- Die FAZ sieht 'tektonische Verschiebungen' - Popeye, 16.12.2002, 07:04
Die FAZ sieht 'tektonische Verschiebungen'
-->An den Finanzmärkten bahnen
sich tektonische Verschiebungen
an
Washingtons Strategiewechsel bringt Dollar unter
Druck / Euro-Renditen sinken auf mehrjähriges Tief /
Debatte über Deutschlands AAA-Note / Von Benedikt
Fehr
FRANKFURT, 15. Dezember. Er ist der mächtigste Mann
der Welt. Doch wenn die Wirtschaft nicht bald in Schwung
kommt, könnte er bei den Präsidentenwahlen im Herbst 2004
als"gewogen und zu leicht befunden" sang- und klanglos
abserviert werden. Um dieser Schmach zu entgehen, die
schon seinem Vater widerfuhr, hat George W. Bush seine
Wirtschaftsmannschaft ausgewechselt. Neue Leute sollen es
nun richten. Im Vorgriff haben die Finanzmärkte bereits
reagiert. Als spektakulärste Folge ist der Euro am Freitag auf
den höchsten Stand seit fast drei Jahren gestiegen. Ähnliches
gilt für den Preis der Ersatzwährung Gold. Für manche
Analysten ist dies erst der Auftakt einer"tektonischen
Verschiebung" in der Weltwirtschaft.
Entgegen den Erwartungen tritt die amerikanische Wirtschaft
immer noch auf der Stelle, wie die Analysten von Salomon
Smith Barney schreiben. Dabei hat die Notenbank den
Leitzins bereits drastisch auf 1,25 Prozent gesenkt, Bush
zudem das größte Konjunkturprogramm aller Zeiten
aufgelegt: So hat die Regierung nach einem Überschuß von
236 Milliarden Dollar im Haushaltsjahr 2000/2001 (Ende
September) im vergangenen Haushaltsjahr für 159 Milliarden
Dollar Kredite aufgenommen - ein"Swing" von fast 4
Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Bei der Notenbank (Fed)
beobachtet man voll Sorge, daß dies alles nicht recht wirkt.
Wie sich dem vergangene Woche veröffentlichten Protokoll
über die Sitzung Anfang November entnehmen läßt, hat sie
den Leitzins gesenkt, um dem Risiko"latenter Deflation"
vorzubeugen, wie es dort wörtlich heißt.
Soweit bisher bekannt, will Bush sein Heil in beträchtlichen
kreditfinanzierten Steuersenkungen suchen. Noch ist freilich
nicht klar, ob sein am Donnerstag ernannter
Wirtschaftsberater Stephen Friedman diesen Kurs
uneingeschränkt befürwortet. Denn Friedman, einem
früheren Chef der Investmentbank Goldman Sachs, ist klar,
daß Wall Street auf einen weiteren Anstieg des Defizits
sauer reagieren könnte: Kämen Inflationssorgen auf, würde
dies die Zinsen nach oben treiben - und wohl auch dieses
Konjunkturprogramm verpuffen.
Wie sensibel die Finanzmärkte reagieren, zeigte sich bereits
in der vergangenen Woche. Spekulationen, daß die neue
Mannschaft von der inoffiziellen Politik der Dollar-Stärke
Abschied nehmen dürfte, lösten prompt einen Abfluß von
Kapital aus dem Dollarraum aus. Das hat den Dollar
gegenüber allen wichtigen Währungen unter Druck gebracht,
den Euro mit 1,0257 Dollar auf den höchsten Kurs seit
Januar 2000 steigen lassen.
Für Thomas Mayer, Chefvolkswirt bei der Deutschen Bank
in London, würde eine Abkehr von der Politik der
Dollar-Stärke nur"politisch begleiten", was der Markt
ohnehin erzwingen würde. Denn das Strickmuster, nach dem
die Weltwirtschaft in den vergangenen Jahren funktionierte,
habe sich überlebt. Kennzeichen dieses Musters war, daß
Amerika mehr verbrauchte, als es selber produzierte - was
dem Rest der Welt exportgetriebenes Wirtschaftswachstum
ermöglichte. Bislang konnte Amerika die Warenimporte
problemlos durch Kapitalimport finanzieren. Doch beginnt
der Kapitalstrom in Richtung Amerika abzuebben. Erstens,
weil Ausländer schon vollgepumpt sind mit amerikanischen
Aktiva, zweitens, weil die Renditen auch in Amerika zu
wünschen übriglassen. Damit könnte das Pendel nun
zurückschwingen: Demnach stünde eine Periode bevor, in
der rückläufige Kapitalzuflüsse einen Abbau des
amerikanischen Außenhandelsdefizits erzwingen - mit
entsprechenden Folgen für die Kapitalströme an den globalen
Finanzmärkten sowie die Weltwirtschaft insgesamt.
Investoren mit langem Gedächtnis erinnert die Situation an
die achtziger Jahre, als das"Zwillingsdefizit" in Amerikas
Staatshaushalt und Leistungsbilanz den Dollar abwerten ließ.
Die Investoren, die sich in der vergangenen Woche aus dem
Dollarraum verabschiedeten, haben zunächst bevorzugt in
europäische Staatsanleihen mittlerer Laufzeit umgeschichtet.
Dadurch sind die Renditen für Papiere mit zwei- und
fünfjähriger Laufzeit zum Wochenschluß jeweils auf den
tiefsten Stand seit dem Frühjahr 1999 gefallen. Auch im
kommenden Jahr dürften zunächst wohl vor allem die
Euro-Anleihemärkte von Zuflüssen aus dem Dollarraum
profitieren. Denn die gedämpften Prognosen für das
Wirtschaftswachstum 2003 im Euro-Raum lassen wenig
Gutes für die Unternehmensgewinne erwarten. Das hat die
Aktienmärkte in den vergangenen Wochen bereits unter
Druck gebracht, ein Trend, der fortdauern dürfte.
Allerdings haben am Freitag auch die Kurse zehn- und
dreißigjähriger Bundesanleihen nachgegeben. Der Markt
reagierte damit auf Spekulationen über eine andere
tektonische Verschiebung: daß nämlich deutsche
Staatsanleihen die höchste Bewertungsnote AAA verlieren
könnten, wenn Berlin die Strukturprobleme nicht bald
entschlossen angehe. Als ein erster Schritt in die richtige
Richtung könnte sich das neue Interesse von
Bundesfinanzminister Hans Eichel an einer Abgeltungssteuer
erweisen. Ersten Berichten zufolge soll sie so ausgestaltet
werden, daß sie die Rückkehr von"Fluchtkapital" nach
Deutschland ermöglicht. Weil dies auf Kapitalabflüsse aus
der Schweiz hinauslaufen könnte, ist der Schweizer Franken
gegenüber dem Euro auf ein mehrmonatiges Tief gefallen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2002, Nr. 292 / Seite 26

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