- Sprechblasen aus dem Kanzleramt - Popeye, 04.01.2003, 10:33
- Re: Die Sprechblase hat dieses Jahr nochn Umzug nach Hannover vor sich - kingsolomon, 04.01.2003, 12:14
Sprechblasen aus dem Kanzleramt
-->Auf dem Weg zu mehr Wachstum,
Beschäftigung und Gerechtigkeit
Aus dem Strategiepapier des Kanzleramtes
Wenn in der nächsten Woche die SPD-Gremien zu
Klausurtagungen zusammenkommen, wird das jüngste
Strategiepapier aus dem Kanzleramt Gegenstand der
Diskussionen sein. Eine kleine Gruppe Vertrauter
Bundeskanzler Schröders hat unter Führung von
Kanzleramtschef Steinmeier weitgehende Reformvorschläge
unterbreitet, die zum Teil auf Kritik in der SPD stießen. Das
Papier hat zwar noch keinen formalen Charakter im Sinne eines
Beschlusses, soll aber deutlich machen, daß die
Bundesregierung tiefgreifende Reformschritte in der Sozial-
und Wirtschaftspolitik plant. Im folgenden Auszüge aus dem
Text. (F.A.Z.) I. Die Ausgangslage
Erstens: Wir befinden uns in einer Zeit tiefer weltweiter
ökonomischer Verunsicherung. Bedrohungen durch
Terrorismus und Krieg, der Absturz der Aktienkurse und die
Gefahr einer anhaltenden Wachstumsschwäche mit hoher
Arbeitslosigkeit drücken auf die Stimmung und die
Erwartungen. Wir befinden uns in einer Vertrauens- und
Wachstumskrise. Die vordringliche Aufgabe der
Wirtschaftspolitik ist es, Bürgern und Unternehmern wieder
Vertrauen in die Zukunft unseres Landes zu geben und die
Weichen in Richtung Wachstum und Beschäftigung zu stellen.
Zweitens: Unser Problem ist nicht die internationale
Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Die ist exzellent, wie
immer neue Rekorde beim Export oder bei den
Direktinvestitionen zeigen. Regelmäßig ist der Export
Wachstumsmotor für die deutsche Wirtschaft und trägt
wesentliche Teile zum BIP-Wachstum bei (Deutschlands
Position als Exportvizeweltmeister ist ungefährdet). Unser
Problem sind Binnennachfrage und Investitionen, die sich in
der Vergangenheit häufig schlechter entwickelten als zunächst
erwartet. Das heißt aber auch, daß wir es selbst in der Hand
haben, unseren Wohlstand zu sichern.
Drittens: Die an sich hervorragenden Systeme der sozialen
Sicherung in Deutschland müssen grundlegend reformiert
werden.
II. Die Aufgabe: Vertrauen schaffen
Kurzfristig muß es der Bundesregierung gelingen, daß die
Menschen das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der
Politik zurückgewinnen. Es muß unmißverständlich
klarwerden, daß es auch im Falle weiterer externe Schocks
nicht zu Steuer- oder Abgabenmehrbelastungen kommen wird.
Darüber hinaus wird sich die Stimmung im Land wieder
bessern, wenn die Menschen den Eindruck gewinnen, daß die
Bundesregierung gewillt ist, die Effizienz der sozialen
Sicherungssysteme durch umfassende Reformen deutlich zu
steigern. Es ist offensichtlich, daß die Menschen die
Bundesregierung hierbei unterstützen wollen. Sie spüren, daß
sich das Zeitfenster zunehmend schließt.
Dabei lautet die gewaltige Herausforderung, gleichzeitig
Abgaben- und Steuersenkungen mit Haushaltskonsolidierung
und mehr Investitionen in die Zukunftsbereiche - Bildung,
Forschung, Familien und Infrastruktur - zu verbinden.
Eine Lösung der wirtschaftspolitischen Herausforderungen
griffe zu kurz, ginge sie an den gesellschaftspolitischen vorbei.
Die Akzeptanz einer erfolgreichen Reformpolitik wird
maßgeblich auch davon abhängen, ob die Menschen die Politik
der Bundesregierung als gerecht bewerten. Die Menschen
erwarten vom Staat, daß er die sozialen Sicherungssysteme
durch umfassende Reformen erhält und ihnen den finanziellen
Spielraum läßt, den er von ihnen für die obengenannten
Aufgaben einfordert. Gerechtigkeit, eine lebendige
Zivilgesellschaft und eine moderne Rolle des effizienten Staates
hängen eng miteinander zusammen.
III. Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und
Gerechtigkeit
Zu 1.: Mehr (Zukunfts-)Investitionen statt Zinszahlungen:
(zum Vergleich: Im letzten Jahr hat der Bund - ohne die
Leistungen aus dem Investitionsförderungsgesetz - 23,9
Milliarden Euro für Investitionen ausgegeben, mußte aber rund
37,5 Milliarden Euro für die Schulden der Vergangenheit
zahlen.)
Investitionen vor allem in Bildung, Forschung und
Familieninfrastruktur sind unser strategisches Mittel, um
Deutschland in Richtung eines kinderfreundlichen,
chancenreichen und weltoffenen Landes hin umzugestalten. Es
ist sowohl makroökonomisch richtig, jetzt nicht die
Investitionen zu kürzen, als auch mittelfristig notwendig, um
Deutschland zu modernisieren:
Die Herausforderung besteht darin, mehr zu investieren, ohne
die Konsolidierung der Haushalte zu gefährden. Dies gilt nicht
nur für den Bund, sondern vor allem auch für Länder und
Gemeinden.
Zu 2.: Sparen bei konsumtiven Ausgaben und Subventionen:
Es ist wachstums- und beschäftigungspolitisch richtig, den
Haushalt über die Ausgabenseite zu konsolidieren, und zwar bei
den konsumtiven Ausgaben (siehe unten) und den
Subventionen, nicht bei den Investitionen. Problematisch wäre
eine Konsolidierung über die Einnahmeseite, weil hierdurch
Bürger und Unternehmer stärker belastet würden.
Sparen bei konsumtiven Ausgaben:
Im Jahr 2001 waren 215 Milliarden Euro des 243
Milliarden-Euro-Bundeshaushalts konsumtive Ausgaben.
Größte Blöcke waren (Quelle: Finanzbericht 2003):
- Rente 69 Milliarden Euro (das heißt der Bund gibt fast jeden
dritten Euro für die Rente aus!)
- Arbeitsmarkt: 15 Milliarden Euro
(Ausgaben für soziale Sicherung 2001 insgesamt rund 101
Milliarden Euro)
- Zinsen 37,6 Milliarden Euro
- Verteidigung: 28,3 Milliarden Euro
- Personal: 26,8 Milliarden Euro
Größter Ausgabenblock ist die Rente. Sowohl unter
wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten (hohe Sparquote,
geringe Konsumquote) als auch unter Aspekten der
Gerechtigkeit wird man der Diskussion über eine weitere
Beteiligung auch der Rentner an der Rückführung der
konsumtiven Ausgaben nicht ausweichen können. Es ist zu
prüfen, wie durch eine von der Rürup-Kommission neu zu
entwickelnde Rentenformel der Ausgabenblock Rente in den
nächsten Jahren relativ verringert werden kann.
Letztendlich muß bei allen großen Ausgabenblöcken (siehe
oben) das Tempo des Anstiegs deutlich gedrosselt werden -
beziehungsweise in einzelnen Jahren auch mal zum Stillstand
kommen.
Ein weiterer Abbau der meist strukturerhaltend wirkenden
Subventionen ist wachstums- und beschäftigungspolitisch
richtig und entlastet den Bundeshaushalt. In der
Gegenüberstellung zu den konsumtiven Ausgaben wird aber
auch deutlich, daß es hier um vergleichsweise wesentlich
geringere Summen geht und daß nicht alle Subventionen
strukturerhaltend wirken (zum Beispiel Ausgaben für den
Aufbau Ost!).
Zu 3.: Steuersenkungen und Reformen der sozialen
Sicherungssysteme:
Steuersenkungen:
Der Königsweg für mehr Vertrauen und Beschäftigung ist eine
Absenkung der Steuer- und Abgabenbelastung. Denn so
behalten die Menschen mehr Netto von ihrem
Bruttoeinkommen. Sie können mehr konsumieren und mehr
sparen, das heißt für das Alter vorsorgen. Lohnsteigerungen
können moderater ausfallen, ohne daß dadurch der Konsum
belastet würde. Gleichzeitig verbilligt sich der Faktor Arbeit
(Abgaben), für die Unternehmen wird es wieder interessanter,
mehr Mitarbeiter einzustellen.
Es ist wirtschaftlich sinnvoll und unter Gerechtigkeitsaspekten
unerläßlich, daß Arbeitslose für die Aufnahme einer Arbeit
finanziell nicht bestraft werden. Dies ist gegenwärtig noch zu
häufig der Fall.
In den alten Ländern belief sich im Jahr 2001 das monatliche
Haushaltsnettoeinkommen einer fünfköpfigen Familie mit einem
Arbeitnehmer, der den typischen Niedriglohn von brutto 1300
Euro (das entspricht knapp neun Euro pro Stunde) verdiente,
einschließlich Kindergeld und Wohngeld auf rund 1750 Euro.
Dieselbe Familie besaß hingegen einen monatlichen
Sozialhilfeanspruch in Höhe von rund 1850 Euro. Erst mit
einem monatlichen Arbeitseinkommen von mehr als 1500 Euro
(10 Euro pro Stunde) hätte die Familie ihr Gesamteinkommen
über das Niveau der Sozialhilfeleistungen steigern können.
Bedeutender als internationaler Wettbewerb ist die negative
Wirkung der Abgabenlast auf die private Beschäftigung vor
allem in den Branchen, denen der Ausweg einer
Kapitalintensivierung bei steigenden Lohnkosten verwehrt ist,
also vor allem dem Handel, dem Hotel- und Gaststättengewerbe
und anderen konsumbezogenen Dienstleistern.
Die Leistungs- und Finanzierungsstrukturen wirken sich in
Deutschland doppelt negativ auf die Beschäftigung aus.
Einerseits gibt es trotz höherer Steuereinnahmen so wenig
öffentliche Beschäftigung wie in den angelsächsischen Ländern
(die Zahl der Stellen für Bundesbedienstete liegt mit unter 300
000 mittlerweile sogar wieder auf dem Niveau von 1970!).
Andererseits gibt es nicht mehr Arbeitsplätze bei den privaten
Dienstleistungen als in den skandinavischen Sozialstaaten,
obwohl dort die Abgabenlast insgesamt höher ist.
Vor allem die Sozialabgaben wirken deutlich negativ auf die
Beschäftigung im Dienstleistungssektor, da sie nicht wie im
niederländischen Modell nach der Systematik der
Einkommensteuer (das heißt unter anderem mit Freibetrag)
erhoben werden.
Faustformel: ein Prozentpunkt mehr
Sozialversicherungsbeiträge kostet im ersten Jahr rund 20 000
und im dritten Jahr schon rund 100 000 Arbeitsplätze.
Wie schädlich steigende Lohnnebenkosten sind, zeigt die
Entwicklung seit der Wiedervereinigung: 1990 betrugen die
Beitragssätze zur Sozialversicherung noch 35,5 Prozent. Bis
1998 waren sie auf den historischen Höchstwert von 42
Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Arbeitslosigkeit
von 2,6 Millionen auf 4,28 Millionen Arbeitslose im
Jahresdurchschnitt gestiegen. Die Zahl der Erwerbstätigen ging
von 38,5 Millionen auf 37,2 Millionen in 1997 zurück.
Deswegen und vor dem Hintergrund des demographischen
Wandels (immer weniger Junge müssen in Zukunft immer
mehr Alte unterstützen) ist eine der Kernstrategien der
Bundesregierung die auf eine Absenkung der Lohnnebenkosten
abzielende Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme.
Jährlich gibt die Bundesanstalt rund 20 Milliarden Euro für
aktive Arbeitsmarktpolitik aus. Dazu kommen noch rund fünf
Milliarden Euro, die Länder, Kommunen und der Europäische
Sozialfonds für die Arbeitsförderung aufwenden. Diese
Ausgaben stellen rund ein Drittel der Gesamtausgaben für die
Arbeitsmarktpolitik dar. Hinzu kommen noch rund 50
Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt für Arbeitslosengeld,
Arbeitslosenhilfe und arbeitsmarktpolitisch motivierte
Frühverrentungen.
Gesundheitswesen:
Dazu sollten mehr Wettbewerbselemente und mehr
Transparenz eingeführt werden, zum Beispiel durch:
- Tarifoptionen mit Bonussystem: zum Beispiel Bonus für
primäres Aufsuchen des Hausarztes und für Wahrnehmung
präventiver Maßnahmen, Beitragsrückerstattung für kostenfreie
Jahre, Wahltarife mit Eigenleistungen.
- Es ist richtig, direkte Verträge zwischen
Ärzten/Krankenhäusern und Krankenversicherungen möglich
zu machen (Veränderung Sicherstellungsauftrag).
- Liberalisierung des Vertriebs und der Preisbildung für
Arzneimittel. Positivliste für Arzneimittel einführen.
- Mehr Wettbewerb zwischen privaten Krankenkassen durch
Übertragung gebildeter Altersrückstellungen bei einem
Versicherungswechsel. Dadurch würde ein wirksamer
Wettbewerb um Bestandskunden einsetzen.
Zu 4.: Bürokratieabbau:
Die Bundesregierung baut bürokratische
Einstellungshemmnisse ab. Mit dem"Masterplan
Bürokratieabbau" gibt sie positive Signale für mehr Investition,
Konsum und Beschäftigung, zum Beispiel durch:
- Moderate Liberalisierung des Ladenschlusses als positives
Signal für den Konsum. Die Lockerung des
Ladenschlußgesetzes eignet sich hervorragend als Symbol für
durchsetzbare Reformen in Deutschland.
- Liberalisierung des UWG (Paragraphen 7 und 8):
Sonderverkäufe und Räumungsverkäufe liberalisieren.
- Befreiung der Existenzgründer von Regelungen (Small
Business Act; One-Stop-Agencies für Existenzgründer).
- Überprüfung der Regelungen im Arbeitsrecht, wie zum
Beispiel die Streichung der Vermutungstatbestände bei der
Scheinselbständigkeit.
Zur Gestaltung des weltwirtschaftlichen und des europaweiten
Rahmens:
Für die Bundesregierung ist es eine der wichtigsten Aufgaben,
den Menschen das Vertrauen in geregelte und verläßliche
Abläufe auf den Aktienmärkten wieder zurückzugeben. Dazu
haben wir mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz den
Anlegerschutz bereits in der letzten Legislaturperiode gestärkt.
Dieser Weg soll weiter beschritten werden. Das
Bundesministerium der Justiz plant unter anderem eine
sogenannte"Bilanzpolizei", welche die Korrektheit von
Abschlüssen überwachen soll. Künftig sollen Manager
persönlich für falsche Ad-hoc-Mitteilungen und andere
Kapitalmarkt-Informationen haften.
IV. Fazit: Die Bundesregierung knüpft an ihre erfolgreiche
Politik wieder an
Die Bundesregierung wird mit ihrem makroökonomischen
konsistenten Wirtschaftspolitik-Mix die Wachstumskräfte in
Deutschland wieder entfesseln. Sie knüpft dabei an ihre
erfolgreiche Politik der Zeit nach Lafontaine an, die durch die
exogenen Schocks im Jahre 2001 und den harten Wahlkampf
2002 unterbrochen wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.01.2003, Nr. 3 / Seite 5

gesamter Thread: