- Gnade, Gott und Soziale Gerechtigkeit - Popeye, 25.11.2002, 15:36
- Gnadenlos gut. Danke. (owT) - Zardoz, 25.11.2002, 17:25
Gnade, Gott und Soziale Gerechtigkeit
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In der FAZ Sonntagszeitung war ein - wie ich finde - bemerkenswerter Beitrag zum Thema ‚soziale Gerechtigkeit'. Leider war der Artikel bei der FAZ nicht gepostet und ich mußte mir die Originalfassung erst beim Autor direkt besorgen.
die folgende Fassung ist die Original-Fassung, die FAZ-Fasssung ist
eine Kürzung.
Grüße
Alexander Schuller
Gnade, Gott und Soziale Gerechtigkeit
Auf dem SPD-Parteitag in Leipzig am 17. April 1998 bekennt Oskar
Lafontaine,"daß wir tatsächlich ein anderes Deutschland wollen, ein
Deutschland, das Modernität und Innovation will, aber auch soziale
Gerechtigkeit." Und Gerhard Schröder, inzwischen erfolgreicher
Bundeskanzler, meldet am 13. September 2000 in der Haushaltsdebatte
vor dem Bundestag Vollzug."Wir haben diese Gesellschaft sozial
gerechter gemacht.... Es ist uns gelungen, Modernität in unserer
Gesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden." Wie es sich
zeigt, ist das Gelingen allseitig, denn"Es ist der CDU auch
gelungen,... soziale Gerechtigkeit in den Augen der Menschen zu
verkörpern." (Angela Merkel in der Welt am Sonntag, 6.1.2002). Diese
offen formulierten Bekenntnisse zur Sozialen Gerechtigkeit bringt
Roland Claus auf der 3. Tagung des 7. Parteitages der SED am 16. und
17. März 2002 in Rostock auf den inhaltlichen Nenner:"Wir wollen
aber nicht nur soziale Gerechtigkeit im Inneren der Gesellschaft. Wir
wollen soziale Gerechtigkeit auch weltweit, also auch zwischen den
Völkern. Unser Markenzeichen heißt ``Soziale Gerechtigkeit in Ost und
West!``. Das sollen in der Tat alle wissen. Erst wenn der erste
Milchbauer in Nordfriesland morgens früh um 4.00 Uhr und der letzte
Kneipengänger im Allgäu auch morgens früh um 4.00 Uhr verstanden hat,
daß PDS und soziale Gerechtigkeit zusammengehören - erst dann ist
unser Wahlkampf gut gewesen. Daran müssen wir noch arbeiten. Ich habe
natürlich weder den Milchbauern noch den Kneipengänger in irgendeiner
Weise diskriminiert."
Alles klar: alle sind für und verkörpern sogar"Soziale
Gerechtigkeit", aber keiner, außer der SED, weiß, was das ist: das
strategische Bündnis nämlich von Milchbauer und Kneipenbesucher. Aber
der Schwachsinn ist hier historische Notwendigkeit."Soziale
Gerechtigkeit" ist der Firnis auf jener uralten Maske, hinter der
sich das Interesse verbirgt. Wenn von"Sozialer Gerechtigkeit" die
Rede ist, dann wissen wir, ist von Klientenpolitik, von irgendeiner
Bevorzugung, von irgendeiner Benachteiligung die Rede, von dem
Gegenteil dessen, was Gerechtigkeit ist. Gerechtigkeit aber ist
niemandes Diener."Soziale Gerechtigkeit" hat einen doppelten, einen
dunklen Boden.
Der Begriff der"sozial" genannten Gerechtigkeit verschärft und
verwischt zugleich den Sinn von Gerechtigkeit. Wir werden damit in
ein Verwirrspiel gezogen, in dem Logik, Wirklichkeit und Ideologie
unlösbar verquickt sind. Mit der vehement"sozial" genannten
Gerechtigkeit wird Gerechtigkeit parteilich, unkalkulierbar,
ungerecht. Das suggeriert eine"unsoziale" Gerechtigkeit, die dann
insgeheim die wirkliche Gerechtigkeit wäre. Das Paradox verrät uns
das Geheimnis: die"Soziale Gerechtigkeit" ist ungerecht, die - nie
so genannte -"Ungerechte Gerechtigkeit" ist die gerechte. Und
welchen Namen hat in unserer langen ideengeschichtlichen Tradition
diese ungerechte Gerechtigkeit, die offenbar doch die wahrhaft
gerechte ist? Solange wie wir diese Frage nicht beantworten, wird die
"Soziale Gerechtigkeit" pragmatischer Nützlichkeit und vielfältiger
Exegese anheimgegeben bleiben. Das ist so lange belanglos, wie
"Soziale Gerechtigkeit" nicht zu einem handlungsrelevanten
Schlüsselbegriff aufgestemmt wird. Das wird sie aber."Soziale
Gerechtigkeit" ist längst zum zentralen innenpolitischen und sogar
außenpolitischen -"Entwicklungspolitik" genannt - Begriff
aufgestiegen. Sowohl christliche als auch - in deren Nachfolge -
marxistische Systeme definieren und implementieren mit der der
"Sozialen Gerechtigkeit" ihr eigenes Weltbild. Soziale Gerechtigkeit
wird dabei zu jenem Impuls reduziert, der das Lebendige haßt und das
Schwächlige liebt. Wer das Bruttosozialprodukt vermehrt, wird
behindert, wer es mindert, wird gefördert. Der Tätige wird
kritisiert, das vermeintliche Opfer geliebt. Wer sich eigene Kinder
leistet, muß dafür auch Fremde mit Rente versorgen. Ihren Ursprung
hat dieses Denken in der christlichen"caritas". Das mittelalterliche
Hospiz, das heutige Krankenhaus, ist dessen Institutionalisierung und
St. Martin von Tours seine auf vielen Postkarten verkaufte Ikone.
Dessen Begriffsregister umfaßt: Liebe und Barmherzigkeit, Solidarität
und Subsidiarität als Derivate christlichen, Befreiung von
ökonomischer Unterdrückung und Klassenkampf als Derivate
marxistischen Gedankenguts. Erst mit der Entstehung des liberalen
Betreuungsstaates erwuchs die Notwendigkeit,"Soziale Gerechtigkeit"
auch jenseits von christlicher Tradition und marxistischer Revolution
zu begründen und zu legitimieren. Genau darin bestand der Versuch des
im Elfenbeinturm weltbekannten John Rawls mit seiner 1971 verfaßten
folgenreichen"A Theory of Justice". Auch unser vielbelesener Jürgen
Habermas meint, daß"Rawls` Theorie der Gerechtigkeit.....zu einem
unter Staatsbürgern geführten Diskurs" die demokratische Grundlage
darstelle.(Habermas, Jürgen - Moralbewußtsein und kommunikatives
Handeln. Frankfurt, stw 422, 1983, S.104)
Mit diesem Buch wurde die intellektuelle und politische Problematik
der"Sozialen Gerechtigkeit" allerdings erst offenkundig. Soziale
Gerechtigkeit sollte dem liberalen Geist der amerikanischen
Demokratie geöffnet werden und zeigte doch, daß sie ihren archaischen
Bindungen nur unter falschen Vorzeichen zu entwinden ist. Die
Tradition, der der Begriff der sozialen Gerechtigkeit entspringt,
verweigert sich einer liberalen und logischen Rekonstruktion, wie sie
Rawls so brav versucht.
Auch die christliche Soziallehre eines Nell-Breuning kann ihrem
eigenen Anspruch nicht genügen, den Gedanken der caritas als eine
Form der sozialen Gerechtigkeit für den modernen Staat zu retten.
Der amerikanische Diskurs ist der Versuch, den"New Deal" zu
fundieren, mit dem F.D. Roosevelt 1932 den Sieg im Kampf um die
Präsidentschaft errang. Das Gerechtigkeitskonzept des"New Deal" war
damals und ist noch immer ein Fremdkörper im"American way of Life".
Es handelte es sich um einen ad hoc-Sozialismus, auf der Suche nach
einer Theorie und um Intellektuelle auf der Suche nach einer
politischen Basis. Man muß die von John Rawls gelieferte" Theory of
Justice" als den Nachtrag zu einem 40 Jahre alten innenpolitischen
Ereignis verstehen, einem Nachtrag allerdings, der sich nicht als
Fortführung einer über Jahrhunderte gewachsenen Denktradition
verstand, sondern als einen sozialphilosophischen Ansatz ohne
normativen Grund und ohne ideengeschichtlichen Boden. Die Intention
und die Implikation des Konzepts von"distributive justice", wie
soziale Gerechtigkeit bei Rawls gefaßt wird, basiert auf der Annahme,
daß soziale Gerechtigkeit sowohl vernünftig, als auch möglich sei. Es
fragt nicht, aus welchen geschichtlichen und transzendenten Tiefen
sie zu uns emporgestiegen ist.
Auch unser, das deutsche Verständnis von sozialer Gerechtigkeit - ob
christlich oder sozialistisch - erliegt möglicherweise dem gleichen
Mißverständnis. Im Deutschen markiert Soziale Gerechtigkeit den
billigen Endpunkt eines Diskurses, an dessen Quelle nicht nur der
Gedanke der Barmherzigkeit, sondern tiefer und düsterer der Begriff
der Gnade sich verbirgt: erst der Gnade Gottes, dann die des Gnädigen
Herrn von Bismarck, dann die des großdeutschen Führers, dann die des
Staatsratsvorsitzenden"Unserer Deutschen Demokratischen Republik",
schließlich die Gnade unserer Ulla Schmidt. Da heißt sie dann längst
nur nur noch"Soziale Gerechtigkeit". Die Gier nach den Gaben des
Sozialstaats ist so grenzenlos, weil in dessen Urgrund der Funken
göttlicher Gnade zu lauern scheint. Daß der Sozialstaat 1881 mit der
Bismarck`schen Gesetzgebung begann, ist schon richtig, noch richtiger
ist aber, daß christliche caritas und feudaler Paternalismus ihm
vorangingen. Die seither entscheidende Frage lautet: lassen sich
Gnade zu caritas und caritas zu"Sozialer Gerechtigkeit"
säkularisieren und totalisieren. Von Anfang an waren Gnade und Gott,
Gerechtigkeit und Gehorsam, Herr und Knecht die beiden Seiten jenes
"contrat social", der davor schon ein"contrat eternel" war. So
verstanden betrieben sowohl der Nationalsozialismus als auch der
Kommunismus den Begriff der"Sozialen Gerechtigkeit" eben auch als
contrat eternel, als verzweifelte Erlösungs-Utopie: Mit Massenmedien,
wie Rundfunk und Fernsehen, mit Massenorganisationen, wie GST
(Gesellschaft für Sport und Technik) und KdF (Kraft durch Freude),
mit Massenveranstaltungen von Sport und Reisen und Unterhaltung, mit
Massenfürsorge, mit Massenvorsorge, mit Massenversorgung, - mit
Massenvernichtung als der totalitären Radikalisierung von sozialer
Gerechtigkeit. Als eschatologische Vollstrecker der sozialen
Gerechtigkeit auf deutschem Boden traten sowohl die NSDAP als auch
die SED auf: als Gnade von oben und Gehorsam von unten.
Die Differenz zwischen Gnade und Gerechtigkeit ist kategorial.
Gerechtigkeit ist ein intellektuelles Konstrukt. Es beansprucht
differenziert und vernünftig, überprüfbar und widerlegbar zu sein,
Gnade aber entzieht sich jeglicher Säkuralistion. Was beide - Gnade
und Gerechtigkeit - verbindet ist Herrschaft. Gerechtigkeit meint das
Gespräch der Menschen miteinander, Gnade den göttlichen Monolog.
Sowohl Otto von Bismarck als auch Adolf Hitler, als auch Walter
Ulbricht, als auch Ulla Schmidt sind in je unterschiedlicher Weise
Nutznießer eines uralten Vorverständnisses von sozialer
Gerechtigkeit, als einer gläubigen Hoffnung, die allen materiellen
Gaben einen transzendenten Sinn verleiht. Der durch die verdeckten
und verdreckten Hüllen des Säkularisationsprozesses kaum noch
erkennbare Kern der sozialen Gerechtigkeit heißt Gnade. Gnade aber
ist nicht einklagbar. Jetzt, da der Sozialstaat zerfällt, erkennen
die Deutschen diese göttliche Wahrheit. Soziale Gerechtigkeit ist das
Gegenteil von Gerechtigkeit. Dabei bekommt jeder, was er nicht
verdient. Wer auf Gnade baut, baut auf einen gnadenlosen, jedenfalls
durch und durch calvinistischen Gott:"Und Adam erkannte sein Weib
Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe
einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel,
seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein
Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem HERRN
Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von
den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah
gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht
gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da
sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst Du?" (Genesis 3.4,1-3.4,6).

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