- Bemerkenswert... nicht ganz zu Ende gedacht...aber in Ansätzen gut. - Mat72, 26.11.2002, 13:18
Bemerkenswert... nicht ganz zu Ende gedacht...aber in Ansätzen gut.
-->November ist eigentlich ein prima Monat für eine Revolution. 1918
ging es im November los, die DDR wurde im November ins Grab gestoßen
und selbst die Oktoberrevolution war ja bekanntlich eine
Novemberrevolution, weil die Russen es nicht mit dem julianischen
Kalender hatten. Es wäre also Zeit. Gründe gibt es genug. Worauf
warten wir?
Um noch mal kurz zusammenzufassen: Am Mittwoch hat der
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung der Bundesregierung ein Papier überreicht, in dem im
wesentlichen steht, daß die Bundesregierung wirtschaftspolitisch
nicht nur alles verkehrt macht, was man verkehrt machen kann,
sondern sogar noch Sachen gefunden hat, von denen man bisher gar
nicht wußte, daß man sie verkehrt machen kann. Die im Volksmund
"fünf Weise" genannten Experten waren so hilfsbereit, es nicht bei
der bloßen Katastrophenbeschreibung zu belassen. Sie lieferten
gleich ein"Zwanzig-Punkte-Programm für Beschäftigung und Wachstum"
mit, in dem ziemlich genau beschrieben steht, was eine Regierung tun
müßte, die ein ernsthaftes Interesse daran hätte, das Land vor dem
Abschmieren in die Zweite Welt zu bewahren. Mit dem Programm wird
das Rad nicht neu erfunden. Es handelt sich lediglich um die
terminologisch tiefergelegte, weil in Wirtschaftswissenschaftlerprosa
gegossene Fassung jener Weisheiten, die in groben Zügen etwa
dem Schröder-Blair-Papier von 1999 zu entnehmen waren.
Aber selbst das muß niemand gelesen haben, um zu
wissen, woran es in diesem Lande krankt. Wenn man heute einer
zufälligen Auswahl von Besuchern eines durchschnittlichen deutschen
Schankraums ein fellbezogenes RTL-2-Mikrophon vor die Bierkrüge
hielte und fragte, welche Reformen in diesem Lände notwendig seien,
beinhaltete die mehrstimmige Antwort mit ziemlicher Sicherheit:
Lohnnebenkosten senken, Arbeitsmarkt flexibilisieren, Bürokratie
verringern, Gesundheits- und Rentensystem erneuern. Man kann es als
Bildungsfortschritt betrachten, daß das volkswirtschaftliche
Grundwissen der Allgemeinheit wächst, je länger sich die Regierung
weigert, das Notwendige zu tun. Denn so wird das längst Bekannte
immer wieder öffentlich wiederholt. Aber fragen müssen wir uns
schon, warum wir offenbar die begriffsstutzigsten Nachhilfeschüler
an die Regierung gewählt haben. Sind wir ein Volk von Menschen, die
auf Geburtstagsfeiern dem Besoffensten den Autoschlüssel in die Hand
drücken, um uns nach Hause zu fahren? Ist unsere Lust am Untergang
derart ausgeprägt? Warum zitieren auf einmal alle genüßlich Passagen
wie diese:"Thomas Buddenbrook fuhr fort, gebrochenen Auges die
Lippen zu bewegen und gurgelnde Laute auszustoßen. Die Dämmerung
fiel ein." Die Veröffentlichung der Ratschläge der fünf Weisen (von
denen drei SPD-Mitglieder sind) kommentierte Wirtschafts- und
Arbeitsminister Wolfgang Clement mit dem Satz, die geforderten
einschneidenden Maßnahmen seien"nicht gegen den Widerstand
wichtiger gesellschaftlicher Gruppen" durchzusetzen. Die
hartnäckigste gesellschaftliche Widerstandsgruppe ist allerdings die
Regierung selbst. Daß der scherzhaft"Super"-Minister genannte
Clement mit dieser Aussage wenige Wochen nach seiner Ernennung vor
seiner Aufgabe kapituliert hat, ist bisher niemandem aufgefallen.
Das mag daran liegen, daß es in den vergangenen Tagen nicht mangelte
an verstörenden Aussagen, die den Verdacht aufkommen lassen, in
Berlin müsse eine Substanz im Umlauf sein, die besser wirkt als
Prozac oder vergleichbare Stimmungsaufheller. Denn bei den wenigen
Menschen, die derzeit nicht depressiv gestimmt sind, handelt es sich
um Regierungsmitglieder oder Gewerkschaftsfunktionäre. Die
Wirklichkeitswahrnehmung dieser Randgruppe unterscheidet sich klar
vom Rest der Bevölkerung. Der erholungsbedürftige Bundeskanzler
wähnt, seine Regierung verfolge einen"Konsolidierungskurs" und"sei
dabei", die"angemahnten Reformen" vorzunehmen. Daß Kanzler
irgendwann die Welt nicht mehr sehen wie sie ist, sondern so, wie
sie sie wollen und sich vorstellen, ist eine übliche deformation
professionelle. Bei Kohl vollzog sich diese Blicktrübung langsam und
stetig über 16 Jahre, bei Schröder scheint sie schon nach vier
Jahren vollendet. Auch SPD-Generalsekretär Olaf Scholz sieht Dinge,
die nur er sehen kann: zur Sicherung des Rentensystems seien nur
"Einzelmaßnahmen" notwendig, träumt er laut und prophezeiht:
"Jeder kann sicher sein, daß in 20 Jahren die Kaufkraft der Rente höher
sein wird als heute." Hätte er versprochen, daß es im Jahre 2022 für alle
Rentner regelmäßig Marmeladetoasts ohne Kruste regnet, man hätte ihm nicht
weniger Glauben geschenkt. Verdi-Chef Frank Bsirske, dessen Name klingt
wie eine angezogene Handbremse, frohlockte: Wer das Problem der
Lohnnebenkosten ernst nehme, sitze"der Propaganda aus der
Wirtschaft auf". International stehe Deutschland
vergleichsweise"sehr gut" da. Kollege Michael Sommer, dessen DGB die
Vorschläge des Sachverständigenrates als"schädlich für Deutschland"
erkannt hatte, bewährte sich derweil als Gute-Laune-Onkel auf den
"Deutschland in der Krise"- Sonderseiten der"Bild"-Zeitung. Sommers
Einschätzung:"Eine Krise haben wir (noch) nicht."
Hier kann etwas nicht stimmen. Das lehrt ein Blick in die Auslandpresse.
Hätten wir nur eine leichte Krise, wären die Engländer schadenfroh. Aber
inzwischen machen sie sich ernste Sorgen. Der Guardian stellte am Freitag
fest, Deutschland sehe mehr und mehr aus"wie Großbritannien vor zwanzig
Jahren". Ein Kommentar im österreichischen"Standard" forderte am Freitag
den Abschied vom deutschen Modell, um zu verhindern,"daß wir als
Anhängsel Deutschlands mit in den Abgrund gezogen werden". Und
hierzulande? Nicht viel. Ein leichtes Murren im Blätterwald, mehr nicht.
Die Generation, deren Zukunft die rot-grüne Regierung im Begriff ist, zu
zerstören, muckt nicht auf. Am vergangenen Montag stellte die
Heute-Journal-Moderatorin Marietta Slomka dem Rentenexperten Bernd
Raffelhüschen von der Universität Freiburg in etwa folgende Frage:"Was
bedeuten denn die Beschlüsse der Bundesregierung für meine Generation der
Dreißig- bis Vierzigjährigen. Heißt das, wir werden immer mehr einzahlen,
aber kaum noch etwas herausbekommen?" Raffelhüschen antwortete sinngemäß:
"Ja, genau das bedeutet diese Politik." Frau Slomka sagte daraufhin so
etwas wie"aha, interessant" und leitete über zum nächsten Thema:
CDU-Parteitag.
Nun ist es von einer zu relativer Objektivität verpflichteten Moderatorin
eines Nachrichtenmagazins zuviel verlangt, daß sie an dieser Stelle vor
Empörung laut aufschreit. Aber daß es sonst im Lande kaum jemand tut, ist
bedenklich. Diese Regierung ist für dieses Land in etwa so segensreich wie
ein Luftangriff, aber wir zucken nur mit den Achseln. Eigentümlich
indifferent beobachten wir eine tiefe Krise unseres politischen Systems,
deren deutlichster Ausdruck die Kommissionshuberei ist. Hier dürfen
manische Partikularinteressenvertreter längst durchdachte politische
Lösungen so lange zerreden, bis man sich als Minimalkompromiß auf die
Herausgabe eines wirkungsfreien Mantras einigt:"Hartz eins zu eins
umsetzen." Hare hare. Rama rama.
Verloren ist dagegen jede noch so vage Vorstellung eines"Gemeinwohls".
Was ist das, unser gemeinsames Wohl? Eine Leerstelle, die sich offenbar
nicht mehr emphatisch besetzen läßt - vielleicht auch, weil der
diskreditierte Begriff der Nation dafür scheinbar nicht mehr in Frage
kommt. An deren Stelle ist der Sozialstaat getreten. Den aber zeichnet
gerade aus, daß man nichts für ihn tun mag: Man liegt ihm bloß auf der
Tasche. Auch deshalb ging Schröders Versuch, den Kennedy zu geben, schon
syntaktisch ins Leere. Während Kennedy nämlich sagen konnte:"Ask what you
can do for your country", kann Schröder nur noch stammeln:"Es geht nicht
darum, nur das zu sagen, was nicht geht. Fragen wir uns, was jede und
jeder einzelne von uns dazu beitragen kann, daß es geht." Nicht mehr du
sollst dich fragen, was du für dein Land tun kannst, sondern irgendwelche
einzelne sollen sich fragen, ob irgendwas geht. Das geistige Vakuum dieser
Aussage hat Angela Merkel hübsch markiert, als sie in ihrer Riposte
fragte:"Was ist es?" Schröders Appell verfehlt schon deshalb seine
Wirkung, weil er sich mit einem Achselzucken abtun läßt:"Es wird schon,
denn es muß ja." Wo es war, wird nichts werden.
Fragt man einige Leute, was ihrer Meinung nach mit Deutschland in 100
Jahren sein wird, antworten die Pessimisten: Es wird dieses Deutschland so
nicht mehr geben, weil nicht wir, sondern die Migranten die Kinder
bekommen haben. Die Optimisten antworten: Es wird uns nicht mehr geben,
weil wir uns in Europa integriert haben. Beide Visionen beschreiben eine
Auflösung der Gemeinschaft. Von einem Volk aber, das sich vorstellt, es
löse sich in Zukunft auf, kann man nicht ernsthaft erwarten, daß es sich
in irgendeiner Form für diese Zukunft engagiert.
"In diesem unserem Lande" war eine Wendung, die Helmut Kohl zu Beginn
seiner Kanzlerschaft gern und oft benutzte. So oft, daß ihr bloßes Zitat
irgendwann als kabarettistische Pointe ausreichte. Daß in diesem
wohlfeilen Gelächter in Wahrheit der Sinn für das gemeinsame Ganze
erstarb, hat niemand sehen wollen. Wenn wir heute so teilnahmslos einer
Regierung dabei zusehen, wie sie das Land ruiniert, liegt das auch daran,
daß wir von diesem, unserem Lande keinen Begriff mehr haben.
Daher klingt es auch eher wie ein leises Flehen, wenn die"Bild"- Zeitung
titelt:"Steuern, Schulden, Arbeitslose - Macht unser Land nicht kaputt!"
Und nicht wie der zornige Aufschrei, der es sein müßte."Wenn die
Deutschen bei ihrer Revolution einen Bahnhof besetzen wollen, dann kaufen
sie sich vorher eine Bahnsteigkarte", sagte Lenin, und er hatte nicht
unrecht. Insofern ist auch das neue kundenverachtende Tarif- und
Reservierungssystem der Deutschen BahnAG ein ernsthaftes
Revolutionshindernis. Sonst fiele es leichter zu sagen: Wir treffen uns
nächsten Samstag um zwölf Uhr. Vor dem Kanzleramt.

gesamter Thread: