- Kostolany über das Wahrsagen - HB, 03.01.2003, 00:29
Kostolany über das Wahrsagen
-->Weil hier heute schon mehrfach über dieses Thema diskutiert wurde, eine Geschichte von Andre Kostolany dazu:
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Die Pythia von Ungarn
Ich besaß also ein Zauberbarometer. Viele meiner Kollegen aber hatten noch weit »sicherere« Informationsquellen − was ich vor einigen Jahren entdeckte.
Damals verlebte ich einige Ferientage in meinem geliebten Budapest. Die Aussicht, einmal nicht über Börsengeschäfte
diskutieren zu müssen, machte mich sehr glücklich. Denn wer sollte in einem kommunistischen Land schon Interesse
an der Börse haben?
Meine Enttäuschung war deshalb groß, als mich kurz nach meiner Ankunft ein guter Freund bat, mit ihm zu einer
Bekannten zu gehen, die von mir als Vollblutbörsianer gehört hatte und mich deshalb unbedingt kennenlernen wollte.
Auch ich kannte ihren Namen. Sie hieß Barbara Silbiger, eine fromme alte Jüdin. In meiner Jugend war sie eine
berühmte Wahrsagerin in Budapest gewesen. Reichsverweser Horthy, Ministerpräsident Graf Bethlen und viele andere
gehörten zu ihren treuen Kunden oder Patienten. Zu Neujahr berichtete die Presse spaltenlang von ihren
Prophezeiungenfür die kommenden zwölf Monate. Sie galt offiziell als die Pythia von Ungarn.
Ihre Einladung war mir nicht besonders angenehm. Auf keinen Fall will ich etwas über meine Zukunft wissen, und die
Überraschung eines jeden neuen Börsentages ist für mich eine süße Sensation. Aber mein Freund versicherte mir, daß
von Wahrsagerei keine Rede sein werde. Im Gegenteil, Barbara wolle von mir Verschiedenes erfahren. Also machten
wir uns auf den Weg nach dem ungarischen Delphi, das heißt in die Berge hinter Buda, beinahe am Ende der Welt.
In einer Rumpelkammer empfing uns eine fürchterlich aufgemachte alte Frau. Der schäbige Fauteuil stöhnte unter ihren
hundert Kilo, in dem ungelüfteten Raum herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Aber das ganze Bild veränderte
sich augenblicklich, als sie zu sprechen begann. Ihre Ausdrucksweise war vornehm, äußerst gebildet, und sie
beherrschte eine Menge Sprachen perfekt.
»Sie sind es also, mein liebes Kind, der aus Börsenspekulationen eine Tugend gemacht hat. Sie kennen anscheinend
alle Techtelmechtel des Börsenspiels. Ich wäre glücklich, von Ihnen manches zu hören und Zu lernen.«
Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Was konnte diese alte, allem Anschein nach vollkommen mittellose Frau — noch
dazu in einem kommunistischen Land − schon von Dow−Jones−lndex, Kurs−Gewinn−Verhältnis, Investmenttrusts oder
Wandelanleihen wissen? Aber so komisch es auch klingen mag, es war für mich ein Vergnügen, ihr Börsenwahrheiten
einzuimpfen. Ich blieb fast zwei Stunden bei ihr, und es war angenehm, in ihr eine so intelligente und interessierte
Schülerin zu finden. Beim Abschied nahm sie mir das Versprechen ab, mit ihr in Kontakt zu bleiben und ihr von Zeit zu
Zeit meine Meinung über die verschiedenen Börsenmärkte der Welt brieflich anzuvertrauen.
Als ich einige Wochen später wieder im Westen war, erzählte ich meinen Bekannten von dieser Begegnung. Wie groß
war mein Erstaunen, als ich erfuhr, daß drei Auslandsungarn, einer in Zürich, einer in London und einer in New York —
alles ausgekochte, internationale Börsenspieler, mit meiner neuen Freundin seit Jahren in Verbindung standen. Sie
schickten ihr regelmäßig Geschenke und Pakete, und dafür bekamen sie von Barbara Voraussagen über alle Börsen
der Welt. Manchmal kategorisch wie »in Wall Street im Herbst alles verkaufen« ein anderes Mal mystisch wie »in Paris
sämtliche Aktien, die mit P anfangen, aufkaufen« oder sogar malerisch, »in Zürich in Aktien von gelber Farbe
einsteigen«. Warum auch nicht, sagte ich mir. Sie folgt ihren Intuitionen,
die sich bestimmt auf irgend etwas gründen. Vielleicht zieht sie ihre Schlüsse aus Ereignissen, die einem zu nüchternen
Menschen, einem Makler oder Bankier, nicht auffallen. Tatsächlich aber nahm sie von ihrer Rumpelkammer auf
kommunistischem Boden aus auf die Börsenoperationen von drei internationalen Berufsspekulanten Einfluß.
Seit meinem Besuch verfügte ich über ein neues Arbeitssystem, einen direkten Draht. Und zwar sandte ich ihr von Paris
aus meine Weisheiten in die fernen Budapester Berge, und von dort wurden sie umgehend, unter der Etikette ihrer
Prophezeiungen, in die genannten drei Ecken der Welt weitergeleitet. Mit Hilfe dieser neuen Einrichtung waren
Barbaras Ratschläge in technischen Fragen sicherlich fachgerechter geworden. Ob sich aber ihre Prophezeiungen
bewahrheitet haben, das vermag ich heute nicht mehr zu sagen.

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