- Von der Rückkehr der Moral in die Philosophie - John Rawls gestorben - Popeye, 27.11.2002, 17:10
Von der Rückkehr der Moral in die Philosophie - John Rawls gestorben
-->John Rawls starb am im Alter von 81 Jahren in Lexington, MA, USA.
Sein Buch 'Eine Theorie der Gerechtigkeit' (1971) wurde weltberühmt.
Hier ein Nachruf aus der NZZ von heute.
Realistische Utopie des Liberalismus
Zum Tod des Philosophen John Rawls
John Rawls gehört zu der kleinen Gruppe
bedeutender politischer Philosophen des 20.
Jahrhunderts. Seine Konzeption der Gerechtigkeit
als Fairness, die er in «A Theory of Justice»
(1971) in systematischer Ausführlichkeit
entwickelt und in einer Vielzahl von Aufsätzen
modifiziert hat, gilt als einflussreichste politische
Theorie der Gegenwart. «Political Liberalism»,
Rawls' zweites Hauptwerk (1993), ist zum
Bezugspunkt einer Debatte über die Grundlagen
demokratischer Verfassungsstaaten geworden. -
John Rawls ist am 24. November in Lexington
(Massachusetts) 81-jährig verstorben.
Gerechtigkeit als Fairness ist die Leitidee der Rawls'schen
Theorie. Gerecht ist eine Gesellschaft dann, wenn die sie
tragenden Institutionen von Grundsätzen geleitet werden, die ihre
Bürger selber für sie festlegen würden, faire Bedingungen der
Freiheit und Gleichheit vorausgesetzt. Zur paradigmatischen
Gerechtigkeitstheorie unserer Zeit wurde die Rawls'sche Theorie
aber nicht durch die ja bereits ehrwürdig ergraute Vertragsidee,
sondern durch deren entscheidungstheoretische Konkretisierung
mit Hilfe der Modellvorstellung des «Urzustandes». Rawls entwirft
folgende hypothetische Situation: Die Bürger einer Gesellschaft
kommen hinter einem «Schleier der Unwissenheit» zusammen, um
gemeinsam die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze für ihre
Gesellschaft zu bestimmen. Hinter dem Schleier weiss niemand,
wer er im wirklichen Leben ist, und keiner kann voraussagen, wie
sich die verschiedenen zur Wahl stehenden Grundsätze auf sein
eigenes zukünftiges Wohl auswirken würden. Der Schleier
verhindert, dass zufällige individuelle Interessenlagen und sozial
vorgegebene Kräfteverhältnisse die Entscheidung der Bürger im
Urzustand beeinflussen können. Er soll Fairness garantieren und
sicherstellen, dass sich die Interessen durchsetzen, die alle
Bürger als Bürger teilen.
Fairness
Allen geht es darum - so die «kontrafaktische» Grundannahme
des Modells -, in fairer Gegenseitigkeit rationale Lebenspläne
entwickeln, verfolgen und verwirklichen zu können. Dazu
benötigen sie gewisse «Grundgüter», zu denen elementare
politische und bürgerliche Grundrechte, bestimmte soziale
Privilegien, materielle Ressourcen und die sozialen
Voraussetzungen der Selbstachtung gehören. Die Bürger würden
sich hinter dem Schleier der Unwissenheit nach Rawls einstimmig
für zwei Grundsätze entscheiden: Der erste garantiert allen
Bürgern die gleichen politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten,
der zweite stellt soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten unter
die Bedingung, dass faire Chancengleichheit gewährleistet ist und
dass die Ungleichheiten sich auch zum Vorteil der am wenigsten
begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.
Rawls' entscheidungstheoretisches Argument für seine beiden
Grundsätze ist von verschiedenen Seiten früh und einschneidend
kritisiert worden. Nicht nur Rawls war in den fünfziger Jahren auf
die Idee gekommen, das Problem der Normbegründung als ein
Problem der rationalen individuellen Normenwahl unter
Bedingungen der Unsicherheit über die
Entscheidungskonsequenzen zu betrachten. Der
ungarisch-amerikanische Ã-konom John Harsanyi hatte 1955
einen ganz ähnlichen Ansatz vorgestellt, aus ihm freilich anders
als Rawls dezidiert utilitaristische Konsequenzen gezogen; und
auch Gordon Tullock und James Buchanan griffen 1961 in ihrer
Studie «The Calculus of Consent» auf ein Modell rationaler
individueller Entscheidungen unter künstlich geschaffenen
Bedingungen der Unwissenheit zurück.
Viele andere folgten und machten das entscheidungstheoretische
Modell zum dominierenden Paradigma der Normenbegründung in
den letzten fünf Jahrzehnten. Einer durch den Krieg geprägten,
nachpositivistischen Generation von Wohlfahrtsökonomen und
Moralphilosophen bot es die Möglichkeit, moralische Normen und
Werturteile nicht subjektivistisch zu verstehen, sondern rational
zu begründen. Auch erlaubte es ihnen einen ausserordentlich
fruchtbaren «Szientismus» in der Anwendung formal strenger
Methoden aus Wirtschafts-, Entscheidungs- und Spieltheorie auf
die lange Zeit schlecht beleumundeten «grossen» moralischen
Fragen. Vor diesem Hintergrund ist das Format der Rawls'schen
Theorie gut zu erkennen: Sie zeichnet sich durch einen alle
Konkurrentinnen übertreffenden inhaltlichen Reichtum aus und
durch die enorme systematische Kohärenz ihrer verschiedenen
Teiltheorien, die zu verbessern und zu modifizieren ihr Autor nicht
müde wurde.
Pluralismus
Rawls' Konzeption eines spezifisch politischen Liberalismus, sein
zweiter originärer Beitrag zur politischen Philosophie, setzt bei
dem für liberale Demokratien charakteristischen Pluralismus
religiöser, moralischer und philosophischer Lebenskonzeptionen
an: Die Vielfalt von Auffassungen über das für den Menschen
letztlich Gute kann nicht ausschliesslich auf die beachtliche
Anfälligkeit unserer Gattung für Irrtümer und Schimären
zurückgeführt werden. Angesichts der unbestimmten Vielzahl von
Möglichkeiten, das eigene Leben in Gemeinschaft mit anderen zu
gestalten, ist der Pluralismus das natürliche und nicht zu
bedauernde Ergebnis des menschlichen Vernunftgebrauchs in
einer freiheitlichen Gesellschaft. Diese Einsicht, die auch für
Isaiah Berlin bestimmend war, ist der Grundstein von Rawls'
politischem Liberalismus.
Pluralismus bedeutet keine simple Vielzahl grösstenteils falscher
Meinungen, sondern ist, zumindest potenziell, der vernünftige
Pluralismus einer Mehrzahl rational vertretbarer, aber in ihrer
Ganzheit inkompatibler Lebensauffassungen. Dem muss eine vom
Vertragsgedanken ausgehende Gerechtigkeitstheorie Rechnung
tragen. Sie muss gewissermassen «metaphysisch freistehend»
sein und einen übergreifenden Konsens aller «vernünftigen»
religiösen, moralischen und philosophischen Lehren anstreben,
auch wenn diese einander in vielen grundlegenden Punkten
widersprechen mögen.
Lebensweg
John Rawls wurde 1921 in Baltimore im amerikanischen
Bundesstaat Maryland geboren. Sein Vater war ein erfolgreicher
Rechtsanwalt in einer angesehenen Kanzlei der Stadt. Beide
Eltern waren politisch aktiv. Die Mutter kämpfte für die
Gleichberechtigung der Frau; der Vater galt eine Weile als
möglicher Kandidat für den Senat der Vereinigten Staaten. Rawls
studierte ab 1939 zunächst am College in Princeton und nach
dem dreijährigen Kriegsdienst ab 1946 an der dortigen
Universität. Zu den für seinen Werdegang wichtigen
akademischen Lehrern zählte der Wittgenstein-Schüler Norman
Malcolm. 1950 schloss Rawls sein Philosophiestudium mit der
Promotion ab. Sein Dissertationsthema war die moralische
Beurteilung menschlicher Charaktereigenschaften. Das
Studienjahr 1952/53 war für Rawls' weitere Entwicklung prägend.
Er verbrachte es als Visiting Fellow in Oxford, wo er John Austin,
Isaiah Berlin, Stuart Hampshire und vor allem Herbert Hart
kennen lernte, der dort soeben den Lehrstuhl für
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie übernommen hatte und
dessen Seminare über Grundfragen der Rechtsphilosophie Rawls
inspirierten. Rawls war dann zunächst Assistenz- und später
Lebenszeitprofessor an der Cornell University und am MIT in
Cambridge, Massachusetts, bis er 1961 einem Ruf nach Harvard
folgte. Dort lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1991 zunächst
als Philosophieprofessor und ab 1979 ohne Lehrverpflichtung als
Nachfolger des Ã-konomen und Nobelpreisträgers Kenneth Arrow
in der Position eines Harvard University Professor.
John Rawls war ein bedeutender Philosoph, aber auch ein
bemerkenswerter Mensch. Keinesfalls ein brillanter Redner, im
Umgang mit Menschen scheu und mit einer leichten Neigung,
unter Anspannung zu stottern, entsprach er in keiner Weise dem
Bild, das man sich von einem erfolgreichen Harvard-Professor
macht. Überhaupt fehlte ihm jede Bereitschaft zu jener
professoralen Selbstinszenierung, die eine freie und fruchtbare
akademische Zusammenarbeit so sehr erschwert. Sein Verhalten
Kollegen, Schülern und Freunden gegenüber war von einer tiefen
Achtung und Freundlichkeit bestimmt - und von der Bereitschaft,
zuzuhören und zu lernen. Er sass dann, die Füsse ohne Schuhe auf
der Sofakante, einen Schreibblock gegen die Knie gestützt, in
seinem Arbeitszimmer in Emerson Hall und machte während der
langsam voranschreitenden Gespräche fortwährend Notizen,
deren Wortlaut er sich gelegentlich bestätigen liess. Ein, zwei
Tage später fand man diese Notizen überarbeitet und ergänzt als
Grundlage für weitere Gespräche im eigenen Postfach. Für die, die
ihn kannten, verkörperte John Rawls wie kaum ein anderer die
Einsicht, dass Philosophieren ein gemeinschaftliches
Unternehmen ist.
Wilfried Hinsch

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