für den gekündigten Lohnarbeiter auf 4000.- DM. Unter Gezeter stimmt man dem Vergleichsvorschlag zu. Der Richter reagiert auf das Kapitalistengezeter mit dem Vorschlag einer Ratenzahlung: Zwei Raten zu je 1000 Euro, erste Rate zahlbar am 15. Dezember. Auf seinem winzigen Kalender von der Größe einer Visitenkarte bemerkt der Richter jedoch, dass der 15. Dezember auf einen Sonntag fällt - also zahlbar am 16. Dezember.
Wäre der Jungunternehmer nicht ein so schmales Hemd und der ostdeutsche Schornsteinfegermeister nicht ein Kleiderschrank von einem Kerl, der Kleinkapitalist hätte seinen ersten Lohnarbeiter vielleicht doch noch verprügelt.
Der geschärfte Gerechtigkeitssinn eines Beamten
Vor Gericht erschienen sind Herr Dr. M., Ende Fünfzig mit Rechtsanwältin als Kläger und der Regierungsassessor J. mit Rechtsanwalt als Vertreter des beklagten Landes.
Herr Dr. M. hatte zehn Jahre als angestellter Lehrer an einer kirchlichen Schule gearbeitet. Dann wechselte er an eine staatliche Schule und wurde ins Beamtenverhältnis übernommen. Nun könnte man denken, Herr Dr. M. hat mit dem Beamtenstand die Verwirklichung seines privaten Glücks erreicht. Nein, dem ist nicht so. Er musste nämlich feststellen, dass seine Tätigkeit als angestellter Lehrer an einer Privatschule zwar als „Beschäftigungszeit“ für sein Altersruhegeld angerechnet wurde, aber nicht als beamtenrechtliche „Dienstjahre“ für seine gehaltsmäßige Eingruppierung.
War dem Lehrer Dr. M. zehn Jahre lang als Angestellter kein klagenswertes Unrecht geschehen, so entdeckte er nach seiner Erhebung in den Beamtenstand diese Ungleichbehandlung.
Der Richter meinte, er habe nur Fälle erlebt, wo Angestellte klagten, weil ihnen bestimmte Beamtenprivilegien vorenthalten wurden. Herr Dr. M. sei jedoch mit seinem langjährigen Arbeitsverhältnis nach BAT immer zufrieden gewesen. Aber - so wirft die Rechtsanwältin ein - das Land habe es versäumt, ihren Mandanten darauf hinzuweisen, welche Nachteile er in Kauf nehme, wenn er Jahr für Jahr im Angestelltenverhältnis bliebe, statt an eine staatliche Schule mit Beamtenverhältnis zu wechseln.
Das Unrecht, das Herrn Dr. M. zehn Jahre lang geschah, wurde also erst sichtbar, als es beseitigt war. Ja, eben nicht ganz beseitigt: Da fehlen eben noch zehn Dienstjahre.
Und was führte Herr Dr. M. juristisch ins Feld? Die Privatschule, an der er gearbeitet habe, sei in Wahrheit eine öffentliche Schule gewesen, denn es habe mit dem Land einen „Bestellungsvertrag“ gegeben, so dass das Land Lehrer an diese Schule abgeordnet hatte. Herr Dr. M. war zwar nicht an diese Schule abgeordnet worden, aber er wollte die beamtenrechtlichen Wirkungen einer Abordnung. Was bei anderen billig ist, das soll bei Herrn Dr. M. recht sein.
Man merkt, wie kompliziert ein Beamtenhirn arbeitet. Wie der Volksmund weiß: Mit dem Amt kommt der Verstand. Wäre Herr Dr. M. angestellter Lehrer geblieben, er hätte nie bemerkt, wie ungerecht er einmal behandelt werden würde, sobald er Beamter geworden ist!
Der Richter fragt bei den Vertretern des Arbeitsherrn von Dr. M. an, ob sie denn in dem Fall eine Vergleichschance sehen. Könnte man denn nicht wenigstens das eine oder andere Jährchen...?
Nein, man sah keine Vergleichschance. Das umso weniger, als im Juli 2002 ein Kollege von Dr. M. in genau der gleichen Sache geklagt habe und seinen Prozess vor dem Arbeitsgericht verloren habe.
Der Richter kannte das Urteil nicht und fragte die Klägerpartei, ob sie den Fall kennen würden. Sie kannten ihn.
Der Richter fragte Herrn Dr. M. ob er nicht angesichts der geringen Chancen seine Klage zurückziehen wolle.
Nein, er wollte nicht. Und seine Rechtsanwältin fügte hinzu: Sie habe die Chancen für Herrn Dr. M. anhand des verlorenen Parallelfalls durchgesprochen und ihn auch darauf hingewiesen, welche Gerichtskosten auf ihn zukämen.
Nicht jeder kann den subtilen Windungen eines Beamtengehirns folgen.
Wal Buchenberg, www.marx-forum.de, 19.11.2002

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