- Was wußte die Regierung - zum Thema 'Wahlbetrug' - Popeye, 22.11.2002, 10:37
Was wußte die Regierung - zum Thema 'Wahlbetrug'
-->Was wußte die Regierung?
Antworten von einem, der es
wissen mußte
Amtshilfe für die Untersuchungskommission
Wahlbetrug - Eine Recherche
Schwer, in Berlin einen zu finden, der auspackt. Sie alle
reden vor jedem Mikrofon. Doch keiner von der Regierung
traut sich zu sprechen. Jede unbedachte oder bedachte
Äußerung kann zu Untersuchungsausschüssen führen. Wer
wußte wann was und wieviel über die wirkliche
wirtschaftliche Lage des Landes? Selbst gesinnungstreue
Journalisten machen die Erfahrung, nichts zu erfahren.
Lieber bedröhnt man in Berlin die Ã-ffentlichkeit mit der
Langatmigkeit von Kommissionen, wo viele durcheinander
reden und keiner die Verantwortung hat.
"Das Ausmaß der Resignation in der Bevölkerung wächst
täglich", sagt ein Kenner der Verhältnisse. Die Abwanderung
beunruhige in der Regierung keinen, sagt er. Die, die, gehen,
werden dann ja auch niemanden mehr abwählen. Die Alten,
die kein Interesse an Veränderungen haben können, liegen
im Interesse der Regierung.
Der das sagt, gehört zu den anerkanntesten
Wirtschaftsexperten des Landes. Einst war er sogar für
Konservative eine Hoffnung. Dann wurde er aus dem
Parlament vertrieben. Die Seinen werfen ihm Verrat vor.
Die Gegner berufen sich auf seine Aussage. Denn wenn
einer weiß, was los ist, dann er. Er war bei allen
Verhandlungen dabei. Alle zählten auf sein Urteil. Ein Linker
zwar irgendwie, aber einer der ohne Ideologie"zur Sache
redet". Nicht nur Gerhard Schröder suchte seinen Rat,
Lambsdorff schätzt ihn, Lafontaine lobte ihn und sogar
Helmut Schmidt adelte ihn, durch die Bemerkung, einen
solchen Mann hätte er damals in sein Kabinett geholt.
Er will schonungslos sein. Wie kann es geschehen, daß selbst
gesetzte ältere Professoren aus Protest gegen die Lage auf
die Straße gehen wollen? Wieso verlassen gerade die Besten
der Besten, die Jungen, die Flexiblen, wenn sie es irgend
können, das Land? Wie muß man sich eine Regierung
vorstellen, die angesichts der Krise die Frage der
Kostenerhöhung bei Schnittblumen diskutiert? Unser
Gewährsmann stand für ein Interview zur Verfügung.
1. Wer wußte was?
Der erste Themenbereich galt der Frage, wer wann
Bescheid wußte. Befremden löst aus, daß die Regierung so
tut, als sei ihr das Ausmaß des Staatsbankrotts bis zum
November verborgen geblieben.
Frage:"Ihnen lagen doch die Zahlen vor, warum haben Sie
keinen Alarm geschlagen?".
Antwort:"Die Zahlen lagen allen vor". Und eigentlich seien
sich alle schon im Sommer einig gewesen, daß in der
Wirtschaftspolitik Grundsätzliches zu verändern sei."Wenn
es konkret wird, will niemand Abstriche aus Furcht vor den
Folgen zulassen. Vor allem darf an dem Kurs der Einheit von
Wirtschafts- und Sozialpolitik nichts geändert werden, selbst
wenn es um Preise für Blumen geht."
2. Wie tickt die Regierung?
Hier ging es um die Frage, worin eigentlich der
entscheidende Denkfehler des Systems besteht, und wie ihn
jemand, der die Handelnden aus der Nähe kennt, einordnet.
Frage:"Was läuft im einzelnen falsch?"
Antwort:"Es gibt mehrere kardinale Fehler. Dazu gehört die
bedingungslose Einordnung der Wirtschaft als Instrument der
Sozialpolitik, ohne die Interessen der Wirtschaft und deren
Reproduktionsbedürfnisse ausreichend zu beachten.
,Wirtschaft als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck',
hieß es nach dem Parteitag. Ich ahnte damals noch nicht,
welche schwerwiegenden Folgen die starre und dogmatische
Handhabung dieses zunächst gut klingenden Grundsatzes
haben würde. Große Teile des Volkseinkommens werden
schon umverteilt, bevor es erwirtschaftet wird."
3. Warum tut niemand was?
Der nächste Komplex dreht sich um die Frage, warum, wenn
man die Krise erkannt hat, niemand etwas tut.
Frage: Warum tut niemand etwas Entscheidendes gegen das
drohende ökonomische Desaster des Landes?
Antwort:"Es wären grundsätzliche Korrekturen an der
Gesamtpolitik erforderlich, eben nicht nur an der
Wirtschaftspolitik. Aber die Frage,Was tun' wird einseitig
auf die Sozialpolitik zugespitzt. Dies würde eine Senkung des
Lebensstandards infolge zurückgehenden wirtschaftlichen
Wachstums bedeuten."
Zwischenfrage:"Aber es wäre richtig?"
Antwort:"Dieser Weg scheidet nach der vorherrschenden
Meinung aus, weil die politischen Folgen sozialer Instabilität
nicht kalkulierbar sind."
Frage:"Warum ist es nicht gelungen, Ihre Widersacher
davon zu überzeugen, daß ein Land nicht über seine
Verhältnisse leben kann?"
Antwort:"Den möchte ich sehen, der das anderen
klarmachen kann".
4. Wo ist der Ausweg?
Hier geht es schließlich um die Auswege aus der Krise.
Unser Gewährsmann stellt sich im Laufe des Gesprächs
immer selbstbewußter als wirtschaftspolitischer Dissident der
Regierung dar. Was wollte denn er?
Frage:"Warum blieb die Kritik folgenlos?"
Antwort:"Das dürfen Sie mich nicht fragen." Unser
Gewährsmann erinnert daran, daß er schon vor Jahren"an
der Spitze einer großen Reformbewegung" gestanden habe.
"Sie ist auf Eigeninitiative, Dezentralisierung, Leistungsprinzip
gerichtet.""Leider", so schließt er resigniert ("Es reißt mir
das Herz kaputt"),"fehlt der politische Wille zur
konsequenten Verwirklichung dieser Ideen."
Was jetzt kommt, wissen wir. Die Unzufriedenheit wächst.
Die Abwanderung nimmt zu. Die Leute gehen auf die
Straße. Die Regierung, die die Kameras so scheute, und viel
redet, ohne was zu sagen, ruiniert sich mit einer legendären
Pressekonferenz. Als unser Gewährsmann stirbt, am 18.
März 1994, ist schon alles vorbei. Günter Mittag, Träger von
nicht weniger als 126 in- und ausländischen Orden, oberster
Wirtschaftslenker der DDR, wird in Berlin beigesetzt. Drei
Jahre zuvor gab er dem"Spiegel" ein Interview. Wir haben
es hier nur in die Gegenwartsform überführt, ansonsten, wie
Bismarck von der Emser Depesche sagte, fast"ohne ein
Wort hinzuzusetzen oder zu ändern, auf die vorstehende
Fassung" gebracht.
Was folgt aus der Rekonstruktion? Entweder benutzen wir
die falsche Sprache für die Ã-konomie der Krise. Oder die
Frage, was zurückbleibt, wenn die alte Bonner
Bundesrepublik einst von den Stränden der Zivilisation
zurückweicht, ist zu beantworten: es bleibt eine neue DDR
zurück, item eine demokratische DDR ohne SED. Bewaffnet
mit dem historischen Fernblick können Spätere zwischen den
verlorenen Illusionen des Günter Mittag und den unseren
womöglich kaum noch einen Unterschied feststellen. Die
Krise jedenfalls beschreiben wir, wenn es um die Frage der
Wirtschaftspolitik geht, in den gleichen Parametern.
Um daraus die Konsequenzen zu ziehen, muß man nicht auf
die Barrikaden oder die Straßen gehen. In einem totalitären
Obrigkeitsstaat lassen sich symbolische Handlungen leichter
vollziehen als in einer Demokratie. Aber die Abwesenheit
von Symbolen bedeutet nicht die Abwesenheit dessen, was
sie anzeigen. In unserem Fall: eine sehr große Krise. Die
Revolution, die jetzt not tut, fordert vom Land ein zweites
1989.
FRANK SCHIRRMACHER
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.11.2002, Nr. 272 / Seite 37

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