- Zur Lage der Automobilindustrie - Popeye, 06.01.2003, 06:42
Zur Lage der Automobilindustrie
-->Alarmstufe gelb für die Autoindustrie
Zur Lage der Automobilindustrie / Von Holger Appel
Fast 200 neue Modelle, darunter 73 von deutschen
Herstellern - 2003 könnte ein Autojahr der Superlative
werden. Die Konzerne überbieten sich in einer wohl
beispiellosen Produktoffensive mit Autos, Ausstattungen und
Ideen. Der Auftakt ist in diesen Tagen auf der North
American Autoshow in Detroit zu bestaunen. Im März folgt
in Genf der erste Großauftritt für Europa. Und im September
strebt das Autojahr seinem Höhepunkt zu, dann findet die
Internationale Automobilausstellung in Frankfurt am Main
statt. Zu Hunderttausenden werden die Kunden auf die
Ausstellungen strömen. Ob sie aber auch ihr Portemonnaie
öffnen, ist äußerst fraglich. Rund um die Welt kommt die
Konjunktur nicht in Schwung, die Menschen stöhnen unter
immer höheren Steuern und Abgaben. Viele haben ihren
Arbeitsplatz verloren, viele andere haben Angst davor. Wer
voller Unsicherheit ist, kauft kein Auto.
Die Folgen sind weithin sichtbar. Die wichtigsten
Automobilmärkte stagnieren oder geben nach. Deutschland
steckt in einem besonders tiefen Nachfrageloch. Der
Fahrzeugbestand altert stetig. Das durchschnittliche
Fahrzeugalter beträgt hierzulande inzwischen 7,2 Jahre.
Tendenz steigend. Günstige Finanzierungen und großzügige
Rabatte sind die Folge. Das freut die Kunden, sofern sie
nicht Autoaktien im Depot haben. Denn der harte
Wettbewerb um die Käufer drückt auf den Ertrag der
Konzerne. Die atmenden Fabriken atmen aus, die
Arbeitszeitkonten sind leer. Schon schwebt das
Damoklesschwert der Kurzarbeit über vielen Fabrikhallen.
Für fast alle deutschen Hersteller gilt Alarmstufe gelb. Denn
Autos aus Deutschland sind teuer, automobile
Ausrufezeichen werden derzeit aber vor allem von
Franzosen und Japanern gesetzt. Peugeot 307 und Renault
Mégane mischen die Golf-Klasse auf, der Mazda 6 gewinnt
jeden Technik- und Schönheitswettbewerb. Dabei ist die
deutsche Industrie auf Exporterfolge unbedingt angewiesen.
Nur die kontinuierlich steigende Ausfuhr hat in der
Vergangenheit die Nachfrageschwäche im Inland
ausgeglichen. Siebzig Prozent aller Autos gehen mittlerweile
in das Ausland. Besonders beeindruckende Erfolge sind in
Nordamerika erzielt worden. Seit 1990 hat sich der
Marktanteil bei den Personenwagen auf rund zehn Prozent
mehr als verdreifacht. Im Luxussegment gelang sogar eine
Vervierfachung auf mittlerweile 32 Prozent. Rund 17
Prozent des gesamten Personenwagen-Exportes aus
Deutschland gehen in die Vereinigten Staaten.
Doch auch über dem Amerika-Geschäft hängen düstere
Wolken. Ein Ende der von General Motors angezettelten
Rabattschlacht, mit der sich die großen amerikanischen
Konzerne die Unterschriften unter den Verträgen erkaufen,
ist nicht abzusehen. Wie lange werden sich die deutschen
Marken dem entziehen können? Der amerikanische
Automarkt wird in diesem Jahr voraussichtlich mit 16,0 bis
16,4 Millionen Fahrzeugen (Personenwagen und leichte
Nutzfahrzeuge) unter dem Niveau des Vorjahres von 16,8
Millionen liegen. Und der Euro hat gegenüber dem Dollar
deutlich aufgewertet. Anzunehmen ist, daß nicht das
gesamte Exportgeschäft durch Devisenderivate
kursgesichert ist. Daher drückt der Wechselkurs zusätzlich
auf den Ertrag. Das setzt insbesondere Fragezeichen hinter
die Entwicklung von Porsche, ist doch der
Sportwagenhersteller in hohem Maße von den Käufern aus
Amerika abhängig.
Es ist kein Wunder, daß die ersten ernstzunehmenden
Berater schon von einer neuen Sparwelle sprechen. Autos
aus Deutschland müßten in Zukunft bei gleichbleibender oder
besserer Ausstattung billiger werden, um wettbewerbsfähig
zu bleiben, hat die Unternehmensberatung McKinsey
festgestellt. Nach Jahren einer branchenweiten und
erfolgreichen Produktoffensive müsse der Automobilbau das
Augenmerk wieder stärker auf die Steigerung der
Produktivität legen. Bis zu zwanzig Prozent
Produktivitätssteigerung hält McKinsey für notwendig und
machbar.
Das allein wäre aber zu kurz gesprungen. Die
Produktoffensive darf nicht stehenbleiben. Die beste
Antwort auf düstere Aussichten sind mitreißende Autos,
wegweisende Technik und die Erfüllung von bisher
unbefriedigten Kundenwünschen. Alles wie früher machen,
nur ein bißchen hübscher und teurer, das zieht nicht mehr.
Ein Stufenheckauto mit vier Sitzplätzen und einem sich der
Beladung sperriger Güter widersetzenden Kofferraum treibt
niemanden mehr ins Autohaus. Warum soll man sich noch
eine Mercedes E-Klasse für fast 50 000 Euro kaufen, die
zudem kaum von C- und S-Klasse zu unterscheiden ist?
Heute wollen die Menschen kompakte Vans mit integrierten
Kindersitzen, Tischchen, Becherhaltern und klappbarem
Gestühl; schicke Cabriolets mit wetterfestem Dach für die
Freuden des Sommers auch im Winter; Geländewagen, die
auf der Straße mehr können als im Schlamm; und schicke
Kleinwagen, die sich vor der Disco ebenso gut machen wie
vor der Oper.
Wer sich in den Metropolen dieser Welt umsieht, der erkennt
schnell: Ein Opel Meriva hat Zukunft - ein Kleinwagen, der
mit der chronischen Parkplatznot in Paris oder Rom fertig
wird, mit seinem flexiblen Innenraum aber Transporte je
nach Laune von Freunden, Kindern oder Kisten erlaubt. Der
Mini hat Zukunft - einfach sexy. Ein BMW 7er hat Zukunft -
der macht sich prima vor der Skyline von New York. Ein
Renault Scénic hat Zukunft - so frisch und praktisch muß ein
Familienvan sein. Ein BMW X3 hat Zukunft - ein kompakter
Geländewagen mit Pfiff. Ein Rolls-Royce hat Zukunft - so
sieht die wahre Luxusklasse aus.
Es ist Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet die Konzerne
derzeit die besten Antworten auf die Branchentristesse
haben, die im Größenwahn nach der
Daimler-Chrysler-Fusion schon verfrühstückt waren.
PSA-Peugeot-Citroën und BMW sind nicht wie prophezeit
untergegangen, sondern geben den Ton an. Gute Qualität,
innovative Ideen und ein mutig-frisches Design sind ihre
Garanten für den Erfolg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.01.2003, Nr. 4 / Seite 11

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