- arnulf baring - orwell, 19.12.2002, 14:26
arnulf baring
-->
Aber ein altes deutsches Sprichwort sagt:
Der Krug geht solange zum Wasser, bis er bricht.
Das ist das Tröstliche und Hoffnungsgebende am Ende dieses Jahres. Das Ende der
Nachkriegspolitik, der lange erwartete Umbruch, eine grundsätzliche Wende kündigen
sich endlich an. Selbst etablierte Politiker sprechen schon von einem »tektonischen
Beben«, das die Parteienlandschaft und die Gesellschaft erschüttern wird.
Hier einige Auszüge aus der FAZ vom 19.11.2002 (zitierte Teile kursiv und » «
markiert):
Deutschland im Niedergang
Man habe den Eindruck, schreibt Prof. Baring, die alt-neue Bundesregierung
habe den Boden unter den Füßen verloren. Er beurteilt aber auch die
anderen Parteien nicht besser:
»Es war von vornherein bodenlos, und zwar auf beiden Seiten, bei Rot-Grün wie bei
Schwarz-Gelb, den Wählern vor dem 22. September wider besseres Wissen
weiszumachen, die Staatsfinanzen seien in Ordnung. Es ist deshalb schlechthin
falsch, wenn man jetzt die Erhöhung der Steuern, Abgaben und Schulden mit
Finanzlöchern ungeahnten Ausmaßes begründet. Keine Partei wollte vor dem 22.
September die Wähler verunsichern. Dieser Umgang mit dem Staatsvolk erbost.
Wofür halten uns die Leute, die uns repräsentieren? Selbst Unmündige darf man
nicht hinters Licht führen. Fundamentale Weichenstellungen der Republik sind schon
seit vielen Jahren himmelschreiend unsozial für die kommenden Generationen,
unsere Kinder und Enkel, wegen des immensen Schuldenberges, den wir angehäuft
haben. Was soll man von Parteien, was von Politikern halten, die trotz dieser
astronomischen Staatsverschuldung mit zwölf (!) Nullen das offene Wort zu den
Wählern scheuen, die wahre Lage verschweigen, krampfhaft den Anschein der
Normalität zu wahren versuchen, obwohl man reihenweise Versprechungen bricht und
freundliche Ankündigungen ins Gegenteil verkehrt. Flatterhaft sucht die Regierung
nach immer neuen Finanzquellen, wohl wissend, daß sich damit die Wirtschaftskrise
verschärfen wird.
Selbst Kinder wissen inzwischen, daß Deutschland seit langem im steten Niedergang
ist, der sich 2002 gewaltig beschleunigt hat und große Unruhe auslöst, weil keinerlei
Aussicht besteht, unter den herrschenden Verhältnissen unserer
Konsensgesellschaft die zunehmende Stagnation zu überwinden und die Situation
des Landes zu stabilisieren. Für das Notwendige mag man den längst verschlissenen
Begriff der „Reform“ nicht mehr in den Mund nehmen. Es geht um etwas
Selbstverständliches, Banales, nämlich endlich um die Einsicht, daß Deutschland
schon lange chronisch krank ist, daß wir seit drei Jahrzehnten über unsere
Verhältnisse gelebt haben und daher kräftig sparen, die Ansprüche aller Gruppen und
Schichten eine Zeitlang reduzieren müssen. Es geht um die Konsolidierung der
Verhältnisse, einen Stop des ständigen Abrutschens, um ein Abschütteln der immer
schwerer erträglichen Lasten, die den Deutschen auferlegt werden. (...)
Was geschehen müßte, ist längst allgemein bekannt. Immer neue Kommissionen
sind überflüssig. Sie bringen allenfalls Zeitgewinn für eine ertrinkende Regierung,
sichern nur vorübergehend ihr Überleben. Vergessen wir Hartz. Seine neuen
Instrumente wollen das System gar nicht verändern, die Mitspracherechte der
Gewerkschaften bleiben unberührt. Seit Jahrzehnten stapeln sich Gutachten,
Denkschriften, wissenschaftliche Stellungnahmen, stecken in Schubladen, sind
längst in Papierkörben gelandet. Bekanntlich haben wir nur Umsetzungs-, keine
Erkenntnisprobleme!«
»Eine drohnenhafte Herrschaftskaste«
Nach einigen Ausführungen zum nahenden Staatsbankrott geht Prof. Baring
mit dem System ins Gericht:
»Man darf sich nichts vormachen: Nicht nur die Regierung ist, wenige Wochen nach
ihrer Wiederwahl, innerlich bereits am Ende - auch wenn sie sich mit Flickschusterei,
mit Minimallösungen, die das Debakel aufschieben, eine Weile noch durchhelfen
kann. Deutschland ist auf dem Weg in eine westliche „DDR light“.
Ein Symptom dieser Entartung ist die Tatsache, daß rund achtzig Prozent unserer
Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst, aus den Gewerkschaften kommen. Im
Bundestag sitzen unter sechshundert Abgeordneten bestenfalls ein Dutzend, die
wirklich etwas von Wirtschaft verstehen. Ein bürokratischer Apparat lenkt seinen
Staat ohne klare ordnungspolitische Vorstellungen, ohne je die Welt gesehen, ohne je
eigene Erfahrungen im Wirtschaftsleben machen zu müssen: eine drohnenhafte
Herrschaftskaste. Der mittlerweile immer raschere Verfall wird, wenn sich die Bürger
nicht aufrappeln, schon deshalb fortschreiten, weil nicht nur Rot-Grün, sondern auch
Schwarz-Gelb mehr und mehr energielos in sich zusammensacken. Die beiden
Oppositionsparteien, die man früher bürgerlich nannte, lassen keine grundsätzlich
andere, größere Handlungsbereitschaft erkennen. Daher sind wir heute nicht bedroht
durch radikale Flügelparteien auf der Rechten oder Linken, sondern uns lähmt die
Leisetreterei und Verantwortungsscheu der beiden Großparteien der Mitte. Sie, die
zwischen siebzig und achtzig Prozent der Wähler vertreten, haben weder den Mut
noch die Kraft, der Lage nüchtern ins Auge zu blicken, entsprechend zu reden, zu
handeln. „Was gegenwärtig passiert“, sagte ganz kürzlich Lothar Späth, „ist nichts
anderes als eine riesige Verdrängung der Realität.“ Es geht bei ihr beileibe nicht nur
um verschwiegene finanzielle Abgründe.«
Das Tabu der demographischen Katastrophe
Zu der verantwortungslosen und verfehlten Bevölkerungspolitik in der
Bundesrepublik Deutschland, die wir in den UN schon seit mehr als 20 Jahren
anprangern, schreibt Prof. Baring:
»Abgesehen von der Sexualität sind bei uns alle Themen tabuisiert, zum Beispiel die
Probleme des Bevölkerungsrückgangs in Deutschland. So spricht der saarländische
Ministerpräsident Peter Müller nicht öffentlich, sondern lediglich in einer internen
Analyse der Bundestagswahl von unserer „demographischen Katastrophe“. (...)
Es festigt sich im Lande die Überzeugung, daß unser Parteiensystem, in welcher
Farbkombination auch immer, den heutigen Herausforderungen in keiner Weise
gewachsen ist und daher von der Krise verschlungen werden wird, wenn es nicht die
Kraft zur durchgreifenden Erneuerung findet. Wenn unsere Parteien weder
programmatisch noch personell in der Lage sind, die Bevölkerung mit klaren
Alternativen zu konfrontieren und damit Richtungsentscheidungen zu erzwingen, ist
diese Republik am Ende.
Man muß gerecht sein, darf nicht übersehen, daß unsere Verfassung ihrerseits
durchgreifende Lösungen erschwert. Die heutige Lage zeigt, bei einigen
Verschiedenheiten, Ähnlichkeit mit der Krise am Anfang der dreißiger Jahre. Nicht
von ungefähr wird Schröder in diesen Tagen immer wieder mit Brüning verglichen. Es
gibt Parallelen: die Selbstentmachtung des Parlaments, die emotionale Distanz der
Bevölkerung zur Republik. (...)«
Die Geduld der Deutschen ist am Ende
Mit den Aufrufen »Bürger auf die Barrikaden« und »Wir sind das Volk« fordert
Prof. Baring einen Aufstand der Bürger gegen das herrschende System:
»Die Geduld der Deutschen ist, wenn nicht alles täuscht, am Ende. So wie bisher
geht es auf keinen Fall weiter. Die Situation ist reif für einen Aufstand gegen das
erstarrte Parteiensystem.
Ein massenhafter Steuerboykott, passiver und aktiver Widerstand, empörte Revolten
liegen in der Luft.
Bürger, auf die Barrikaden! Wir dürfen nicht zulassen, daß alles weiter bergab geht,
hilflose Politiker das Land verrotten lassen. Alle Deutschen sollten unsere Leipziger
Landsleute als Vorbilder entdecken, sich ihre Parole des Herbstes vor dreizehn
Jahren zu eigen machen: Wir sind das Volk!«
(Zitat Ende)
Die Zeit ist reif
»Für Deutsche sind die etablierten Parteien nicht mehr wählbar!«
Jahrelang standen wir auf verlorenem Posten, wenn wir mit solchen Aufrufen forderten,
den etablierten Parteien endlich das Vertrauen zu entziehen und ihnen keine Stimme
mehr zu geben.
Zum Ende des Jahres 2002 scheint nun endlich der Zeitpunkt gekommen, daß die
Deutschen aufwachen und merken, wie sie belogen und betrogen, verkauft und
verraten wurden.
So stehen wir in diesen Wochen nicht nur vor der Wende-Nacht eines Jahres,
sondern hoffentlich auch vor der eines gescheiterten Systems.

gesamter Thread: